Demonstation gegen das Freihandelsabkommen in Hannover 2016. Bild: picture alliance

Europäer und Angelsachsen - Fremdeln unter Freunden

Was Brexit und TTIP gemeinsam haben, warum der Austritt der Briten aus der EU nicht kommen darf und das Freihandelsabkommen mit den USA klappen muss

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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Im Laufe der nächsten Wochen und Monate werden zwei Ereignisse über den Zusammenhalt beziehungsweise das Auseinanderdriften des Westens entscheiden. Einerseits das britische Referendum am 23. Juni über den Verbleib oder den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Seit mehr als zehn Jahren wurde diese Abstimmung der Bevölkerung immer wieder versprochen und dann wieder aufgeschoben. Der Ausgang ist absolut ungewiss.

Andererseits das transatlantische Handelsabkommen TTIP. Seit drei Jahren wird hinter verschlossenen Türen zwischen der EU und den Vereinigten Staaten verhandelt. Auch dieser Ausgang ist absolut ungewiss. Aber eines stimmt sicher: Entweder es klappt auf den letzten Metern der Obama-Regierung. Oder es klappt für lange Zeit erst einmal nicht mehr.

TTIP und Brexit haben den gleichen Wesenskern
 

Beide Ereignisse – TTIP und der Brexit – haben den gleichen Wesenskern. Es ist das Ringen der westlichen Welt mit sich selbst, das Ringen um das rechte Maß der Grundwerte zueinander, die diese westliche Welt konstituiert. Diese Grundwerte sind ein verbindendes Element seit der Magna Charta in England von 1215. Sie sind gereift mit der Bill of Rights in ihrer englischen und amerikanischen Spielart, mit der Boston Tea Party, der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, der Erklärung der Menschenrechte, der Aufklärung und mit der damit einhergehenden Säkularisierung. 

Der Westen wurzelt in diesen Werten, wie sie die französische Revolution benannt hat. Und er ringt mit sich seither vor allem darüber, wie die Freiheit des Einzelnen und das Gemeinwohl in Einklang zu bringen sind, beziehungsweise im richtigen Verhältnis zueinander stehen. Also liberté auf der einen Seite, égalité und fraternité auf der anderen. Wie sich also Individualismus und Kollektivismus zueinander verhalten.

Großbritannien und die USA setzen auf Freiheit
 

Seit jeher betonen dabei Briten und Amerikaner das Freiheitsmotiv mehr. Dass es dieses besondere angelsächsische Band gibt, erklärt sich aus der Geschichte. Auf dem europäischen Kontinent ist man leicht versucht, auf dieses Primat der (unternehmerischen) Freiheit etwas allergisch zu reagieren. So wie die Briten (in Sachen Europa) und die Amerikaner (in Sachen TTIP) auf das, was sie eine kontinentaleuropäische Regulierungswut nennen, die unnötige Barrieren aufbaue. Der Umstand, dass eine Krankenversicherung in Europa seit Jahrzehnten eine Selbstverständlichkeit ist und in den USA erst jetzt (rudimentär) gegen erbitterten Widerstand von Barack Obama durchgesetzt wurde, macht es bis heute plastisch.  

Das hört sich mühsam an. Ist es auch. Aber aus diesem konstruktiven Spannungsfeld zwischen Angelsachsen und Kontinentaleuropa hat der Westen jahrzehntelang seine Kraft gezogen. Es war hier wie da immer gut, wenn die einen den anderen mal den Spiegel vorgehalten haben. Und es gab auch überraschende Volten, unerwartete Vorstöße aus dem einen wie dem anderen Lager, die dazu geführt haben, dass diese Beziehung immer lebhaft geblieben ist. Es war ein Brite, und nicht irgendeiner, sondern Winston Churchill, der 1949 in Zürich zum ersten Mal das Ziel der „Vereinigten Staaten von Europa“ benannt hat. Eine solche Rede traute sich heute nicht einmal mehr ein Martin Schulz.       

Die Auswüchse der Brüsseler Regulierungswut
 

Und eben zu jenem gemeinsamen Geist müssen die USA und Europa zurückfinden. Beim Brexit und bei TTIP. Es ist am Ende gut für Europa, wenn die Briten in ihrer unnachahmlich kühlen Art auf die Auswüchse Brüsseler Regulierungswut hinweisen. Ja, sie nerven uns jetzt oft, aber wären sie raus, wir würden sie sehr vermissen (nicht so sehr all ihre Vergünstigungen). Und es ist im Sinne Europas und der USA, ein Abkommen zu ratifizieren, das beide Seiten des Atlantiks ökonomisch stärker macht.

Bisher haben die USA, ihr europäischer Brückenkopf Großbritannien und der europäische Kontinent bei allem harten Streit – auch nach schwimmenden Teekisten in einem Hafen der US-Ostküste – immer wieder zueinander gefunden. Sie haben erkannt, dass sie eine Werte- und Interessensgemeinschaft bilden. Die Hoffnung ist erlaubt, dass das auch bei Brexit und TTIP der Fall sein wird.

Ein Austritt Großbritanniens aus der EU und ein Scheitern von TTIP ginge an die Grundfesten des Westens. Der große Historiker Heinrich August Winkler könnte beginnen, das dann wirklich letzte Kapitel der „Geschichte des Westens“ zu schreiben.   

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