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(picture alliance) Ein Flüchtling auf der italienischen Insel Lampedusa: mit der Tragödie allein gelassen

EU-Asylpolitik - Wenn Flüchtlinge ertrinken, sind wir mitverantwortlich

An den EU-Außengrenzen sterben Jahr für Jahr Tausende Flüchtlinge. Statt zu helfen, setzt die Staatengemeinschaft auf Abschottung. Die Bundesregierung nimmt die Menschenrechtsverletzungen stillschweigend hin, kritisiert Wolfgang Grenz, Generalsekretär von Amnesty International

Am 6. September melden die Nachrichtenagenturen ein verheerendes Flüchtlingsdrama an der türkischen Mittelmeerküste: Mindestens 61 Menschen – darunter gut die Hälfte Kinder – ertrinken beim Untergang eines Flüchtlingsbootes in der Nähe von Izmir. An Bord sind vor allem Palästinenser, Iraker und Syrer. Es ist nur eine von vielen Meldungen. Denn immer wieder ertrinken Flüchtlinge im Mittelmeer bei dem Versuch, die EU zu erreichen. Oder sie verdursten in den überfüllten Booten. 2011 starben mindestens 1.500.

Die EU-Staaten tragen mit ihrer Abschottungspolitik eine Mitschuld an diesem Sterben im Mittelmeer. Warum? Weil sie alle Wege, sicher und legal Schutz in der EU zu suchen, blockieren. Zuletzt wurde viel Geld ausgegeben, um die Landgrenze zwischen der Türkei und Griechenland für Migranten und Flüchtlinge abzudichten. Und in den nächsten Jahren sind weitere 400 Millionen Euro für das System Eurosur eingeplant, mit dem ab 2014 die Außengrenzen des Schengenraums überwacht werden soll.

Die EU und ihre Mitgliedstaaten verstoßen mit dieser Politik der Abwehr von Flüchtlingen und Migranten in vielen Fällen gegen das internationale Flüchtlingsrecht und gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einer Entscheidung vom Februar 2012 festgestellt.

Er verurteilte Italien wegen seiner Rückschiebpraxis – dem sogenannten „Push-Back“ – auf dem Mittelmeer. Italien hatte Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeer außerhalb des italienischen Hoheitsgebietes aufgegriffen und nach Libyen zurücktransportiert. Grundlage dieser Praxis war ein „Freundschaftsabkommen“, das Italien unter Berlusconi mit Libyen unter Gaddafi geschlossen hatte. Gegen Zahlung von fünf Milliarden US-Dollar verpflichtete sich Libyen zu  verstärkten Grenzkontrollen. Italien durfte im Gegenzug im Mittelmeer aufgegriffene Menschen nach Libyen zurückschicken. Dort wurden sie in der Regel inhaftiert, misshandelt und zum Teil gefoltert. Nach einigen Wochen setzten die libyschen Behörden sie hilflos in der Wüste aus. Das alles hat der Gerichtshof in seinem Verfahren festgestellt und geurteilt, dass Italien diese Menschen nie hätte zurückschicken dürfen. Die italienischen Behörden hätten prüfen müssen, welchen Gefahren die Flüchtlinge bei der Rückschiebung ausgesetzt waren. 

Wenn Menschen, die von den italienischen Behörden aufgegriffen werden – und das gilt auch auf Hoher See – erklären, dass sie Flüchtlinge sind, dann muss ihnen Zugang zu einem fairen Asylverfahren gewährt werden.

Trotz des Urteils will die italienische Regierung diese Praxis aber offenbar fortsetzen. Sie hat – wie italienische Journalisten aufgedeckt haben – mit der neuen libyschen Regierung ein entsprechendes Geheimabkommen geschlossen. Die italienische Regierung setzt Flüchtlinge damit der Gefahr schwerster Menschenrechtsverletzungen aus – denn Libyen ist längst noch kein sicherer Ort für Flüchtlinge.

Und was tut die EU? Nichts. Auch Deutschland nimmt das menschenrechtswidrige Verhalten Italiens stillschweigend und wahrscheinlich auch zustimmend zur Kenntnis. Dabei sieht sich die EU gerne als Vorreiter beim Menschenrechtsschutz und als Wertegemeinschaft. Beim Flüchtlingsschutz ist aber auf diese kein Verlass. Weder übt die deutsche Regierung Druck auf Italien aus, noch ist sie bereit, das europäische Asylsystem so zu reformieren, dass die Grenzstaaten mit dem Problem nicht allein gelassen werden. Bisher beharrt sie auf dem geltenden Dublin-II-Abkommen, nach dem der Staat, in den Flüchtlinge zuerst einreisen, für ein Asylverfahren zuständig ist.

Seite 2: Wir dürfen nicht untätig zusehen, wie Menschen sterben

Diese Regeln tragen dazu bei, dass Staaten wie Griechenland, Italien oder Malta sogar versuchen, Menschen in akuter Lebensgefahr von ihren Grenzen fernzuhalten. Zwei Beispiele: Am 6. April 2011 sind 200 Menschen ums Leben gekommen, als ihr Schiff unterging. Obwohl die maltesischen Behörden Hilfegesuche erhalten hatten, starteten sie keine Rettungsaktion. Sie vertraten die Ansicht, dass das Schiff sich näher am italienischen Operationsgebiet befand. Als ein italienisches Schiff eintraf, konnten nur noch 47 Personen gerettet werden.

Ende März 2011 verloren 63 Menschen ihr Leben im Mittelmeer. Ein Boot mit 72 Menschen an Bord hatte kein Benzin mehr, die Nahrungsmittel wurden knapp. Die Schiffbrüchigen informierten über Satellitentelefon einen eritreischen Priester in Rom, der seinerseits die italienische Küstenwache und die NATO benachrichtigte. Die Überlebenden berichteten, dass ein Militärhubschrauber Wasser und Kekse abgeworfen habe, dann aber abgedreht sei. Fischerboote und Marineschiffe seien später in Sichtweite vorbeigefahren. Kein Schiff habe versucht, sie zu retten.

Wir dürfen nicht untätig zusehen, wie Menschen sterben, nur weil sich zwei Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht darüber einigen können, wer für die Rettung zuständig ist. Wir dürfen nicht zusehen, wie die Europäische Union einerseits zum Schutz syrischer Flüchtlinge in der Türkei, Jordanien, dem Irak und Libanon aufruft, andererseits aber selbst ihre Abschottungspolitik fortführt.

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Flüchtlingsrechte werden in der Politik schnell vergessen, wenn andere Interessen im Spiel sind. Nur durch die beharrliche Arbeit von Initiativen, Organisationen und Rechtsanwälten gelingt es, Erfolge im Flüchtlingsschutz zu erreichen. Aber es gibt sie: Deutschland beteiligt sich nach Jahren der Ablehnung nun – wenn auch in bescheidenem Umfang – am Neuansiedlungsprogramm („Resettlement“) des UNO-Flüchtlingskommissariats. Das Bundesverfassungsgericht hat das Asylbewerberleistungsgesetz für verfassungswidrig erklärt. Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg hat die deutsche Rechtsprechung zur religiösen Verfolgung als nicht vereinbar mit Europarecht eingestuft.

Es ist beschämend, dass die EU-Regierung immer wieder daran erinnert werden muss, das zu tun, wozu sie durch Menschenrechtsverträge und die Flüchtlingskonvention verpflichtet sind. Es ist beschämend, dass die EU-Staaten nicht sofort ihre Abschottungspolitik beenden und damit weitere Tote im Mittelmeer verhindern.

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