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(picture alliance) Braucht die wunderbare Erzählung des Lebens einen Erzähler, einen Gott?

Glaube, Staat, Gesellschaft - Unser Land braucht Religion

Religiöse als „Religioten“ zu verspotten ist ein haltloses Vorurteil, heißt ein gottgefälliges Leben zu führen doch, vernünftig zu denken und dem Gewissen gemäß zu handeln. Ein Plädoyer

Religionen sind das Gedächtnis der Menschheit, Schulen der Demut, Räume der Selbstvergewisserung, sind Wissensspeicher und Trostmaschine zugleich. Sie reißen das Individuum heraus aus den Bedingungen der Gegenwart, die es mal nach dieser, mal nach jener Pfeife tanzen lassen will. Sie machen Monaden zu Menschen, machen die berühmten „kohlenstoffbasierten Entitäten“ zu Personen, denn Religion gibt es nie nur für mich. Sie ist das Band, das für Spannkraft sorgt in senkrechter wie waagerechter Richtung. Wer glaubt, steht in der langen Reihe derer, die vor ihm waren und die neben ihm sind – und hat Tuchfühlung mit dem, was kommen wird, dem, was er erhofft am Ende seiner Tage.

Es ist modisch geworden in unseren Breitengraden, den Religiösen als einen „Religioten“ zu verspotten. Wer noch glaube, der denke nicht und sei also ein Idiot. Dieses auf Auguste Comte zurückgehende Vorurteil erinnert an den Geisterfahrer, der sich auf der richtigen Spur wähnt und alle anderen für Geisterfahrer hält. Die große Mehrheit nämlich der Weltbevölkerung ist gläubig – aus guten Gründen. Den allermeisten Menschen ist es unmittelbar einsichtig, dass das Universum eine Schöpfung ist und dass es einen Schöpfer geben muss. Dass diese ganze wunderbare Erzählung namens Leben einen Erzähler braucht, einen Gott. Ebenso mehrheitsfähig ist die Auffassung, dass in den heiligen Schriften alles Wesentliche über den Homo sapiens ausgesagt ist. Dort und nicht bei den „Vollstreckern des Zeitgeists“ (Feridun Zaimoglu) mit ihrer Jenseitsphobie wird der Sinnsucher Zuflucht finden. Man lese zum Vergleich die furchtbar bitteren, lichtlosen, in sich gekrümmten Philippiken, die der Neoatheismus hervorbringt. Die Freude wohnt dort nicht und nicht die Hoffnung und der Trost. Was aber bräuchten wir dringender denn diese drei?

Die heiligen Schriften enthalten die farbigsten Erzählungen vom Los des Menschen überhaupt. Grau und traurig wäre die Welt ohne Eschu, den Narrengott Nigerias, ohne den hinduistischen Elefantengott Ganesha, der Süßigkeiten mag, Hindernisse aus dem Weg räumt und die Gelehrsamkeit verkörpert, ohne die Veden und die Upanishaden und das Rad des Lebens, ohne Altes und Neues Testament, ohne den Talmud und die Hadithe. Immer ist der Mensch in diesen Erzählungen ein unvollkommenes, vielfach angefochtenes Wesen, das der Barmherzigkeit bedarf und das sich eines Tages für seine Taten wird rechtfertigen müssen. Religionen haben im Gegensatz zum Aberglauben und zum Fundamentalismus der Atheisten einen realistischen Blick. Sie wissen, dass im Menschen unfassbar Großes wohnt – und dass diese Größe jederzeit zuschanden gehen kann.

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Darum sind Religionen der beste Schutz vor der Selbstüberhebung des gegenwärtigen Menschen, wie sie die Spätmoderne kennzeichnet. Bekanntlich glaubt, wer an nichts glaubt, nicht nichts, sondern alles Mögliche. Das berühmte Wort Gilbert Keith Chestertons entfaltet heute seine volle Wahrheit. Alles Mögliche bedeutet 2012 ff.: den Irrglauben an die Ökonomisierbarkeit aller Lebensbezüge, die Ausrufung des Ichs zum unumschränkten Herrscher, dessen Willen sich die Welt zu fügen habe, den Trugschluss, die Zukunft sei komplett berechenbar, das ganze Leben ein einziges Projekt, der Staat ein Agent des Glücks und jede Beziehung von Mensch zu Mensch ein interessenpolitisches Kräftemessen. Der gläubige Mensch wird immer eine innere Reserve haben gegenüber allen diesseitigen Heilsversprechungen. Er weiß: Alle Politik, alle Wirtschaft, alle Staatlichkeit behandelt nur vorletzte Dinge.

Gewiss, Religionen können erkranken. Der militante Islam und der militante Hinduismus, diese durch und durch modernen Erscheinungen, sind faule Früchte am Baum der Religion. Papst Benedikt XVI wird deshalb nicht müde, vor einem Abdriften der Religion ins Irrationale zu warnen. Wenn Gott den Menschen mit Vernunft begabt und mit einem Gewissen ausgestattet hat, dann bedeutet ein gottgefälliges Leben genau das: vernünftig zu denken und gemäß dem Gewissen, dem „hörenden Herzen“, zu handeln.

Von „Menschen mit jenseitigen Idealen“, so abermals Chesterton, geht „in der Tat eine Fanatismusgefahr“ aus – „von Menschen mit diesseitigen Idealen hingegen die ununterbrochene und nie nachlassende Fanatismusgefahr“. Wir sehen den Fanatismus der „Glaubensfeinde“, folgen wir noch einmal Zaimoglu, am „giftgeifernden Wort“, an „der Unterstellung, der bloßen Behauptung, der Selbstbesoffenheit. Die heutigen Akteure der Religionskritik sind Profilneurotiker. Sie wollen abschaffen, verfolgen, zerstören, verunglimpfen, zensieren.“ Natürlich sind die Gläubigen dieser Erde vor dieser wie vor jeder Versuchung ebenso wenig gefeit. Sie aber wissen, dass sie darauf nicht stolz sein dürfen, ja, dass sie fehlen. Sie wissen, was Hugo Ball an Heiligabend 1918 niederschrieb: „Es gibt keinen Gott außer in der Freiheit, wie es keine Freiheit gibt außer in Gott.“

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