Napoleons dunkles Geheimnis

Er war ihr Feldherr. Er war ihr Kaiser. Er ist bis heute die Ikone französischer Weltmacht. Dass Napoleon Bonaparte ein überzeugter Rassist war, der schwarze Franzosen vergasen ließ, rüttelt an den Grundfesten der Grande Nation.

Frankreich hat Sorgen. Die Gegenwart setzt ihm zu, die Zukunft macht ihm Angst, und plötzlich tauchen aus der Vergangenheit verunsichernde Fragen auf. Eine jüngst entflammte fieberhafte Debatte lässt dunkle Flecken in einer beschönigten Geschichte erkennen. Noch immer hängt Frankreich an vergangenem Ruhm, an einem als Held verehrten Napoleon und einer kolonialen Ära, als rund um den Erdball die Trikolore flatterte. Vergangenes Frühjahr hat das Parlament die französische Lehrerschaft sogar dazu aufgefordert, „die positive Rolle des französischen Kolonialismus in Übersee“ zu betonen. Die Franzosen der Antillen-Departements sind darüber so sehr in Wut geraten, dass Innenminister Nicolas Sarkozy sich vorerst in Guadeloupe und Martinique nicht mehr blicken lassen kann. Und zu allem Überfluss ist ein die Debatte noch anheizendes Pamphlet mit dem Titel „Napoleons Verbrechen“ („Le Crime de Napoléon“, Éditions Privé) erschienen. Sein Autor Claude Ribbe wirft Napoleon Rassismus und Völkermord vor. Denn der Kaiser der Franzosen hat dereinst nicht nur die unter der Revolution abgeschaffte Sklaverei wieder eingeführt, sondern Tausende von Schwarzen, die sich gegen seine Tyrannei auflehnten, niedermetzeln lassen. In den Reihen der Napoleon-Bewunderer hat Ribbes Werk einen Sturm des Protests ausgelöst, und all jene Politiker, die es nicht nur ihren kolonialnostalgischen Landsleuten recht machen wollen, sondern auch den Franzosen afrikanischen und karibischen Ursprungs, sitzen nun in der Zwickmühle. Was am meisten schockiert hat an Claude Ribbes Buch, ist das Umschlagbild: Hitler in ehrfürchtiger Pose vor Napoleons sterblichen Überresten im Invalidendom, am 23. Juni 1940, während seines kurzen Paris-Besuches. Das Foto war kaum bekannt, vergessen von Historikern, denen der Anblick des Diktators in solch eindeutiger Haltung vor einer der Kultfiguren der Republik lästig war. Claude Ribbe, 52 Jahre alt, verheiratet, vier Töchter, Schriftsteller und Philosoph, Absolvent der Pariser Grandes Écoles, ist von dunkler Hautfarbe. Sein Vater stammt aus Guadeloupe, seine Mutter aus dem Departement Creuse, einer eher armen Region Mittelfrankreichs. Der Polemiker mit dem athletischen Körper und der warmen Stimme besitzt die besondere Stärke, ruhig und gelassen zu bleiben, wenn seine Gegner sich auf den Fernsehbühnen gegen ihn ereifern. Zumindest hat der Proteststurm ihn nicht allzu sehr überrascht. „Ich war eher darauf gefasst, dass die Medien mein Buch schweigend übergehen würden. Gewöhnlich herrscht bei unbequemen historischen Themen eine Omertà der französischen Art. Doch nach den Debatten über die Immigranten in den Banlieues, nach der Affäre um den Gesetzesartikel zum Kolonialismus war das Maß voll. Da musste man von mir sprechen. Und musste endlich die Augen öffnen vor dem, was die Sklaverei gewesen ist, und vor den Machenschaften Napoleons.“ Doch Napoleon in die Nähe Hitlers zu rücken, ging das nicht ein bisschen zu weit? Ribbe dazu: Er habe kein akademisches Geschichtsbuch verfasst, sondern ein Pamphlet. Sein Text, auf unwiderlegbares Quellenmaterial gestützt, ist in der Tat mit giftiger Feder geschrieben. „Ich sage nicht, Napoleon sei ein früher Hitler gewesen. Ich weise lediglich auf die auffällige Tatsache hin, dass der Diktator des 20. Jahrhunderts dem des 19. Jahrhunderts gehuldigt hat; denn alle beide haben die Schwarzen gehasst. Und dann gibt es da noch eine andere verblüffende Parallele: Napoleon hat in Saint-Domingue Tausende von Antillanern ermorden lassen, und zwar durch Vergasung! Er ließ sie in Schiffsladeräume pferchen, in denen Schwefel-oxyd, das man normalerweise zum Töten von Ratten verwandte, verbrannt wurde. Anschließend warf man die Leichen ins Meer.“ Die Liste der Grauen, von denen Ribbe zu berichten weiß, ist schier endlos. Man griff damals zu allen Mitteln, um „Rebellen“ auszuschalten und die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen. Im März 1803 brachte die napoleonische Armee aus Kuba sechshundert Hunde ins Land. Kommandant Donatien Rochambeau erteilte seinen Offizieren folgenden schriftlichen Befehl: „Ich darf Sie nicht in Unkenntnis darüber lassen, dass Ihnen das Futter oder sonstige Kosten für die Verpflegung dieser Hunde nicht erstattet werden wird. Sie müssen ihnen Neger zu fressen geben.“ Vor den Toren des Palais National, der Residenz des Generals, wurde ein Zirkus errichtet, in dem die ausgehungerten Tiere auf ihre an Pfähle gebundenen Opfer losgelassen wurden. Jeden Nachmittag begann das öffentliche Schauspiel von neuem. Und Napoleon beglückwünschte den Urheber jener Abscheulichkeiten auch noch: „Ich will Sie“, schrieb er ihm, „sogleich des vollsten Vertrauens versichern, das die Regierung in Sie setzt, und Sie unterrichten über deren Zustimmung zu den unerlässlichen Maßnahmen, welche die Umstände Sie anzuwenden zwingen oder zwingen sollten.“ Soldaten aber, die ihre Teilnahme an den Massakern verweigerten, wurden bestraft. Diese entsetzliche Wahrheit ist es, die den Verfasser des Pamphlets veranlasste, den Berühmtesten aller Franzosen mit Hitler zu vergleichen. Diesem war die „negrophobe“ Seite seines Vorbildes bestens bekannt. Die deutschen Soldaten strömten so zahlreich zu Napoleons Grab in den Invalidendom, dass dort der Boden mit Brettern ausgelegt werden musste, damit die schweren Stiefel den Marmor nicht beschädigten. Die „offiziellen“ Historiker greifen Claude Ribbe nicht wegen der von ihm veröffentlichten Fakten an – diese sind belegt –, sondern wegen deren Interpretation. Sie werfen ihm vor, er habe sie nicht „in ihren historischen Kontext gestellt“. „Das ist ein gefährliches Argument“, entgegnet der Schriftsteller. „Stellen Sie sich vor, die Deutschen würden die Geschichte des Nationalsozialismus neu schreiben und dabei im Namen des ‚Kontextes‘ deren Schrecken herunterspielen! Die Deutschen haben sich wenigstens mit ihrer Vergangenheit auseinander gesetzt. Deshalb sind sie vielleicht auch weniger rassistisch, was etwa die Tatsache beweist, dass im deutschen Fernsehen anscheinend völlig problemlos schwarze Moderatoren und Journalisten auftreten können. In den französischen Medien dagegen sieht man keinen einzigen. Ebenso wenig übrigens in der Regierung. Das hat schon etwas zu bedeuten …“ War der Rassismus zu Napoleons Zeiten etwas „Natürliches“? Ribbe ist nicht dieser Ansicht. „Um wieder eingeführt werden zu können, muss die Sklaverei erst einmal abgeschafft worden sein!“ Am 4. Februar 1794 hatte der Konvent sie durch Akklamation für beendet erklärt, indem er verkündete, alle in den Kolonien wohnhaften Menschen seien „ungeachtet ihrer Hautfarbe französische Staatsbürger“ und sollten sämtliche von der Verfassung garantierten Rechte genießen. Es waren also französische Staatsbürger, die Napoleon massakrierte. Das revolutionäre Parlament von 1794 hatte die ihrer Sklaven beraubten Herren nicht entschädigt. 1848 dagegen, als das 1803 von Napoleon wieder eingeführte System endgültig abgeschafft wurde, erhielten die Siedler eine groß-zügige Abfindung. Die Bewunderer des Kaisers entschuldigen diesen mit dem Hinweis auf den angeblichen Einfluss seiner Frau Joséphine de Beauharnais, Tochter eines auf Martinique lebenden weißen Siedlerpaares. Doch ebenso gut hätte er empfänglich sein können für die Wohltaten, die diese Hochzeit ihm auf den karibischen Plantagen einbrachte, wo die aus Afrika importierten Arbeitskräfte saftige Erträge ermöglichten. Joséphines Statue auf der Place Centrale von Martiniques Hauptstadt Fort-de-France wurde vor rund zwanzig Jahren enthauptet und mit roter Farbe bespritzt und ist seither in diesem Zustand belassen worden. Als verabscheutes Symbol der Kolonialzeit. In den vergangenen Wochen fanden dort mehrere Demonstrationen gegen den umstrittenen Gesetzesartikel statt, der die Lehrer dazu auffordert, die „positive Rolle“ des Kolonialismus hervorzuheben. Und die Wut der „farbigen“ Franzosen schwillt nicht ab, selbst wenn nur wenige unter ihnen mit den Verfechtern einer Unabhängigkeit der so genannten „confettis de l’empire“ sympathisieren, jener kleinen Inseln im Atlantik, die bis heute vollwertige Départements der Republik sind. „Meine Gegner unterstellen mir, ich sei ein ‚Anti-Franzose‘“, sagt Claude Ribbe. „Das ist absurd. Ich bewundere das Frankreich der Aufklärung, es hat den Grundstein gelegt für das Prinzip der menschlichen Gleichheit. Doch ich bekämpfe den Rassismus. Er wird durch eine die Sklaverei befürwortende Vergangenheit beflügelt, eine Vergangenheit, der man heutzutage nur sehr schwer auf die Spuren kommt. Ich bin kein Mann des Hasses.“ Er pocht auf seine tolerante Haltung, vergleicht sie mit jener der Haitianer während des Dritten Reiches. Traumatisiert durch ihren eigenen Genozid, gehörten die Bewohner Haitis zu den wenigen, die in der Nazizeit den bei ihnen strandenden verfolgten Juden Asyl und Staatsbürgerschaft gewährten. Wird die Debatte ins Leere laufen? Die Medien gehen bereits zu anderen Themen über, doch bei mindestens einer Million Franzosen antillischer oder afrikanischer Herkunft schmerzt die Wunde weiter. Die Mitglieder der französischen Regierung, die sich nicht vom umstrittenen kolonialnostalgischen Gesetzesartikel distanziert haben, sind nicht gewillt, so bald Fort-de-France oder Point-à-Pitre aufzusuchen. Die anerkannten Wissenschaftler hingegen, die so lange die volle Wahrheit über Napoleons Rassismus verschwiegen haben, werden ihr geschichtliches Wissen nicht auf ewig unter Verschluss halten. Frankreich leidet an Weltschmerz. Aber es reift. Präsident Jacques Chirac hat am 4. Januar angemeldet, das streitbare Gesetz solle neu redigiert werden, damit diese Frage die Franzosen nicht mehr entzweit. In den vergangenen Monaten hat er sogar begonnen, jüngere, ebenso unangenehme und kaum bekannte Kapitel der französischen Geschichte anzusprechen. So hat er zugegeben, dass die blutige Niederschlagung der algerischen Aufstände in Sétif im Jahr 1945 „ein Fehler“ gewesen sei, jener Kampf gegen Algerier, die noch vor ihrer Forderung nach Unabhängigkeit nach einem französischen Pass verlangten. Und bei seiner Reise nach Madagaskar im Juli 2005 kam er auf das Blutbad von 1947 zu sprechen, hat dessen Opfer geehrt (laut Quellen zwischen 20000 und 100000) und „die vom Kolonialsystem hervorgebrachten inakzeptablen Repressionsmethoden“ gebrandmarkt. Vielleicht wird er eines Tages ein noch unbekannteres Ereignis erwähnen, die Ermordung mehrerer tausend „rebellischer“ Kamerunesen durch die französische Armee im Jahr 1960, als jene sich, gerade erst unabhängig geworden, gegen die Einsetzung eines Paris-hörigen Präsidenten wehrten. „Genug der Reue!“, protestiert Innenminister Nicolas Sarkozy. Er wehrt sich zu Recht gegen Alibi-Entschuldigungen und die Versuchung eines moralisierenden Masochismus, sträubt sich aber zu Unrecht dagegen, die Geschichte zu akzeptieren, und zwar die ganze Geschichte. Denn die Stärke eines modernen Landes beruht auch auf dem souveränen Umgang mit der eigenen Vergangenheit. Frankreich ist heute auf diesem Weg. Das Land nimmt behutsam Abschied von seinen chauvinistischen Mythen. Es lernt, schneller, als man es im Ausland wahrnimmt, die schwierige Kunst der Selbstkritik. Übersetzung: Maria Hoffmann-Dartevelle

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