Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
()
Die Elite sieht rot

Jedes Jahr eine Kleinstadt wie Würzburg. Ausgewandert. Die Deutschen verlassen ihr Land. Cicero hat sich die „Generation Auswanderung“ näher angesehen

Lesen Sie auch: Markus Albers: Generation Auswanderung – Heimat ist überall Rund 165000 waren es im vergangenen Jahr. 180000 dürften es in diesem Jahr werden. Deutschland erlebt eine Auswanderungswelle historischer Dimension. Während die einen noch beschwichtigen, das sei eben Globalisierung, warnen andere vor einer „Abstimmung mit Füßen gegen Deutschland“. Vor allem in der bürgerlichen Elite greift die Auswanderung inzwischen tief in jede Familie ein. Noch hofft man, dass möglichst viele wieder zurückkehren. Doch insgesamt verbreitet sich eine Ahnung, dass etwas faul ist im Staate. In Universitäten wird offen vom „Exodus der Klugen“, von „Braindrain“ und „Massenflucht“ geredet. Betroffenheit macht sich breit. Das Selbstbild bröckelt. Der Deutsche wird plötzlich Gastarbeiter. Nach Angaben des statistischen Bundesamtes haben seit 2001 knapp eine Million Bundesbürger Deutschland den Rücken gekehrt. Jedes Jahr eine Stadt wie Würzburg oder Potsdam, Heidelberg oder Osnabrück. Weg. Belastbare Erhebungen zur Ursachenforschung gab es bislang nicht, doch jetzt liegt eine Analyse des Prognos-Institutes vor, das 1400 dauerhaft im Ausland lebende Fach- und Führungskräfte zu Details befragt hat. Wichtigster Befund: 68 Prozent der Befragten erwarten im Ausland einen besseren Job und mehr Geld. 38 Prozent gaben an, dass auch die hohe Steuer- und Abgabenlast ein Grund dafür war, das Land zu verlassen, 31 Prozent störten sich an der Bürokratie. Per Saldo ist Deutschland für viele einfach nicht mehr gut genug. Vor allem für die Hochqualifizierten, denn über zwei Drittel der Auswanderer sind Fach- und Führungskräfte. Und es gehen die Jungen: Das Durchschnittsalter beträgt 32 Jahre. Es sind junge Ärzte und Ingenieure, Wissenschaftler und Facharbeiter, Handwerker, Techniker und ehrgeizige Dienstleister. Nach Angaben der OECD verliert derzeit kein anderer Staat so viele Akademiker. „Wir verlieren ausgerechnet die Guten, Leistungswilligen, Selbstbewussten, Risikobereiten. Diese Talente fehlen der Wissenschaft als Ideenlieferanten, sie fehlen den Unternehmen als Fachkräfte, sie fehlen dem Staat als Steuerzahler, dem Standort als Gründer. Und sie fehlen der Gesellschaft als Vorbilder“, klagt die Wirtschaftswoche. In jedem Fall konterkariert der Trend die Bemühungen der Industrie, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Laut Verband der Ingenieure (VDI) sind derzeit 70000 Ingenieursstellen in Deutschland unbesetzt. Michael Schwarz, Pressesprecher des Verbandes: „Selbst wenn wir alle Auswanderer zurückhalten wollten, blieben dennoch Stellen unbesetzt. Unser Ziel muss es also sein, den deutschen Standort um ein Vielfaches attraktiver zu gestalten, um gut Ausgebildete zur Rückkehr oder zum Verbleib zu bewegen. Aus unserer Sicht ist das vor allem über zwei Stellschrauben möglich: die weitgehende Entkopplung deutscher Forschungszent­ren und Hochschulen von einer ausschließlich staatlichen Finanzierung und die Beseitigung unzeitgemäßer gesetzlicher Restriktionen in der Forschung.“ Über die Tragweite der Entwicklung ist unterdessen Streit entbrannt. Der Migrationsforscher Klaus Bade glaubt, dass dies erst der Anfang einer Massenflucht sei. Er beobachtet eine zunehmende Proteststimmung in der Mittelschicht. „Der radikale Schritt des Auswanderns wird auch wegen unseres Steuersystems und der Bevormundungsbürokratie erstmals zu einer ernsthaften Alternative.“ Andere Experten warnen vor einer Dramatisierung des Problems. Sie verweisen darauf, dass eine Exportweltmeisternation eben auch Personal entsenden muss, dass viele zurückkehren und es sich auch um eine Lifestyle-Mode handele. Ein Internationalisierungssymptom. Einig sind sich die Experten freilich über die „Asymmetrie der Wanderungsbewegung“. Ungewöhnlich viele gut Qualifizierte verlassen Deutschland, während vor allem Unqualifizierte zuwanderten. Dies müsse durch eine aktivere Migrationspolitik geändert werden. Doch wie sieht die aus? Für den BDI wäre eine Steuerreform für Leistungsträger ein wichtiger Schritt. Sein Hauptgeschäftsführer, Werner Schnappauf, glaubt, dass Fachkräfte das Land verlassen, weil sie im Ausland durch weniger Steuern eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse erreichen. „Wenn durch die schleichende Progression mittlerweile immer größere Teile der Arbeitnehmerschaft den Spitzensteuersatz zahlen, kann man es den Leistungsträgern nicht vorwerfen, wenn sie nüchtern ihre Vorteile abwägen.“ Auch in den Auswanderer-Blogs im Internet sind hohe Steuern ein Hauptthema. Selbst wenn man in der Schweiz oder in den USA das Gleiche verdient – es bleibt einfach mehr Netto vom Brutto übrig, von Steuerparadiesen wie Dubai ganz zu schweigen. Im akademischen Raum werden dagegen mehr Forschungsfreiheit und höhere Investitionen gefordert. Unter Ärzten gelten die deutsche Bürokratie und das überregulierte Gesundheitswesen als Motiv zur Auswanderung. Unternehmer bemängeln das wirtschaftsfeindliche Klima. Barbara Dorgan hat in Regensburg und Dublin Betriebswirtschaft studiert, in München promoviert. Seit neun Jahren lebt und arbeitet die 38-Jährige in London als selbstständige Unternehmensberaterin. Sie schätzt die flexible Arbeitsatmosphäre des internationalen Finanz- und Bankenplatzes. „Ich verfolge dennoch die wirtschaftliche und politische Entwicklung in der Heimat. In den Kernfragen zu notwendigen Reformen, zum Beispiel auf dem Gesundheitssektor oder in der Steuerdebatte, kann ich jedoch keinen nachhaltigen Willen zur Verbesserung von Rahmenbedingungen für den Einzelnen oder die Unternehmen ausmachen.“ Die deutlich größeren unternehmerischen Freiräume und viel besseren Karrierechancen der britischen Hauptstadt hatten Dorgan damals animiert, sich nach England zu orientieren. Bereut hat sie diesen Schritt noch nie, obwohl sie aus familiären Gründen jetzt doch häufiger eine Rückkehr in Erwägung zieht. „Ganz aktuell ist das aber kein Thema für mich. Im Gegenteil, ich habe das Gefühl, dass Deutschland auch durch die Rolle rückwärts der SPD und das Erstarken der Linken noch immer nicht begriffen hat, sich als einen unternehmerfreundlichen Hort für Spitzenleistungen zu präsentieren.“ Das ist es, was die Ausgewanderten laut Studie generell vermissen: „mehr Freiraum für die Selbstverwirklichung in einer Gesellschaft mit einer optimistischen Grundhaltung“. Ihnen fehlt eine Atmosphäre, die Erfolg konkret sucht, feiert und gönnt; wissenschaftliche und unternehmerische Kreativität fördert und honoriert. Ein schwieriges Unterfangen, plagt sich Deutschland doch immer noch mit der Attitüde adliger Teesalons des 19.Jahrhunderts, in denen es als unfein galt, über wirtschaftlichen Erfolg und damit über Gewinn und Geld zu sprechen. Anders als bei der „Entrepreneur of the Year“-Verleihung im amerikanischen Palm Springs. Da steht ein Nominierter vor Konkurrenten, Wirtschafts- und Wissenschaftshonoratioren und verkündet stolz: „I just sold my company for more than a billion.“ Jubel brandet im Publikum auf. „And guess what, they did not pay me in assets. They paid me in cash.“ Das Auditorium ist gänzlich aus dem Häuschen. Die deutsche Delegation klatscht mit verhaltenem Understatement. „Dafür hätten sie uns zu Hause gesteinigt“, zischt einer aus dem Mundwinkel. Aber es gibt auch Hoffnung. Tatsächlich ist nach der Prognos-Umfrage für gut die Hälfte der Auswanderer eine Rückkehr nach Deutschland eine Option. Christian Böllhoff, Geschäftsführer der Prognos AG, schätzt, dass den Fach- und Führungskräften zwar ein wichtiger Anreiz fehlt, nach Deutschland zurückzukehren, solange die Lebensqualität und das Einkommen im Ausland höher sind. Das wichtigste Rückkehrmotiv ist aber privater Natur: Die Auswanderer wollen wieder näher bei den Familienangehörigen leben. Vielleicht wird der deutsch-deutsche Begriff der Familienzusammenführung noch einmal eine ganz neue Bedeutung gewinnen.

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.

Harry Hirsch | Sa., 15. Dezember 2018 - 04:57

Aber auch in ihm wird eine wichtige Sache nicht genannt: das politische Klima, die gefühlte Gesinnungsdiktatur seit Merkel regiert.

In diesem Land sind derzeit nur noch Inklusion von Ausländern und Integration von Behinderten an Regelschulen wichtig.
Kritik daran ist verboten.
MINT, Spitzentechnologie wird vernachlässigt!
Und die Jugend träumt vom schnellen Geld a la DSDS und GNTM oder studiert Sozialirgendwas anstatt Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften etc.

Rolf Beth | Fr., 10. Mai 2019 - 22:16

„Dafür hätten sie uns zu Hause gesteinigt“ - und sie hätten uns die Hälfte weggenommen, denn wir sind dann ja die "BÖSEN Reichen"

Goetz Heermann | So., 28. Juli 2019 - 03:52

Fluchtursachen bekaempfen!
Wir sind nach acht Jahren Intermezzo in der Heimat letzten Monat zurueck nach Japan gezogen. Ueberhoehte Steuern und Sozialabgaben haben mich fast in die Pleite getrieben, wobei die Kranke Kasse fast noch schlimmer war als der Staat!!
Mindestbeitrag fuer Selbstaendige in Deutschland: ab dem ersten Monat (also noch VOR Erzielung von Gewinnen!): ca. 400 EUR
Liegt der Gewinn ueber dem des Vorjahres, gibt's satte Nachforderungen!
Mindestbeitrag fuer Selbstaendige in Japan:
ab dem ersten Monat 3.000 JPY (ca. 25 EUR), da im Vorjahr kein zu versteuerndes Einkommen erzielt wurde...
Keine Nachforderungen, wenn der Gewinn ueber dem des Vorjahres liegt.
Und das ist nur EIN Aspekt....
Also - wer Deutsche zurueckholen will, sollte die Fluchtursachen bekaempfen!!!