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"Noch nie hatten wir solche Angst"

Die politische Radikalisierung in Ungarn nimmt dramatisch zu. Blutige Anschläge gegen Roma, Hetze gegen Juden und Großungarn-Propaganda fallen auf fruchtbaren Boden. Bei der Parlamentswahl im April dürfte die rechtsradikale Jobbik-Partei davon profitieren

Die Straßen sind voller als sonst. Auf Budapests Freiheitsbrücke stauen sich Autos und Taxis wegen des Streiks der Verkehrsbetriebe. Gegenüber der restaurierten alten Markthalle lädt Sándor Seregi seine Kunden ein, die Füße auf dem Konterfei des Sozialisten Ferenc Gyurcsány abzutreten. „Die Fußabtreter verkaufen sich sehr gut“, sagt der Mittvierziger mit dem Stirnband. Gyurcsány ist Hassobjekt Nummer eins der ungarischen Rechtsextremen. Er gilt als Profiteur des alten wie des neuen Systems. Und seine „Lügenrede“, in der er 2006 zugab, die Wähler über den wahren Kassenstand getäuscht zu haben, klebt an ihm wie ein schmutziges Bonbon. Umfragen, wenige Wochen vor der Parlamentswahl im April, sehen daher die Sozialisten deutlich unter 20 Prozent. Daran konnte auch nichts ändern, dass Gyurcsány die Macht im vergangenen Jahr an einen Jugendfreund abgegeben hat, den Parteilosen Gordon Bajnai. Die beiden kennen sich aus dem Kommunistischen Jugendbund KISZ. Beide sind reich. Und beide sind unbeliebt. Bajnai hat den Ungarn in der Wirtschaftskrise eine Rosskur verordnet: Er hat Sozialleistungen, Renten und die Gehälter der etwa 700000 Angestellten im öffentlichen Dienst gekürzt. Die OECD bescheinigt Bajnai, der keine weitere politische Karriere anstrebt, dass er Ungarn wieder auf den richtigen Weg bringt – raus aus der immensen Staatsverschuldung, auch wenn das unpopulär ist. „Die Steuern sind zu hoch, die Regierung macht uns arm“, schimpft der Plattenverkäufer Sándor Seregi. Die politische Klasse hingegen bereichere sich und verkaufe Ungarn an ausländische Großkonzerne, ereifert sich der Mann. „Es muss einen radikalen Wechsel geben“, sagt der Langhaarige in Rockerkluft und zeigt die kleinen Kalender, mit denen die rechtsextreme Partei Jobbik (Die Rechteren/Besseren) um Rückenwind bei den Parlamentswahlen im April wirbt. Die Partei ist der Abstauber bei Politikverdrossenen wie Seregi. Bei den Europawahlen im vergangenen Jahr holte sie fast 15 Prozent der Stimmen, im ländlich geprägten Armenhaus Ungarns im Osten gibt es Ortschaften, in denen fast 40 Prozent der Stimmberechtigten Jobbik wählten. „Das sind Gegenden, wo es den Staat nicht mehr gibt“, sagt der Politologe Zoltán Kisszelly. Dort gibt es keine Polizei, keine Arbeit, keine Zukunft. Das heutige Ungarn ist klein und hoch verschuldet. Wer in der Gegenwart keine Zukunft hat, der träumt von der Vergangenheit. Großungarn heißt die Zeitschrift, die bei Sándor Seregi auf dem Tresen liegt. Er verkauft Aufnäher und Aufkleber mit der großen Landkarte. Sie zeigt Ungarn in den Grenzen von 1914. Damals gehörten noch Siebenbürgen, die Vojvodina, Teile Sloweniens, der Slowakei, der Karpato-Ukraine und das Burgenland zu Ungarn. Der Friedensvertrag von Trianon nach dem Ersten Weltkrieg reduzierte das Land auf ein Drittel seiner einstigen Größe. Etwa drei Millionen Ungarn leben heute jenseits der Landesgrenze. „Das ist die brennende Wunde Ungarns“, erklärt Kisszelly. Und davon profitiert Jobbik. Auf der anderen Seite der Donau, im Stadtteil Buda, hat Jobbik ein kleines Büro. Vor der Tür stehen ein paar Glatzköpfe in schwarzen Bomberjacken und rauchen. Stapel der hauseigenen Zeitschrift Barrikade liegen herum. Von der schmuddeligen Wand blicken Jobbik-Chef Gábor Vona und die EU-Abgeordnete Krisztina Morvai. „Die neue Kraft“ prahlt das Poster. Im sicheren, abgedunkelten Hinterzimmer sitzt der Parteichef mit ein paar Getreuen und bespricht die Wahlkampagne. In Anfällen von Größenwahn träumt der Vertreter von Sicherheitstechnik davon, „stärkste Kraft“ zu werden. Ausländische Presse ist für den Parteivorsitzenden im Wahlkampf nicht von Vorteil. Er lehnt ein Interview ab. Keine Zeit, lässt er erklären. Sein Kampagnenchef Zsolt Várkonyi nimmt sich umso mehr Zeit. Wichtigstes Thema: Die sogenannte „Zigeunerkriminalität“. Várkonyi schwadroniert: „Wir kennen das, Zigeunerbanden laufen rum und nehmen der armen Rentnerin ihr gesamtes Erspartes weg – das ist wie im wilden Westen.“ Ähnlich wie im Western will Jobbik das Problem auch lösen. „Wir wollen das Recht auf Selbstverteidigung ausweiten“, erklärt Várkonyi. Soll sich die Oma also bewaffnen? „Sie wird nicht mit einer Parabellum rumlaufen.“ Für ihre Sicherheit soll vielmehr die Csendörgarde der Vorkriegszeit sorgen, die für ihre Brutalität berüchtigt war und nun wiederbelebt werden soll. „Wir wollen nicht nur mit der Ungarischen Garde das Vakuum füllen.“ Auch die Todesstrafe will Jobbik wieder einführen. „Eine Nazipartei sind wir aber nicht“, beteuert Vonas Adlatus. Mit ihrer Propaganda trifft Jobbik durchaus einen Nerv. Jobbik habe ein dringendes Problem auf die Tagesordnung gebracht, bestätigt der Budapester Kriminologe Szilveszter Póczik. „Auf dem Lande gibt es kriminelle Roma-Familien und ungefähr jeder Zweite in ungarischen Gefängnissen ist ein Roma.“ Der Wissenschaftler nennt das „organisierte Kriminalität auf niedrigem Niveau“: Kleine Diebstähle, Abzocken von Mobiltelefonen in der Schule, Hauseinbrüche, kleinere Raubüberfälle. „Bei Bagatelldelikten im Wert von unter 80 Euro muss die Polizei nicht kommen“, erklärt der Politologe Zoltán Kiszelly. „Dieses staatliche Vakuum versuchte Jobbik mit ihrer Ungarischen Garde zu füllen.“ Die vor dreieinhalb Jahren gegründete Garde ist mittlerweile verboten. Vergeblich: Sie nennt sich jetzt „Neue Ungarische Garde“ und marschiert weiter durch die Roma-Viertel und verbreitet Angst. Die Visitenkarte hing im Jobbik-Büro: „Jobbtaxi.hu“ (Rechtstaxi). Der Fahrer ist kahl rasiert und trägt eine schwarze Bomberjacke. Auf der Taxitür prangt die Großungarn-Landkarte in den National-Farben Weiß, Rot, Grün. „Jeder Kunde ist uns willkommen“, behauptet Péter Nagybányai. Seit einem Monat fährt der 33-Jährige „Rechtstaxi“. „Das hat nichts zu bedeuten“, sagt der Fahrer und spielt das Thema herunter. „Mir persönlich ist die Politik sowieso egal“, erklärt er, während er sich durch den dichten Verkehr auf der Elisabeth-Brücke über die Donau wühlt. „Ich gehe schon lange nicht mehr wählen.“ Nicht mal Jobbik? Er schüttelt den Kopf. „Das wichtigste Problem in Ungarn ist die Arbeitslosigkeit“, sagt er, ohne lange zu überlegen. Sein Chef sieht Jobbik offenbar als Heilsbringer. Das Motto des Gesinnungstaxi-Unternehmens ist auf der Internetseite nachzulesen: „Gemeinsam fahren wir für ein besseres, lebenswerteres Ungarn“ – das ist auch der Jobbik-Slogan. Bei den Sicherheitsleuten der jüdischen Gemeinde lässt das „Rechtstaxi“ die Alarmglocken schrillen. „Wir haben so viel Angst wie seit zwanzig Jahren nicht mehr“, gibt Péter Feldmájer zu. Er vertritt die jüdischen Gemeinden in Ungarn und deren etwa 80000 Mitglieder. Der Hass gewinne wieder an Boden. „Alles beginnt mit Worten“, sagt Feldmájer. Friedhofs- und Synagogenschändungen, die üblichen Hass-E-Mails, aber auch tätliche Angriffe – das habe zugenommen. Nach jüngsten Umfragen der Soziologin Mária Vásarhelyi sind zwei Drittel der erwachsenen Ungarn der Meinung, dass die Juden in der Geschäftswelt zu viel zu sagen hätten, Tendenz steigend. Auf Demonstrationen wird missliebigen Politikern wie dem Budapester Oberbürgermeister Gábor Demszky regelmäßig zugerufen: „Ab in die Donau.“ Eine üble Anspielung auf die Massenerschießungen ungarischer Juden durch die Pfeilkreuzler im Winter 1944/45. Zum Gedenken an die Massaker stehen bronzene Schuhe am Donauufer – im vergangenen Jahr füllte sie ein Unbekannter mit Schweinefüßen. Die Jobbik-Europaparlamentarierin Krisztina Morvai differenziert in Reden gern zwischen „unseresgleichen“ und „ihresgleichen“ und meint damit verklausuliert „die Juden“. Auf der Internetseite „kuruc.info“, hinter der die Partei Jobbik vermutet wird, werden in einer Fotogalerie aktuelle Wahlplakate sozialistischer Abgeordneter gezeigt – der eine wird mit Schläfenlocken und Davidstern verunstaltet. Auf einem anderen Plakat prangt das deutschsprachige Graffito „Juden raus“. Die Wochenzeitung Magyar Demokrata empfahl vor wenigen Wochen Rollkommandos, die die Bücher „linksliberaler Landesverräter“ wie György Konrád oder Péter Nádas verbrennen sollten. Der ehemalige sozialistische Abgeordnete und Fernsehmoderator Sándor Csintalan wurde von Rechtsextremen 2008 krankenhausreif geprügelt und erklärte: „Dabei bin ich ja nicht mal bekennender Jude.“ Im vergangenen November entfachten rechtsgerichtete Publizisten einen Sturm im Blätterwald gegen den einzigen ungarischen Literaturnobelpreisträger Imre Kertész. Er hatte in einem Interview mit der Zeitung Die Welt den wachsenden Rechtsdrall in Ungarn beklagt. Schreiber vom Schlage eines Zsolt Bayer warfen ihm daraufhin vor, „Vaterlandsverräter“ und „Jude“ zu sein. „Die Grenzen des Rechtsextremismus sind bis weit in die Gesellschaft hinein verschoben“, warnt der jüdische Philosoph Gáspár Miklós Tamás. Die jüdische Gemeinschaft will die antisemitischen Vorfälle jetzt dokumentieren und eine entsprechende Datenbank aufbauen. „Es wird irgendwann jemand geben, der diese Hassparolen wörtlich nimmt“, befürchtet Feldmájer. Seit Jahren versucht der Jurist eine Mehrheit zu mobilisieren, damit Rechtsextremen, die in einer Subkultur von Internet, Rockbands und Folklorevereinen ihre Botschaft verbreiten, per Gesetz ein Riegel vorgeschoben wird. Hassparolen sollen verboten werden können. „Die Menschenwürde muss geschützt werden“, sagt Feldmájer. „Der Staat muss sie schützen.“ Entsprechende Initiativen sind bisher am Präsidenten gescheitert. „Wir geben aber nicht auf.“ Dass eine rechtsextreme Partei wie Jobbik ins Parlament kommen kann, möglicherweise sogar mit einem zweistelligen Ergebnis, macht ihm Sorgen. Er befürchtet Provokationen gegen die ungarischen Juden, um Wähler zu mobilisieren. „Ich hoffe sehr, dass die anderen Parteien sich von Jobbik klar distanzieren. Dieser Appell richtet sich vor allem an den ehemaligen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, dessen rechtskonservativer Bürgerbund Fidesz mit einer satten Zwei-Drittel-Mehrheit rechnen kann – genug, um die Verfassung zu ändern. Mit dem sicheren Sieg in Reichweite verhält sich die Orbán-Partei aber äußerst vorsichtig. Weder distanziert sich Orbán offen von der berüchtigten Garde noch von den extremen Thesen der Rechtsradikalen, weil er die rechten Randgruppen nicht an Jobbik verlieren will. In der Dohány utca, im siebten Bezirk, dem ehemaligen Judenghetto, residieren die Roma-Funktionäre der „Romaselbstverwaltung“. Am Eingang ist eine Marmortafel „zum Gedenken an die unschuldigen ermordeten Roma“ angebracht. Sechs Morde der vergangenen zwei Jahre legt die Polizei einem offenbar rechtsextremen Killerkommando zur Last. „Hier sind unschuldige Menschen umgebracht worden“, erklärt der musikalische Leiter des „100-köpfigen Zigeuner-Orchesters“, Sándor Buffó Rigó, und nimmt seine Geige von dem Resopaltisch. „Einfach weil in der Krise ein Sündenbock gesucht wird.“ Im Keller des Gebäudes probt der Klangkörper Walzer. Im Dreivierteltakt streichen unzählige Geigenbögen synchron über die Saiten. „Wir bereiten unsere Frankreichtournee vor“, erklärt der Ensemble-Leiter. Dass die Ungarische Garde durch die Dörfer marschiere, flößt auch dem Geiger Furcht ein. „Das ruft sehr unangenehme Erinnerungen wach“, sagt er und vertreibt sie mit süßlichen Walzertakten.

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