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Tugendwächter in Damaskus - Mit Liebe gegen die ISIS-Mentalität

In Syrien stellt eine Internetseite Paare, die öffentlich ihre Zuneigung zeigen, an den Pranger. Während selbsternannte Tugendwächter die Offenheit bekämpfen, bricht sich eine neue sexuelle Freizügigkeit Bahn

Autoreninfo

Riham Alkousaa ist eine syrisch-palästinensische Journalistin. 

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Es sieht aus wie in einer mexikanischen Seifenoper: Ein sonniger Wintertag wird durch den Kuss eines Liebespaares noch um ein paar Grad wärmer. Obwohl es scheint, als hätten die beiden einen geschützten Platz in einem der öffentlichen Parks in Damaskus aufgesucht, wurden sie heimlich fotografiert. Ein Bild, das nicht nur bei Facebook die Gemüter erregt.

Die Seite, die solche Fotos veröffentlicht, heißt „Akhbar Al Hawen Bi Dimashq“ (Nachrichten von Mörsergranaten in Damaskus). 2014 von Aktivisten gegründet, diente sie ursprünglich als Informationsplattform, um Syrer davor zu warnen, wo die Bomben in der Stadt einschlagen werden. Der Seite folgten bald 230.000 Menschen. Doch sie hat sich von einer Bürger-Journalismus-Nachrichtenplattform zu einem Portal für selbsternannte Tugendwächter – einer Art Sittenpolizei gewandelt, zur Wahrung der „Keuschheit“ und der „guten Sitten“. Die Seite fordert gezielt Jugendliche auf, junge Paare anzuprangern, die es wagen, ihre Liebe auf den Straßen, Parks und öffentlichen Plätzen zu zeigen.

Die Jagd nach lüsternen Paaren

„Diejenigen, die es wagen, Liebe zu machen, sich zu küssen, Händchen zu halten oder sich auf der Straße zu umarmen, verdienen es, dass von ihnen Bilder gemacht werden, um sie öffentlich zu diffamieren“, schreiben die Initiatoren. Die Identität des Administrators ist genauso anonym wie jene der Betreiber der Facebook-Seite. In seinen Kommentaren gibt er sich als junger, spontaner, aber unerbittlicher Mann. Er erklärt, dass er eine Pause machen werde. Kündigt aber an, dass er seinen Kampf gegen diejenigen, die „sich nicht scheuen, Nähe in der Öffentlichkeit zu zeigen“, weiterführen werde, sollte er weiterhin solche Szenen sehen. Gleichzeitig wird auf der Seite betont, dass es nicht darum gehe, Personen zu schaden, sondern solche Verhaltensweisen zu bekämpfen. Die Gesichter der Paare würden unkenntlich gemacht. Niemand solle auf diesen Fotos die „Täter“ identifizieren können. Liebesstraftäter.
Einige Kommentatoren ermutigen den Administrator der Seite, die Kampagne weiterzuführen. Andere beteiligten sich an der Jagd, posten Fotos von jungen Paaren, die sich vermeintlich „lüstern“ auf den Straßen von Damaskus begegnen.

Die meisten User lehnen die Kampagne ab

Die neue Freizügigkeit sei eines von vielen sozialen Dilemmas, die sechs Jahre Krieg erzeugten, kommentieren andere Nutzer. Auf der anderen Seite verurteilen Hunderte Syrer unter dem gleichen Hashtag „Kamashtak“ die Kampagne. Niemand habe das Recht, Fotos von Passanten zu machen. „Wir brauchen Liebe und keine ISIS-Mentalität“, sagen die Gegner. Armut, Obdachlosigkeit, Korruption und das tägliche Leid seien das Problem und nicht die jungen Paare, die versuchen, die wenigen glücklichen Momente in diesem Krieg zu genießen. Ein Mann verspottet die Kampagne: Er werde mit seiner Freundin in einen öffentlichen Park gehen und Selfies machen. Die meisten Kommentare und Posts lehnen den Eingriff ins Privatleben der Menschen ab.
Die Kampagne wirkt wie die syrische Version der saudi-arabischen Initiative „Förderung der Tugend und Bekämpfung des Lasters“. Eine Art Saudi-Style-Polizei nach wahhabitischem Muster. Als gäbe es in Syrien nicht schon genügend solcher „Scharia-Gremien“, die dieser Krieg hervorgebracht habe, kommentiert ein syrischer Journalist in einem Artikel in der libanesischen Zeitung  „Al Safir“. Besonders häufig herrschen diese in syrischen Städten, die mit dem Assad-Regime gebrochen haben. Das ist kaum verwunderlich: Ein beträchtlicher Teil der logistischen und finanziellen Unterstützung vieler Anti-Regime-Truppen kommt aus dem Königreich Saudi-Arabien. Inklusive der streng islamischen Mentalität.

Ein neuer Umgang mit Sexualität

Trotz restriktiver Einschüchterungsversuche entwickelt sich Stück für Stück ein neuer Umgang mit Sexualität. Während des letzten Ramadan wurde dieses Thema zum ersten Mal offen debattiert. Durch eine geförderte syrische Industrie: TV-Dramen. Sie spiegeln die neue Freizügigkeit wider. Gerade syrische TV-Serien, die Sexualität thematisieren, fluten den arabischen Markt. Das TV-Drama „Sarkhat Rouh“ (übersetzt „Schrei der Seele“), das außerehelichen Sex diskutiert, wurde im jordanischen Fernsehen sogar verboten. Der Grund: Es fördere „verbotene sexuelle Beziehungen“.
Manche Kommentatoren führen die neue sexuelle Freizügigkeit sogar direkt auf den Krieg zurück. Der tägliche Kampf erschüttert die syrische Gesellschaft letztlich genauso in ihrem sozialen Gefüge, wie er sie wirtschaftlich, politisch und kulturell verändert. Das Über- und Widerstehen solcher Sittenkampagnen könnte letztlich helfen, den Wandel voranzubringen. Gerade die jüngere westliche Geschichte hat gezeigt, dass gesellschaftliche Veränderungen immer auch im Angesicht von Krisen stattfinden.

Liebe ist wie Haschisch und Opium

Vielleicht ist es zu früh, um eine Debatte über den sozialen Wiederaufbau in der Nachkriegsphase in Syrien zu beginnen. Noch gibt es ein Nebeneinander von Freizügigkeit und Radikalisierung.
Solange bleibt es jenen, die sich dafür entschieden haben, ihre Liebe öffentlich zu zeigen, vorbehalten, sich auf den „lüsternen“ Fotos auf Facebook zu erkennen. Was als „außergewöhnliche“ Szene in den Gärten von Damaskus begann, könnte zum gewohnten Bild des täglichen Lebens einer Stadt werden, in der „Liebe ist wie Haschisch und Opium, wo jene, die zu lieben wagen, als verrückt klassifiziert werden“, wie es der Dichter Nizar Qabbani bereits vor Jahrzehnten beschrieb.

 

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