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() Die Bundeswehr ist Teil der Interntionalen Schutztruppe für Afghanistan (ISAF).
Raus aus Afghanistan

Im Oktober entscheidet der Deutsche Bundestag über den weiteren Einsatz der Bundeswehr am Hindukusch. Der Nahost-Experte Peter Scholl-Latour rät dringend von einem weiteren Engagement deutscher Soldaten ab.

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Wolfram Weimer: Raus aus Afghanistan!

Die Briten hätten es besser wissen müssen. Man gewinnt keinen Krieg in Afghanistan. Gewiss, das Desaster von 1840, als die aus Kabul ausbrechende Garnison Ihrer Majestät mitsamt Familien und Hilfskräften in den Schluchten des Hindukusch durch Stammeskrieger massakriert wurde, gehört einer anderen Epoche an. Das Ereignis war immerhin so sensationell, dass Theodor Fontane dem einzigen Überlebenden, einem Militärarzt, der bis Jalalabad gelangte, eine Ballade widmete: „Mit 13000 der Zug begann; einer kam heim aus Afghanistan.“
Wer nicht so weit zurückgreifen will, hätte sich zumindest zum Erfahrungsaustausch an die russischen Veteranen wenden sollen. Nach zehnjähriger Okkupation durch 130000 Sowjetsoldaten mitsamt einem Aufgebot von Hunderten, vielleicht Tausenden von Panzern waren sie dem Zermürbungskrieg der Mudschahedin erlegen. Wer in den Felsschluchten des Panjir die Vielzahl der zerstörten sowjetischen Panzer gesehen hat, der kommt auch nicht auf die kuriose Idee, es am Hindukusch mit dem deutschen Leopard II zu versuchen, der für die norddeutsche Tiefebene, aber nicht einmal für eine Verwendung im Kosovo taugt.
Die Absicht deutscher Politiker, die Bundeswehr auf mindestens weitere zehn Jahre in Afghanistan zu belassen und deren Engagement sogar auf den heiklen Süden auszuweiten, mutet recht merkwürdig an, während gleichzeitig im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf die Rückführung der US-Truppen aus dem Irak zum zentralen Thema der Kandidaten wurde. In Deutschland optiert die Mehrheit der Bevölkerung für eine baldige Räumung Afghanistans, aber neuerdings ist es bei Parlamentariern und Publizisten Mode geworden, die Meinung des Bürgers gering zu achten gemäß der vulgären Redensart von einst: „vox populi, vox Rindvieh“. Dabei hatten die Wähler, die Gerhard Schröder im Amt bestätigten, als er sich weigerte, am Feldzug „Iraqi freedom“ teilzunehmen, mehr gesunden Menschenverstand bewiesen als die „kriegslustigen“ Intellektuellen und Politprofis. Mit grimmiger Heiterkeit kann man feststellen, dass ausgerechnet jene früheren Wortführer eines utopischen Ultra-Pazifismus sich heute als Bellizisten in die Brust werfen. Unter den Journalisten plädieren vor allem diejenigen für einen unbegrenzten und verstärkten Einsatz deutscher Truppen, die niemals ihren Fuß auf afghanischen Boden setzten oder sich allenfalls unter massivem Schutz zu einer Stippvisite aufrafften. Ein deutscher General erklärte vor laufender Kamera, wenn Deutschland nicht in Afghanistan verbleibe, dann käme Afghanistan zu uns. Er täte gut daran, einen Blick auf die Landkarte zu werfen. Was sich zur Stunde im Irak, im Nahen Osten, demnächst auf dem Balkan und übermorgen in Nordafrika abspielt, ist für Europa unendlich wichtiger als die Behauptung von isolierten Stützpunkten im hintersten Winkel Zentralasiens.
Die deutsche Öffentlichkeit unterliegt einer permanenten Desinformation. Wer will denn schon zur Kenntnis nehmen, dass das abscheuliche Attentat von 9/11 nicht das Werk afghanischer Freischärler, sondern saudi-arabischer Studenten war. Al Qaida ist keine afghanische, sondern eine saudische Organisation. Finanziert wird sie – so berichteten US-Medien – zu einem wesentlichen Teil durch den Trust „Dar-el-Maal el Islami“ des hoch angesehenen Prinzen Mohammed el Faisal und seinesgleichen. Vergessen wir nicht, dass Osama bin Laden seine „grüne Fremdenlegion“ in enger Zusammenarbeit mit der CIA rekrutierte, um sie gegen die sowjetische Besatzung Afghanistans einzusetzen. Sogar an der Aufstellung der Taliban-Horden des Mullah Omar waren amerikanische und pakistanische Geheimdienstler maßgeblich beteiligt. Viel zu spät entdeckten sie, dass sie sich mit unheimlichen Bettgenossen eingelassen hatten.

In der Bundesrepublik ist die Diskussion darüber entbrannt, ob eine säuberliche Trennung zwischen „Enduring freedom“ Isaf-Auftrag und Tornado-Einsatz der deutschen Militärpräsenz weiterhin das Wohlwollen der afghanischen Bevölkerung gewähren könnte. Aber wie soll ein einfacher Paschtune diese Differenzierung wahrnehmen? Die am Hindukusch befindlichen Truppen sind im Oberbefehl der Nato, das heißt de facto dem amerikanischen Kommando untergeordnet. In diesem Feldzug, der sich auf abenteuerliche Weise „out of area“ abspielt, könnte die ohnehin obsolete Bündnisstruktur vollends zu Bruch gehen. Was die bevorzugte Sonderstellung der Deutschen bei den Afghanen betrifft, so muss mit Ernüchterung festgestellt werden, dass amerikanische Dienste, die sich durch Tarnung mit deutschen Fähnchen und Nummernschildern einen gewissen Schutz vor den Taliban versprachen, diese Praxis inzwischen aufgegeben haben.
Eine zusätzliche Täuschung der Öffentlichkeit findet statt, wenn der Tod von Bundeswehrsoldaten in Kundus und die Entführung von zwei deutschen Ingenieuren in der Provinz Wardak zu Schicksalsfragen hochgespielt werden. Natürlich kann die Berliner Regierung nicht ein strategisches Projekt aufgeben, weil dabei Soldaten ums Leben kommen. Das gehört leider zu jeder kriegerischen Aktion. Erst recht darf sie sich nicht durch kriminelle Banden erpressen und auf eine politische Kursänderung drängen lassen, weil deutsche Zivilisten auf schändliche Weise als Geiseln missbraucht werden. Diese zutiefst schmerzlichen Vorfälle berühren jedoch nicht den wesentlichen Punkt. Nämlich die Frage, ob der deutsche, ob der Nato-Einsatz am Hindukusch überhaupt Sinn macht. Die Antwort darauf kann nur ein deutliches Nein sein.
Es gibt keine Nato-Kontrolle über Afghanistan, weder im umkämpften Süden und Osten noch im relativ ruhigen Norden, wo die Bundeswehr ihre Schutzburgen ausgebaut hat. Von den Soldaten, die dort gewissenhaft ihren Dienst versehen, existiert in der Heimat meist ein falsches Bild. Diese mit Logistik und Versorgungseinrichtungen überfrachtete Truppe, die sogar ihre gesamte Verpflegung aus Deutschland einfliegen lässt, als ob es in Afghanistan kein vorzügliches Hammel- oder Rindfleisch sowie herrliche Früchte gäbe, sind in ihren jeweiligen Basen regelrecht eingesperrt. Geradezu privilegiert sind die mobilen Einheiten, die in einem sich ständig reduzierenden Umkreis Patrouillen durchführen. Für die übrigen Mannschaften gibt es keinen einzigen Ausflug. Zu Beginn ihrer Dienstzeit werden sie am Flugplatz abgesetzt und im gepanzerten Mannschaftswagen mit geschlossenen Luken zum nahen Camp gefahren. Dann folgen mehrere Monate eintönige Isolierung.
Der Schwerpunkt des deutschen Einsatzes solle überwiegend auf humanitäre Aufgaben und – so es denn um militärische Betätigung geht – auf die Ausbildung von Armee und Polizei konzentriert werden, demnächst auch im umkämpften Süden, so hört man neuerdings. Die Amerikaner haben sich von Anfang an dieser Aufstellung von Hilfswilligenverbänden gewidmet. Ein Unterschied zwischen Infanterie- und Polizei-Ausbildung wurde dabei nicht gemacht. In beiden Fällen ist die Methode rudimentär, das Ergebnis kläglich gewesen. Vereinzelte deutsche Instrukteure in Konfliktzonen zu entsenden, käme in vielen Provinzen einem Todesurteil gleich. Mag sein, dass viele Afghanen, die tadschikische Volksgruppe und die Hazara zumal, den überwiegend paschtunischen Taliban mit Widerwillen und Feindschaft gegen­überstehen. Das heißt aber nicht, dass sie die westlichen Besatzer lieben.
Wer heute deutsche Verstärkungen für Kabul anfordert, sollte an Frankreich denken, das einst jede Verhandlung mit den Rebellen der „Nationalen Befreiungsfront“ in Algerien kategorisch ablehnte und eine halbe Million französische Soldaten, überwiegend Wehrpflichtige, zur „Pacification“ der nordafrikanischen Departements über das Mittelmeer verfrachtete. Trotz eines unbestreitbaren Befriedungserfolges und einer gelungenen Stabilisierung, von denen die Alliierten in Afghanistan nur träumen können, hat Charles de Gaulle – in klarer Erkenntnis der politischen Ausweglosigkeit – die Verhandlung mit dem Feind gesucht. Zum Wohle Frankreichs hat er die äußerst schmerzliche Preisgabe Algeriens auf sich genommen.
Am Ende werden auch die Nato-Alliierten Afghanistan sich selbst überlassen müssen. Wird es dann zu Chaos, zum Stammeskrieg, vielleicht sogar zur Aufspaltung kommen? Was kann der Westen schon daran ändern? Die Behauptung, Al Qaida würde wieder über eine ideale Plattform für seine weltweite terroristische Aktivität verfügen, ignoriert die Tatsache, dass die Arroganz der arabischen Freiwilligen, die einst auf Empfehlung der Amerikaner ins Land kamen, bei den Afghanen in schlechter Erinnerung bleibt. Wenn trotzdem die Überlebenden der „Grünen Fremdenlegion“ – vermutlich auch Osama bin Laden – im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet Zuflucht finden, so ist das dem zwingenden Gebot der Gastlichkeit zu verdanken, das im Ehrenkodex der Paschtunen verankert ist. Das gleiche Brauchtum schreibt allerdings auch die Blutrache als unerbittliches Gesetz vor, sodass jede Hoffnung, im Umkreis der bombardierten Dörfer die „Herzen und Gemüter“ zu gewinnen, eine Schimäre bleibt.
Natürlich können die rund 3000 Deutschen der Isaf-Truppe nicht überstürzt und ohne Rücksicht auf die Verbündeten aus dem gemeinsamen Einsatz ausscheren. Die Berliner Regierung hat aber lange genug „Feigheit vor dem Freund“ praktiziert. Sie muss endlich von der amerikanischen Führung ernsthaft und zwingend eine Erklärung verlangen, welches ihre langfristige Planung ist und wie sie sich die Weiterführung dieser „mission impossible“ am Hindukusch vorstellt. Sollte das benachbarte Pakistan, das zudem über Atombomben verfügt, in revolutionäre Wirren abgleiten, wird Afghanistan vollends sekundär und allenfalls zu einem Nebenkriegsschauplatz. Wer möchte schon darauf warten, dass die US-Verbände plötzlich und ohne Vorwarnung den Rückzug antreten, wie 1994 nach den Rückschlägen in Mogadischu während der Uno-Aktion in Somalia. Damals musste das Bundeswehr-Kontingent, das in der Nähe der äthiopischen Grenze kampierte, sich beeilen, um rechtzeitig den Einschiffungshafen zu erreichen.

Peter Scholl-Latour war TV-Korrespondent in Krisengebieten. Von ihm erschien „Kampf dem Terror – Kampf dem Islam? Chronik eines unbegrenzten Krieges“ (Propyläen Verlag)

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