- „Viele verspürten Wut“
Wladimir Putin macht einen Fehler nach dem anderen – es ist nur noch eine Frage der Zeit, wie lange er sich an der Macht halten kann, prophezeit der populärste Autor Russlands, Boris Akunin, im Interview mit CICERO
Herr Akunin, sehen wir gerade das Ende der Epoche
Putin?
Zweifellos. Wie lange sie noch andauern wird – einige Monate oder
Jahre – wird in erster Linie von Wladimir Putin selbst abhängen.
Momentan begeht er einen Fehler nach dem anderen und verschärft
damit die Konfrontationsstimmungen in der Gesellschaft.
Woher rührt diese plötzliche
Proteststimmung?
„Plötzlich“ kommt sie überhaupt nicht. Die russische Gesellschaft
hat sich so weit entwickelt, dass es nicht mehr möglich ist,
mithilfe von „Putin-Methoden“ zu regieren. Putin war darauf nicht
vorbereitet, deshalb kam es zum Konflikt. Zwischen den beiden
Großdemonstrationen am 10. und 24. Dezember hatte Putin die Chance,
die Situation auszubügeln: Er hätte sich von den Wahlfälschungen
distanzieren müssen. Aber er hat die Chance nicht genutzt, weil er
die Lage falsch einschätzte. Deshalb hat die Wut der Menschen
gerade ihn getroffen.
Im September vergangenen Jahres machten Putin und Dmitri
Medwedew ihren schon lange verabredeten „Rollentausch“ öffentlich:
Putin soll wieder Präsident werden, Medwedew Premierminister.
Hätten die Proteste diese Größenordnung, wenn Medwedew und nicht
Putin für das Präsidentenamt kandidiert hätte?
Diese zynische Machtübergabe von Medwedew an Putin war natürlich
der Startpunkt der Unzufriedenheit. Ich bin überzeugt: Wenn
Medwedew wieder Präsident geworden wäre, hätte es diese Explosion
nicht gegeben. Nicht weil Medwedew populärer als Putin wäre,
sondern weil die Mittelschicht das Gefühl gehabt hätte, dass sich
irgendetwas bewegt, wenn auch langsam. Aber die Rückkehr Putins an
die Macht, vielleicht sogar auf Lebenszeit, hat sehr viele
erschreckt.
Niemand will zum Gestern zurück. Deshalb entstand zuerst
eine Massenbewegung, die man „Nichts wie weg“ nennen könnte: Die
Menschen spielten mit dem Gedanken, Russland zu verlassen. Aber
dann verspürten viele plötzlich Wut und fragten sich: Warum zum
Teufel sollen wir das eigene Land verlassen? Wäre es nicht
einfacher, Putin los zu werden?
Welche Rolle spielt der ehemalige Hoffnungsträger Medwedew
noch?
Medwedew ist heute eine politische Leiche. Er interessiert
niemanden mehr. Irgendwie ist er ja noch der amtierende Präsident,
aber er wird überhaupt nicht mehr beachtet. Man macht sich
höchstens noch lustig über ihn. Das geschieht ihm auch recht: Noch
nie in der Geschichte Russlands stand eine derart jämmerliche Figur
an der Spitze des Landes.
Der Journalist Leonid Parfjonow, der zu den Anführern
der Proteste gehört, hat diese als „Proteste der Satten“
bezeichnet. Steht hinter den Demonstrationen tatsächlich eine neue,
selbstbewusste Mittelschicht?
Ja, das ist die normale Evolution der Mittelschicht: Nach einem
Stadium der „primären Sättigung“ folgt das Stadium der
„Selbstachtung“.
Wie bedeutend ist diese „Mittelschicht“ in
Russland?
Die Definition der russischen „Mittelschicht“ unterscheidet sich
von der westlichen. Wer zur Mittelschicht gehört, hat nicht nur ein
bestimmtes Einkommen, sondern ist selbstständig und insbesondere
unabhängig von den staatlichen Futternäpfen. Der Beamte eines
Bürgermeisteramts etwa, der von der Korruption lebt, gehört nicht
zu dieser Bevölkerungskategorie. Die Mittelschicht besteht aus
Menschen, die auf ehrliche Weise so viel Geld verdienen, dass es
ihrer Familie an nichts mangelt. Nach unterschiedlichen Schätzungen
sind das im heutigen Russland zwischen 25 und 40 Prozent. In Moskau
gehört die Mehrheit der Bevölkerung zur Mittelschicht.
Und wie verhält sich der Rest der
Bevölkerung?
Die Provinz schläft bisher. Dort ist nicht nur das Lebensniveau
niedriger, sondern die Menschen werden von den regionalen
Machthabern stärker unterdrückt. Aber alle blicken nach Moskau, und
bald wird sich auch in der Provinz etwas bewegen.
Immer wieder hat man in den vergangenen Jahren von
russischen, aber auch von westlichen Experten gehört, die Russen
seien an eine „paternalistische“ Regierungsweise gewöhnt, es fehle
an Erfahrung mit Demokratie, und die Entwicklung zu einer wahren
Demokratie brauche sehr viel Zeit. Ist die Gesellschaft 20 Jahre
nach dem Ende der Sowjetunion nun doch bereit für eine echte
Demokratie mit echten Parteien, echten Politikern und echten
Konflikten?
Ich denke, die Gesellschaft ist bereit. Oder sagen wir: Sie will es
auf jeden Fall versuchen. Ich bin überzeugt, dass Russland sich zu
einer parlamentarischen Republik entwickeln kann.
Gibt es nicht die Gefahr, dass auch nach einem
Regimewechsel jemand die Macht usurpiert und es zu einer Oligarchie
wie Ende der neunziger Jahre kommt?
Zweifellos existiert diese Gefahr. Man kann sich alle möglichen
Gefahren vorstellen. Aber wie hat der Dichter Dmitri Bykow auf der
Demonstration am 24. Dezember so treffend gesagt: „Einen
Neugeborenen erwartet ein Leben mit allerlei Gefahren und
Unglücken. Aber er ist geboren, und wieder zurückschieben kann man
ihn nicht.“
Bisher reagiert das Regime auf die Proteste ziemlich
passiv. Gibt es unter den Demonstranten die Befürchtung, dass der
Kreml irgendwann die Nerven verliert?
Es ist zu erwarten, dass das Regime die Nerven verliert. Es wird
wohl irgendwelche ungeschickten Provokationen und halbherzige
Repressionen geben. Aber diese werden die entgegengesetzte Wirkung
haben: Die Bewegung gegen Putin wird größer werden. Zu einem wie
auch immer gearteten „Großen Terror“ ist dieses durch und durch
korrumpierte Regime jedoch nicht fähig.
In der benachbarten Ukraine folgten auf die „Orangene
Revolution“ einige Jahre, die von politischem Chaos bestimmt waren.
Danach kehrte das Land zu einem autoritären System zurück. Fürchten
die Russen nach einem Machtwechsel eine ähnliche Entwicklung in
ihrem Land?
Diese Etappe, als plötzlich so viel Freiheit in der Luft lag, dass
die Menschen sich vergifteten und sie wieder Sehnsucht nach einer
„harten Hand“ bekamen, haben wir schon durchlebt, und zwar in den
neunziger Jahren. Nun kann es keine Rückkehr zum Autoritarismus
mehr geben. Die Politik wird insbesondere jene Mittelschicht, die
sehr demokratisch gestimmt ist, bestimmen und nicht Geheimdienstler
oder Oligarchen.
Während seiner Präsidentschaft hat Putin seine
sogenannte Machtvertikale errichtet, bestehend aus ihm treu
ergebenen Bürokraten und den „Silowiki“ – Angehörigen der
Geheimdienste und der Armee. Wird es nach einem Machtwechsel
möglich sein, das Land zu regieren, ohne dieses System zuvor zu
zerstören?
Natürlich wird es nötig sein, dieses System vollständig zu
demontieren. Sonst kann nichts Gutes dabei herauskommen.
Aber die Silowiki und andere Gruppen, die bisher
aufgrund des Systems sichere Dividenden erhielten, werden doch
zweifellos gegen eine Auflösung dieses Systems
kämpfen?
Natürlich werden sie das. Aber wen kümmert’s? Sie sind von der
Korruption fett geworden, ihre Muskeln sind verkümmert. Gegen eine
breite öffentliche Bewegung sind sie machtlos.
Auf der jüngsten Großdemonstration haben Sie
vorgeschlagen, der Protestbewegung den Namen „Ehrliches Russland“
zu geben. Warum „ehrlich“?
Weil die Forderung nach Ehrlichkeit alle Gruppen vereint, die zur
Bewegung gehören. Die Menschen haben ganz unterschiedliche Ziele
und Überzeugungen, aber alle haben genug von Korruption und
Lügen.
Auf derselben Demonstration trat völlig überraschend
auch Alexei Kudrin auf, bis vor wenigen Monaten Finanzminister,
Vizepremier und einer der engsten Weggefährten Putins. Betrachten
Sie das als Zeichen dafür, dass Putins Machtvertikale Risse
bekommt?
Putins Umgebung beurteilt die Lage weitaus nüchterner als er
selbst. Diese Menschen versuchen das Regime zu retten, indem sie
kleine Zugeständnisse machen. Prinzipiell ist eine solche
Entwicklung auch nicht auszuschließen, allerdings nur, wenn es
nicht kleine, sondern bedeutende Zugeständnisse sein werden. Je
mehr Zeit vergeht, desto höher wird der Preis eines möglichen
Kompromisses.
Nach Beginn der Proteste hat der Oligarch Michail
Prochorow erklärt, bei den Präsidentschaftswahlen gegen Putin
anzutreten. Viele Russen halten ihn für ein Projekt des Kremls, um
die Proteststimmungen „aufzufangen“. Oder ist Prochorow doch ein
ernst zu nehmender Kandidat?
Mir scheint, dass Prochorow keine unabhängige Figur ist. Zumindest
zum jetzigen Zeitpunkt. Allerdings schließe ich nicht aus, dass er
verstehen könnte, in welche Richtung der Wind weht, und dann
versuchen wird, sich aus der Bevormundung durch den Kreml zu
befreien.
Fürchtet Prochorow nicht, dass Putin mit ihm ebenso
umspringen wird wie mit Michail Chodorkowski?
Wenn er Angst hat, hat er in der russischen Politik nichts zu
suchen. Hier kann mit jedem alles Mögliche passieren.
Auch mit Ihnen? Haben Sie Angst um Ihre persönliche
Sicherheit?
Ein Schriftsteller ist so eine Art Thermometer. Man kann natürlich
das Thermometer zerschlagen, aber davon sinkt die Temperatur nicht,
man wird nicht plötzlich gesund. Klar, man wird sicher mal wieder
eines meiner Bücher auf „Extremismus“ überprüfen (das gab es schon
dreimal), sie können auch meinen Blog oder meine E-Mail-Adresse
hacken oder mir mal wieder das Finanzamt auf den Hals hetzen, um
mein Einkommen und meine Steuern zu überprüfen. Aber um ehrlich zu
sein – das ist doch alles Unfug.
Die Oligarchen des Landes fürchten Putin – spätestens
seit der Verhaftung Chodorkowskis. Hat sich das seit Beginn der
Proteste geändert?
Das kann ich nicht beurteilen. Ich habe in diesen Kreisen keine
Freunde, nicht einmal Bekannte.
Aber auch wenn Sie selbst niemanden von ihnen kennen:
Eine politische Kraft, die einen Machtwechsel anstrebt, muss doch
wohl mit den Oligarchen rechnen – sie haben nicht nur sehr viel
Geld, sondern verfügen auch über Medien und Verbindungen auf allen
Ebenen der Macht.
Ich denke, dass es die Oligarchen sein werden, die mit dieser
politischen Kraft rechnen werden müssen. Sie verstehen das sehr
gut. Als wir für die Großdemonstration Geld sammeln mussten, kamen
von allen Seiten Vorschläge: Ich geb euch so viel, wie ihr wollt,
aber sagt nicht, dass das Geld von mir kommt. Das
Organisationskomitee hat allen geantwortet: „Danke schön, aber das
brauchen wir nicht. Die Moskauer können das Geld auch selber
sammeln.“ Wir haben das geschafft, und zwar in vier Tagen.
Anfang Januar haben Sie ein großes Interview mit dem
Blogger und Antikorruptionskämpfer Alexey Navalny geführt, das in
der russischen Öffentlichkeit für große Aufmerksamkeit gesorgt hat.
Sie nennen ihn dort den „einzigen aktuellen Politiker Russlands“.
Ist Navalny die Führungsfigur der russischen
Opposition?
Er ist sicher nicht die einzige, aber eine der Führungsfiguren. Ich
bin jedoch überzeugt, dass mit der Ausweitung und der Organisation
der Protestbewegung andere, junge, auch bisher völlig unbekannte
Führungsfiguren auftauchen werden.
Welche Rolle spielen denn die „altgedienten“
Oppositionsführer, von denen wir in den vergangenen Jahren immer
wieder gehört haben: Leute wie Wladimir Ryschkow, Eduard Limonow,
Garri Kasparow, Boris Nemzow?
Ich kann nicht sagen, dass sie eine wichtige Rolle spielen. Die
Menschen, die jetzt protestieren, wollen neue Gesichter und neue
Namen. Wenn die Bewegung mit der Zeit politischer wird, könnte es
allerdings sein, dass die erfahrenen Oppositionellen wieder mehr
gebraucht werden.
Es gab in den vergangenen Wochen Umfragen, in denen
neben Alexey Navalny Sie und Leonid Parfjonow die höchsten
Vertrauenswerte bekamen. Welche Rolle spielt die russische
„Intelligenzija“ für die Proteste? Liefert sie nur den
theoretischen Unterbau, oder könnte der nächste Präsident ein
russischer Václav Havel sein?
Auf der ersten Etappe einer Volksbewegung stehen immer Menschen
ganz vorne, die sich einen Namen gemacht haben, aber politisch
„unbefleckt“ sind – ganz einfach weil man sie kennt. Aber von
Schriftstellern wie mir oder Dmitri Bykow, von Sängern wie Juri
Schewtschuk oder Journalisten wie Parfjonow sollte man nicht zu
viel erwarten. Persönlichkeiten wie Havel gibt es unter uns nicht.
Václav Havel war ja in erster Linie ein Menschenrechtler, während
wir alle einfach nur in unserem Beruf erfolgreich sind, nicht mehr
und nicht weniger. Sehr bald, wenn wir unsere Aufgabe erledigt
haben, werden wir uns wieder zurückziehen, und jeder von uns wird
mit Vergnügen wieder zu seiner beruflichen Aufgabe zurückkehren.
Und an die Spitze der Bewegung werden gewöhnliche, motivierte
Politiker treten.
Das Gespräch führte Moritz Gartmann
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