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(picture alliance) Deutlich enstpannter als in England protestieren diese jungen Spanier in Berlin

Aufstände - In welchen Ländern protestiert Europas Jugend?

Die Frage des Tages: In Großbritannien wütet eine Generation, die sich verlassen fühlt. Wie ist die Situation in anderen EU-Ländern?

Die Jugendkrawalle in England halten nicht nur die Menschen auf der Insel in Atem – die Bilder von den brutalen Auseinandersetzungen zwischen der britischen Polizei und den Randalierern werfen auch in anderen europäischen Ländern die Frage auf, ob wirklich allein die Zerstörungswut die jungen Leute auf die Straße treibt. Denn nicht nur in England fühlt sich eine ganze Generation ausgegrenzt und chancenlos.

DIE JUGEND IN ENGLAND

Britische Jugendliche zertrümmern gerade ihr Land und ihre eigenen Kommunen. Die Analyse scheint klar: „Es sind junge Leute, die kein Interesse an ihrer Gesellschaft haben“, sagt die Labour-Abgeordnete des von Krawallen betroffenen Stadtteils Hackney, Diana Abbott.

Trotzdem beginnt eine Debatte, ob diese Entfremdung einer vorwiegend jugendlichen Außen- oder Unterschicht nur in sozialer Perspektivlosigkeit begründet ist oder ob sie übergreifende sozio-kulturelle Gründe hat.

Materiell ist die Lage der britischen Jugendlichen denkbar schlecht. Seit 2008 ist die Arbeitslosenquote der 16- bis 24-Jährigen um dramatische 40 Prozent gestiegen: Heute ist jeder fünfte – 20 Prozent – in dieser Gruppe ohne Arbeit – mit 12,8 Prozent ist die Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen sehr hoch. Im Vergleich sind nur 9,1 Prozent der Gesamtbevölkerung arbeitslos. In Tottenham, wo die Krawalle begannen, kommen auf einen neuen Arbeitsplatz 57 Stellensuchende. „Wir verlieren eine ganze Generation“, warnte Gewerkschaftschef Brendan Barber.

Auch die Sparmaßnahmen der Regierung treffen die Jugend überproportional und verdüstern ihre Perspektiven: drastisch ansteigende Studiengebühren, die Aussicht auf eine hohe Verschuldung und eine steigende Wohnungsnot. Wie überall in Europa wissen Jugendliche auch in Großbritannien, dass sie es weniger gut haben werden als ihre Eltern. Besonders hart trafen die Sparmaßnahmen die 18-Jährigen: Labour zahlte ihnen eine Erziehungsbeihilfe, damit sie noch ein Jahr länger die Schulbank drückten, das fällt jetzt weg. Dahinter stecken tiefer gehende Strukturprobleme. Fünf Millionen Briten im arbeitsfähigen Alter leben, ohne zu arbeiten, und viele suchen gar nicht nach Arbeit. Eine Million Briten haben trotz eines langjährigen Wirtschaftsbooms während der Jahre bis 2007 nie gearbeitet, 250 000 Kinder wachsen in Haushalten auf, in denen nie jemand gearbeitet hat – oft über mehrere Generationen hinweg. Tory-Arbeitsminister Chris Grayling bezeichnete diese „Kultur der Arbeitslosigkeit“ als eine „tickende Sozialbombe“, die Labour hinterlassen habe.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie die Situation der Jugend in Frankreich ist.

DIE JUGEND IN FRANKREICH

Die Gewaltwelle in Großbritannien erinnert an die dreiwöchigen Jugendkrawalle in Frankreich, die im Oktober und November 2005 die „Grande Nation“ bis ins Mark erschütterten. Ähnlich wie jetzt in Großbritannien war es auch beim heißen Herbst des Jahres 2005 in Frankreich ein Polizeieinsatz gewesen, der die Jugendkrawalle ausgelöst hatte. In der Pariser Vorstadt Clichy-sous-Bois, die zu den zahlreichen sozialen Brennpunkten am Rande der französischen Großstädte gehört, starben damals der 15-jährige Bouna Traoré und der 17-jährige Ziad Benna auf der Flucht vor der Polizei in einem Umspannwerk. Nacht für Nacht lieferten sich anschließend Jugendliche aus den Banlieues in ganz Frankreich Auseinandersetzungen mit der Polizei. Auf dem Höhepunkt der Gewaltwelle setzten randalierende Jugendliche in einer Nacht 1408 Autos in Brand. Der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy beschimpfte die jugendlichen Randalierer, von denen viele ihren familiären Ursprung in Nord- und Schwarzafrika hatten, als „Gesindel“ – und heizte die angespannte Stimmung damit noch an.

Seither hat sich in Frankreich am grundsätzlichen Problem, dass viele Jugendliche in den Banlieues ein Ghettodasein ohne Aussicht auf Beschäftigung fristen, nicht viel verändert. Im Jahr 2007 flammten die Jugendproteste erneut auf, nachdem zwei Jugendliche bei einem Zusammenstoß mit einem Polizeiauto im nördlichen Pariser Vorort Villiers-le-Bel gestorben waren. In Frankreich liegt die Quote der arbeitslosen Jugendlichen im Alter bis 25 Jahren bei knapp 23 Prozent, und es sind vor allem die jungen Menschen aus den in den Sechziger- und Siebzigerjahren hochgezogenen Banlieue-Vierteln, die auf dem Arbeitsmarkt die geringsten Chancen haben.

Rund 750 dieser „Zones urbaines sensibles“, also soziale Brennpunkte, gibt es in Frankreich, und dort liegt die Arbeitslosigkeit bei männlichen Jugendlichen im Durchschnitt um die 40 Prozent. Hinzu kommt, dass sich viele Jugendlichen aus Einwanderfamilien, die in den Vorstadt-Ghettos aufwachsen, von der Polizei schikaniert fühlen. Manchmal werden junge Männer nach einem Bagetelldelikt auf die Polizeiwache geschleppt, nur weil sie ihre Ausweispapiere nicht bei sich tragen. In Frankreich kann es auch deshalb schnell zu einer Eskalation zwischen Jugendlichen und der Staatsgewalt kommen, weil patrouillierende Beamte seltener als in der Vergangenheit mit den Alltagsproblemen in den Brennpunkten in Berührung kommen. Die unter dem sozialistischen Premierminister Lionel Jospin zwischen 1997 und 2002 eingeführte Nachbarschaftspolizei wurde anschließend vom konservativen Innenminister Sarkozy wieder abgeschafft.

Wie die Lage der Jugendlichen in Spanien ist, lesen Sie auf der nächsten Seite.

DIE JUGEND IN SPANIEN

In Spanien hat sich die Jugend im Protest organisiert: Im Mai demonstrierten die Ersten, zelteten auf den zentralen Plätzen des Landes. Und die Protestbewegung ist noch immer aktiv. Am vergangenen Dienstag hat die Polizei zwar das letzte Zeltlager auf dem Platz Puerta del Sol in Madrid geräumt und anschließend die Zugänge abgeriegelt. Doch schon am Samstag kehrten die jungen Leute zurück. Zwar ohne Zelte, aber mit neuer Kraft: Mehr als tausend Menschen waren es am Samstag, seitdem treffen sich dort jeden Nachmittag rund hundert Protestler.

Im Vergleich zu den Aufständischen in England repräsentieren die spanischen Demonstranten aber keine soziale Randgruppe, sondern die Mehrheit der Jugend. Es sind meist gut ausgebildete junge Menschen ohne Anstellung, die wegen fehlender Perspektiven auf die Straße gehen – jeder Fünfte erwerbsfähige Spanier ist derzeit ohne Job, die Jugendarbeitslosigkeit liegt sogar bei 45 Prozent. Die jungen Leute werfen den Politikern vor, nichts für sie zu tun und die Verantwortung für die Krise auf sie abzuwälzen – über höhere Steuern, gekürzte Arbeitnehmerrechte und mangelnde Jobaussichten.

Die spanischen Protestler sind im Gegensatz zu den Engländern friedlich. Trotzdem ging die Polizei bei den Räumungen in der vergangenen Woche brutal vor: 20 Menschen wurden verletzt, Fotos von blutüberströmten Demonstranten machten die Runde. Um sich bei den Protestlern, in Spanien nur Indignados – Entrüstete – genannt, für das Vorgehen der Sicherheitskräfte zu entschuldigen, erlaubte die Politik die Rückkehr auf den Platz – unter einer Bedingung: Es soll nicht mehr gecampt werden, nur einen Infostand geben.

Lesen Sie auf der nächsten Seite eine Einschätzung zur Situation in Deutschland.

DIE JUGEND IN DEUTSCHLAND

Auch in Deutschland kennt man den Anblick abgefackelter Autos, die vor allem in Berlin nachts von jungen Straftätern angezündet werden. Aber trotzdem scheint Deutschland eine Insel der Seligen zu sein, wenn man das Ausmaß der Jugendgewalt in anderen europäischen Gesellschaften zum Maßstab nimmt.

Das hat nach der Ansicht des Soziologen Carsten Keller unter anderem städtebauliche Gründe. Zwar gebe es auch in Städten wie Berlin, Frankfurt am Main, München, Stuttgart oder Hamburg Sozialsiedlungen an der Peripherie, doch sei dort die Ghettobildung nicht so ausgeprägt wie beispielsweise in Frankreich. Und auch in Ostdeutschland, wo in DDR-Zeiten systematisch Plattenbausiedlungen hochgezogen wurden, habe es zumindest bis zur Wende eine gesunde soziale Mischung gegeben, sagt Keller, der sich am Berliner Forschungszentrum „Centre Marc Bloch“ mit der Situation der Jugendlichen in Deutschland und Frankreich beschäftigt hat. Dass es in Deutschland keine regelmäßigen Gewaltexzesse von Jugendgangs gibt, hat nach seiner Einschätzung auch damit zu tun, dass die Polizei in den Bundesländern bemüht sei, Gewalt unter Jugendlichen gar nicht erst aufkommen zu lassen: „In Deutschland wird in der Sicherheitspolitik mehr Wert auf Prävention gelegt als in Frankreich.“

Auch die verhältnismäßig gute wirtschaftliche Lage in Deutschland trägt dazu bei, dass die größte Volkswirtschaft in der EU bislang von ähnlichen Krawallen wie in Großbritannien und Frankreich verschont wurde. Nach den Angaben der europäischen Statistikbehörde Eurostat waren im Juni hierzulande 9,1 Prozent der jungen Menschen unter 25 Jahre arbeitslos, während der Anteil im EU-Durchschnitt 20,5 Prozent betrug.

In der deutschen Hauptstadt kann sich die Berliner Sozial- und Integrationssenatorin Carol Bluhm (Linke) Krawalle nach britischem Muster nicht vorstellen: „Wir haben hier nicht eine solche soziale Spaltung wie in englischen Städten oder auch in den französischen Banlieues.“ Zwar gebe es auch in Berlin soziale Probleme; dennoch „wirken Integrationsmaßnahmen auf allen Ebenen“, sagt Bluhm. Ähnlich äußert sich Innensenator Ehrhart Körting (SPD). Die Situation in Berlin sei mit der in London derzeit nicht vergleichbar. „Auch wenn es hier zweifellos soziale Ungerechtigkeiten gibt, schafft es unsere Gesellschaft und unser sozialer Staat doch noch, die Leute aufzufangen und an der Gesellschaft teilhaben zu lassen“, sagt Körting. Wenn es jedoch zu großen polizeilichen Lagen, ähnlich den Ausschreitungen von London käme, wäre nach den Worten des Innensenators die deutsche und auch die Berliner Polizei auf solche Lagen vorbereitet. „Die Bundesrepublik verfügt über eine hohe Polizeidichte, und außerdem gilt das System der sich gegenseitig unterstützenden Bereitschaftspolizeien der Länder und des Bundes, so dass bei Vorfällen dieser Art in Deutschland in kurzer Zeit Unterstützung von anderen Bundesländern und der Bundespolizei bereit stehen würde“, ist sich Körting sicher.

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