Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
(picture alliance) Teile der Berliner Mauer stehen noch heute in der Bernauer Straße.

50 Jahre Mauerbau - Wie aus der Mauer eine Erinnerung wurde

Der Mauerbau galt als Höhepunkt des Kalten Krieges. Dabei stellt das Schandmal eher eine Zäsur dar: als Anfang einer Akzeptanzpolitik, die dem Ost-West-Konflikt einen Gutteil seiner extremen Schärfe nahm. Hans-Ulrich Wehler blickt zurück auf die Geschichte eines geteilten Kontinents und auf seine Zukunft.

Vor einem halben Jahrhundert ließ die Führungsclique der deutschen Bolschewiki, die seit zwölf Jahren die sowjetische Satrapie in Ostdeutschland beherrschten, den Berliner Mauerwall bauen und die Westgrenze verschärft befestigen. Als technischer Exekutor des heiklen Unternehmens fungierte mit dogmatischer Zuverlässigkeit Erich Honecker, der sich damit in das nähere Umfeld von Staatschef Walter Ulbricht schob. Der Mauerbau galt lange Zeit als Höhepunkt jenes „Kalten Krieges“, in dem die beiden Weltmächte seit Beginn der Nachkriegsphase auch auf deutschem Boden zusammentrafen.

Bei näherem Hinsehen erkennt man jedoch, dass das Schandmal zwar eine Zäsur, doch keineswegs den Höhepunkt des Konflikts darstellte. Denn die vom amerikanischen Außenminister Dulles verfolgte Strategie des erhofften „Roll Back“ als konsequente Fortsetzung der von George Kennan entworfenen „Containment“-Politik führte in dieser Krisensituation keineswegs zu einer schroffen Reaktion der westlichen Verbündeten und ehemaligen Besatzungsmächte. Vielmehr wurde der Mauerbau eher zähneknirschend als ein neues menschenfeindliches Symbol der deutschen Teilung hingenommen. Diese Akzeptanzpolitik nahm trotz aller nachfolgenden politisch-diplomatischen Zusammenstöße dem „Kalten Krieg“ einen Gutteil seiner extremen Schärfe. Die neue amerikanische Regierung unter Kennedy sah nach einem kühlen Kosten-Nutzen-Kalkül ganz davon ab, eine militante Antwort zu geben, die unmittelbar an den Rand des Krieges geführt hätte. So fuhren zwar unmittelbar gegenüber den russischen T 34 US-Panzer an der entstehenden Mauer auf, wurde der Truppenverkehr nach Westberlin aufrecht erhalten, doch im Grunde nahm man den von der sowjetischen Hegemonialmacht eher zögerlich gebilligten Mauerbau als Überraschungserfolg der DDR-Führung hin.

Stillschweigend wurde auch für ihr völlig dominierendes Motiv: den unablässig anhaltenden Flüchtlingsstrom nach Westen endlich effektiv abzustoppen, ein gewisses Verständnis aufgebracht. Denn seit den Jahren der Sowjetischen Besatzungszone und dann während der ersten zwölf Jahre der DDR waren nicht weniger als 3.1 Millionen Ostdeutsche – 13.4 % aller Erwerbstätigen, darunter die Hälfte aller Ärzte und Wissenschaftler – über Westberlin oder die „Grüne Grenze“ nach Westen geflohen.

In manchen Jahren wurden dramatische Massenfluchtziffern erreicht: 1953 z. B. verließen 331.000, 1957 419.000, im ersten Halbjahr 1961 schon wieder 200.000 Menschen ihre ostdeutsche Heimat. (Von 1949 bis 1990 sind insgesamt 4.6 Millionen Personen geflüchtet.) Wenn das SED-Regime überhaupt noch eine Konsolidierung erreichen wollte, musste es in der Tat die Bewohner seines „Arbeiter- und Bauernstaates“ einsperren.

Das war für die seither eingepferchten Ostdeutschen, von denen im Augenblick des Mauerbaus Hunderttausende mit Fluchtgedanken, ja Fluchtvorbereitungen beschäftigt waren, eine geradezu betäubende Erfahrung. Spätestens seither mussten sie sich in ihrer Lebensplanung auf eine dauerhafte Existenz unter kommunistischer Herrschaft einstellen. Die folgenden dreißig Jahre bis zur Selbstzerstörung der DDR sind daher für die meisten durch ein pragmatisches Sichabfinden unter offenbar unveränderbaren Bedingungen gekennzeichnet gewesen. Wer besaß schon die Überzeugungsstärke und Zivilcourage, dauerhaft den Eintritt in die SED, in den FDGB, die Leitungsfunktion der Betriebsbrigade oder die Jugendweihe abzulehnen, wo doch die eigene Berufskarriere und die Kinderlaufbahn so evident von dieser Bereitschaft zur Fügsamkeit abhingen?

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie die Ostdeutschen seit 1945 ohne Pause unter die Fuchtel der Diktatur gerieten.

Im Gegensatz zu den Westdeutschen, die unmittelbar nach 1945 ohne eigenes Verdienst bereits die ersten selbstständigen politischen Schritte hin auf ein demokratisches Gemeinwesen tun konnten, bis 1960 eine freie kritische Öffentlichkeit gewannen, in einen schmerzhaften Lernprozess im Hinblick auf die Geschichte des „Dritten Reiches“, seinen Vernichtungskrieg und Holocaust eintraten, gerieten die Ostdeutschen seit 1945 ohne Pause unter die Fuchtel einer zweiten Diktatur: erst in Gestalt des russischen Kolonialkommunismus, dann der SED-Herrschaft. Das Regime der deutschen Kommunisten zog nach dem Mauerbau die Zügel erwartungsgemäß noch straffer an, konnte aber trotzdem die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nicht erheblich steigern. Die Erfüllung der ominösen Pläne wurde nie erreicht. Die Reallöhne erreichten dreißig Prozent des westdeutschen Niveaus. Die Renten gestatteten nur eine Kümmerexistenz. Die Konsumgüterversorgung blieb ebenso miserabel wie die Wohnungssituation.

In mancher Hinsicht hat sich aber während dieser dreißig Jahre vor 1989 als schlimmste Belastung die mentale Deformation erwiesen. Das politische Leben blieb einer autoritären Hierarchie unterworfen, die von der kleinsten FDJ-Einheit bis zum Zentralkomitee reichte. Unverändert galt die Maxime, dass die Partei immer Recht habe. Fluchtwillige mussten, wie Aberhunderte von Ermordeten beweisen, damit rechnen, von den Grenzwächtern erschossen oder nach der Gefangennahme in jahrelang andauernde Zuchthaushaft genommen zu werden. Die entsetzliche Wirklichkeit des „Dritten Reiches“ wurde durch die Antifaschismus-Legende völlig verdunkelt. Der Holocaust blieb ganz so eine Terra Incognita, wie die Zentralität des nationalsozialistischen Antisemitismus. Jede selbstkritische Analyse des ostdeutschen Lebens unter dem Nationalsozialismus blieb aus. Presse und Fernsehen unterlagen einer diktatorialen Lenkung, die Goebbels’ begeistertes Wohlgefallen gefunden hätte. In den meisten Wissenschaften galt die Lehre eines einfältigen Marxismus-Leninismus, der mit Holzhammer-Methoden gelehrt wurde. Bis zuallerletzt mussten etwa von den DDR-Historikern die Geheimprotokolle des Hitler-Stalin-Paktes geleugnet werden.

Es hat sich unstreitig nach 1990 in Ostdeutschland ein erstaunlicher Aufbau durchgesetzt. Mit mehr als einer Billion Euro hat der Westteil des Landes den Osten, der ungleich härter von den Folgen des gemeinsam geführten Krieges betroffen war, aus der Misere geholfen. Doch die Konsequenzen der andauernden mentale Deformation, die in gewisser Hinsicht das schwärzeste Erbe der roten Diktatur darstellt, sind wegen ihrer Zählebigkeit nur mit großer Anstrengung zu beseitigen. Dass noch immer lernunfähige 25 Prozent der Wählerschaft die PDS/Linkspartei als Nachfolgerin der SED wählen, dass noch immer an vielen Stellen alte SED-Cliquen das Sagen haben, dass ein kommunistischer Etatismus seine Attraktivität vielerorts behalten hat – das bleiben schwere Belastungen des Zusammenlebens. Das erfreulichste Signal ist aber inzwischen: Die derzeitige Studentengeneration an den ostdeutschen Hochschulen besteht aus Nachwende-Kindern, die der neuen Welt unbefangen gegenüberstehen, ihre Vorzüge zu schätzen wissen, zusehends auch im Westen studieren.

Zu den tiefambivalenten Wirkungen des Mauerbaus gehört aber auch, dass die SED seither mit ihrer faktisch ungehemmten Verfügungsgewalt den Ausbau der DDR nach ihren Vorstellungen konsolidieren konnte. Diese allmählich gewonnene Stabilität wurde durch die völkerrechtliche Anerkennung von Seiten der internationalen Staatengemeinschaft bestätigt. Mit radikal gefälschten Wachstumsstatistiken platzierte sich die DDR im Spitzenpulk der Industriestaaten, während sie in Wirklichkeit wegen ihrer extremen Verschuldung Schritt für Schritt auf die staatliche Insolvenz hinsteuerte. Nur aufgrund der von der Mauer gewährten Autonomie und der kärglichen Stabilisierungsfortschritte mit ihrem leichten Wohlstandsschub konnte sich das Honecker-Regime 1975 auf die KSZE-Schlussakte, das folgenreiche Vertragswerk von Helsinki, einlassen. Damit wurde Oppositionellen und Ausreisewilligen ein Spielraum eröffnet, ohne den die Ausdehnung der Dissidendengruppen in den 1980er Jahren nicht möglich gewesen wäre.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie mit Michail Gorbatschow ein junger Parteifunktionär an die Hebel der Macht kam.

Dass die DDR seit dem Herbst 1989 einem unwiderstehlichen Erosionsprozess erlag, der die Fusion der beiden deutschen Neustaaten von 1949 wider Erwarten ermöglichte, war einer einmaligen Konstellation zu verdanken. Denn am Korridor der Macht öffnete sich für einen außerordentlich kurzen Moment ein Zeitfenster, das ungeahnte Bewegungen zuließ. Diese Entscheidungsphase wurde von vier klar erkennbaren Machtzentren bestimmt. Nach Jahren erstarrter Greisenherrschaft in Russland kam mit Michail Gorbatschow ein relativ junger Parteifunktionär an die Hebel der Macht, der nicht nur das Sowjetsystem entschlossen reformieren und damit zukunftsfähig machen wollte, sondern auch schließlich bereit war, das hegemoniale Vorfeld einschließlich der DDR, die symbolisch wertvollste große Beute des Zweiten Weltkriegs, freizugeben. Die erstaunliche Beliebtheit, die Gorbatschow auch zwanzig Jahre später unter den Deutschen noch immer genießt, beruht auf der dankbaren Anerkennung seiner unerwarteten Leistung zugunsten der deutschen Interessen.

Was immer man am Provinzialismus des Pfälzer Kanzlers auch kritisieren mag, im Augenblick der sich öffnenden Entscheidungsoptionen gelang Helmut Kohl, unterstützt von Außenminister Genscher und Politikberater Teltschik, ein staatsmännischer Coup, der die neue staatliche Einheit in der Gestalt des reduzierten Bismarck-Reiches ermöglichte. Von der Schubkraft einer einigungsbegeisterten deutschen Öffentlichkeit kann dabei keine Rede sein, obwohl wiederum nur wenige so töricht gegen die Befreiung der Ostdeutschen opponierten wie Oskar Lafontaine.

Der erbitterte Widerstand von Mitterand und Mrs. Thatcher, welche die Wiederauferstehung eines deutschen Zentralstaats in Europa partout verhindern wollten, ist letztlich dank der Unterstützung der Regierung Bush/Baker überwunden worden. In Washington wollte man, nachdem man traditionell das Selbstbestimmungsrecht der Völker verfochten hatte, in dieser Situation den Deutschen die Wiedergewinnung der politischen Einheit nicht versagen.

Und, last but not least, wäre ohne die revolutionäre Erhebung der Ostdeutschen – jener Volksmassen, deren progressive Bewegung die marxistischen Ideologen stets beschworen hatten, bis sie sich gegen sie selber wendeten – die verblüffende Motorik des Staatszusammenbruchs nicht zustande gekommen. Es gab nicht, wie mancher kommentiert hat, eine gedämpfte Implosion des SED-Regimes. Vielmehr setzte sich eine politische und soziale Revolution durch, deren Erfolg in der deutschen Geschichte einzigartig dasteht.

Wie schnell das Zeitfenster im internationalen Machtsystem wieder zuklappte, trat unmittelbar nach den deutschen Einigungsverträgen und dem Unabhängigkeitsgewinn der ehemaligen osteuropäischen Satellitenstaaten zutage. Voller Misstrauen gegenüber Gorbatschows kühnem Kurs hatte in Russland die Riege der Marschälle Gewehr bei Fuß verharrt, das orthodoxe Funktionärscorps widerstandsbereit immer lauter gemurrt. Bereits 1991 erlag Gorbatschow ihrem Putsch. Das Novum daran war, dass der gestürzte Machthaber nicht zugleich liquidiert wurde, sondern im politischen Abseits weiter existieren durfte.

Lesen Sie im nächsten Teil von der sowjetischen Reichserosion – ganz ohne Krieg.

Mit diesem Putsch und Boris Jelzins Machtübernahme setzte der Zerfall der Sowjetunion in einem atemberaubenden Tempo ein. Auch die erbittertsten Kommunistenfresser hatten diese abrupte Desintegration nicht vorhergesehen. Dreizehn Landesteile in den Grenzgebieten splitterten als selbstständige Staaten ab. Die riesige Sowjetunion schrumpfte als russische Republik auf die Größe des vorpetrinischen Russland zurück. Unter chaotischen Umständen wurde, begleitet von massenhafter Korruption, die Staatswirtschaft überstürzt privatisiert. Die Cliquen der frisch gebackenen Milliardäre zogen die fettesten Beutestücke an sich, während regelmäßige Löhne und Gehälter oft genug ausblieben. Wer aber hätte gedacht, dass eine derartige Weltmacht wie die Sowjetunion, die in einem bipolaren Machtsystem fast fünf Jahrzehnte lang der einzige ernsthafte Konkurrent der Vereinigten Staaten im Zeitalter der „Pax Americana“ gewesen war, ohne Krieg, dazu in beispielloser Windeseile derart tiefgreifend zerfallen könnte? In der großartigen Analyse des englischen Historikers John Darwin, in seiner „Globalgeschichte der großen Reiche“ von 1400-2000 (2010), findet sich kein einziges Beispiel für eine vergleichbar schnelle Reichserosion ohne Krieg!

Genau dreißig Jahre nach dem Mauerbau, der die Entscheidungsmacht der deutschen und russischen Bolschewiki so schmerzhaft demonstriert hat, trat nicht nur Deutschland, sondern die Welt in eine neue historische Epoche ein: Es war die kurzlebige Ära eines dreißigjährigen Herrschaftsmonopols der Vereinigten Staaten. Es wurde zwar mancherorts, wie im Irak und Afghanistan, auf die Probe oder sogar in Frage gestellt, hielt sich aber aufs Ganze gesehen. Der törichte Unilateralismus eines Bush Jr. wäre ohne den Glauben an die einsame globale Spitzenstellung nicht zum Zuge gekommen.

Im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends zeichnet sich jedoch unwiderruflich eine neue Mächtekonstellation ab. Von etwa 2020 ab wird sich das Duopool der USA und Chinas, das den Status einer ökonomischen und politischen Weltmacht errungen haben wird, durchsetzen. Dahinter rücken Indien und Brasilien sowie Russland nach seiner erfolgreich bestandenen, auf Rohstoffressourcen beruhenden Erholung in das zweite Glied auf. Ob die EU mit ihrem gewaltigen Pool an Wissenschaftlern, Fachkräften und Kapitalien, die eine halbe Milliarde modernitätserfahrener Menschen vorantreiben könnten, ihre politische Heterogenität überwinden, ihre Währungsstabilität verteidigen und ihre Kräfte politisch bündeln kann, ist zur Zeit trotz aller günstigen Bedingungen noch immer ungewiss.

Als zentrales Aktionsfeld werden sich Ostasien und der Pazifik zusammen mit Südostasien weiter durchsetzen, die atlantische Welt wird an Bedeutung verlieren. Die Vereinigten Staaten werden verzweifelt darum kämpfen, die Ausnutzung ihrer traditionellen Außenhandelsmaxime der „Offenen Tür“ (für den amerikanischen Industrie- und Agrarexport) den Chinesen zu verweigern, während die eigene Infrastruktur und Industriebasis sich vielerorts dem Kollaps nähern. Im Zeichen dieser neuen Weltmachtkonstellation und Weltmarktkonkurrenz wird die Erinnerung an die Mauer des SED-Regimes, die fünfzehn Millionen Menschen gnadenlos eingesperrt hat, verblassen. Als Beispiel der barbarischen Politik kommunistischer Machthaber wird sie nur im Gedächtnis einer Minderheit gespeichert bleiben. Fünfzig Jahre nach ihrem Bau lohnt es sich daher, an dieses Schandmal in einem weiteren historischen Kontext noch einmal zu erinnern.

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.