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Martin Haake

Transhumanismus - Der Mensch als Maschine

Dave Eggers warnt in seinem Roman „The Circle“ vor der Machtübernahme der Netzgiganten. Google versucht derweil künstliche Intelligenz zu erschaffen

Autoreninfo

Oliver Prien ist Biologe, Wissenschaftsjournalist und Inhaber des Ousia-Lesekreis Verlages.

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Dr. Caster hat eine Vision: „Stellen Sie sich eine Maschine mit der kompletten Bandbreite menschlicher Emotionen vor. Ihre analytische Kraft wäre größer als die gebündelte Intelligenz aller Menschen seit Anbeginn der Zeit. Einige Wissenschaftler nennen sie die Singularität.“ Dr. Caster gibt es nicht. Er wird dargestellt von Johnny Depp und ist ein Held der Wissenschaft im Hollywood-Spektakel „Transcendence“.

Die Vorlage aber für die Filmrolle könnte Raymond Kurzweil sein. Der „Director of Engineering“ bei Google ist einerseits ein herausragender Kopf in der Erforschung künstlicher Intelligenz, andererseits aber Prophet eines grimmigen Transhumanismus. 2029 ist die Zahl, mit der er gerade Aufsehen erregt. Computer, prognostiziert Kurzweil, werden in 15 Jahren alles können, was Menschen vermögen – nur besser.

Globale Unternehmen wie Google verfügen über Forschungsetats mittlerer Industrienationen und können ihre Forschungsgelder konzentriert und strategisch verwenden. Der Multimilliardenkonzern denkt in globalen Dimensionen. Die gigantische Datenmenge, über die er gebietet, ist sein größtes Kapital. Mit seinen Rohdaten über die Welt will Google die Welt verändern. Zum Besseren, versteht sich. Der Chef Larry Page und die Seinen wollen die Demokratisierung der Welt vorantreiben, den Tod besiegen, die Fähigkeiten des menschlichen Körpers erweitern und den Geist vom Körper befreien. Sagen sie.

Das Kerngeschäft der grenzenlosen Datensammlung wird konsequent fortgeführt. Ein abenteuerlich anmutendes Projekt wie „Loon“ soll mithilfe von Gasballons und solarbetriebenen Drohnen, die in der Stratosphäre treiben, die bisher weißen Flecken des Planeten mit der Google-Suche versorgen. Das strategische Ziel ist klar: Je größer die Menge an Daten, desto größer ist ihr Potenzial für neue Produkte im Weltmaßstab – im Google-internen Sprachgebrauch Google Scale genannt. Die ebenfalls irrwitzig anmutende Idee des Internetriesen, sich mit einer eigens gegründeten Unternehmenstochter Calico der Verlängerung des Lebens zu widmen, hat ebenfalls einen informationstheoretischen Hintergrund. Die Geheimnisse der Welt sollen sich aus dieser allesamt herausrechnen lassen, sofern die verfügbare Datenbasis nur groß genug ist.

Öffentlichen Einrichtungen fehlen die Mittel
 

Im Zentrum steht die Jagd nach dem heiligen Gral der Computerwissenschaft: der künstlichen Intelligenz. Sie wird von Google in bisher ungekanntem Maßstab betrieben. Wie für die anderen Projekte auch werden hierfür nicht nur Mittel, sondern auch Köpfe von Weltrang bereitgestellt. So sagte jüngst Peter Norvig, der Forschungsvorstand, sein Unternehmen beschäftige zwar „weniger als 50, aber sicher mehr als 5 Prozent“ der weltweit führenden Experten auf dem Gebiet des maschinellen Lernens.

Öffentliche Einrichtungen können Kreativen bei Weitem nicht die Bedingungen schaffen, wie es eine Google Inc. vermag. Geoffrey Hinton, auch er eine Koryphäe, arbeitet für Google. Er ist Pionier und Vorreiter des deep learning, bei dem es um Algorithmen zur selbsttätigen Abstraktionsfähigkeit geht – das automatische Lernen an unstrukturierten Daten. Selbst ein unabhängiger Geist wie Ray Kurzweil, quasi der Inbegriff aller Forschung zur künstlichen Intelligenz, heuerte zum ersten Mal in seinem Leben als Angestellter an. Er soll die Maschine Google in die Lage versetzen, den Sinn von Texten zu verstehen und damit schließlich, wie es aus Dr. Casters Munde heißt, „die gebündelte Intelligenz aller Menschen seit Anbeginn der Zeit“ zu erfassen.

Nicht nur die materiellen Verlockungen binden Kurzweil an Google. Vielleicht hat er sogar auf Google gewartet. Die Zukunft war schon immer der Rohstoff seines Arbeitens. Nach eigenem Bekunden versuchte er stets, seine Erfindungen nicht im luftleeren Raum zu erschaffen, sondern das zu erfinden, wofür die Zeit reif war. 1999 wurde ihm dafür die „National Medal of Technology“ vom damaligen US-Präsidenten Bill Clinton verliehen. Mit seinen Prognosen für die technologische Entwicklung der Zukunft erregte Kurzweil nicht nur mediales Aufsehen, sie ermöglichten ihm auch ganz pragmatisch die Gründung mehrerer Unternehmen.

Nun scheint die Zeit reif für Kurzweils Vision der digitalen Unsterblichkeit. Nach der Entschlüsselung des menschlichen Genoms und demnächst auch des menschlichen Gehirns wird sich die menschlich-biologische Hardware bald zu Datenmengen verflüssigt haben. Wie in der filmischen „Matrix“-Trilogie könnten dann zu Computerprogrammen destillierte menschliche Gehirne in das weltweite Netz eingespeist werden, sich ihre Avatare frei erschaffen und erneuern. Geborgenheit heißt das Ziel in einer virtuellen Welt, die weder Leid noch Tod kennt.

Ist Ray Kurzweil ein futuristischer Wirrkopf oder ein gefährlicher Protagonist menschenfeindlicher Programme? Auf einem Foto in seinem Buch „Menschheit 2.0“ trägt er ein schmutziges Pappschild vor der Brust mit der Aufschrift: „The Singularity is near“. Als Prophet des Transhumanismus will er also verstanden werden.

Gewiss, die Ikonografie ist selbstironisch gemeint, soll an einen Straßenprediger erinnern, der vor dem nahen Weltuntergang warnt und die Menschen zur Umkehr aufruft. Kurzweil trägt auf dem Foto außer Maßanzug und Krawatte ein joviales Lächeln zur Schau. Seine Botschaft ist die aggressive Affirmation dessen, was da auf uns zukommt, und was nach seiner Meinung niemand mehr aufhalten kann. Das Projekt der Singularität meint die Abschaffung der Menschheit, so wie wir sie kennen, das Ende des Menschen als Gliederbündel aus Fleisch und Haut, Geist und Seele.

Die Idee ist alles andere als neu. Julien Offray de La Mettries „L’homme machine“ sollte im 18. Jahrhundert das antimetaphysische Programm der Aufklärung vollenden. Raymond Kurzweil mit seinen wahlweise als absurd oder gefährlich empfundenen Ambitionen ist vorläufiger Endpunkt dieser Entwicklung, wenn er auf die Frage, ob es Gott gebe, freundlich antwortet: „Noch nicht!“

Galt vor der Aufklärung und dem säkularen Humanismus der Mensch allgemein als Ebenbild Gottes, so sollte er nun in sich selbst begründet sein. Während den gemäßigten Aufklärern Gott ein Geschöpf der Fantasie des Menschen, also eine Projektion ist, kehrten die mechanischen Materialisten das alte Verhältnis von Gott und Mensch nicht einfach nur um. Sie ersetzten es vielmehr durch das Verhältnis von Mensch und Maschine: Nur der Mensch als Schöpfer der Maschine könne sich in seinem Geschöpf selbst erkennen. Seit Thomas Hobbes gilt bis hin zu den modernen Kybernetikern: „Der Mensch versteht nur das, was er selbst gemacht hat.“ Dieses Paradigma des Maschinenmenschen gilt für Naturwissenschaft und kulturelle Moderne gleichermaßen.

Google und Kurzweil machen genau das: Sie bauen das menschliche Gehirn tatsächlich nach, damit sie es begreifen können. Das „Google Brain“ präsentiert sich in den firmeneigenen Laboren als künstliches Gehirn mit einer schnell wachsenden Zahl simulierter Synapsen. Es lernt bereits, selbstständig Objekte zu unterscheiden.

Am Ende dieses Weges leuchtet das Ideal der Autopoiesis, die vollendete Emanzipation von Gott durch die Selbsterschaffung des Menschen als Maschine. Ein Ideal, das Kurzweil zwar nicht für erreichbar hält, dem man sich aber in einer „exponentiellen Explosion“ der technologischen Entwicklung unendlich nähern kann. Nur der Marquis de Sade, auch er ein Teil der französischen Aufklärung, war unerschrockener.

Wenn schon die göttliche Schöpfung aus dem Nichts dem Menschen verwehrt sei, so bleibe als letzte Möglichkeit menschlicher Selbstbehauptung immerhin die creatio ad nihilo, die Schöpfung hin zum Nichts. De Sade wünschte sich, „die Natur selbst müsste man beleidigen können“, und forderte die Erfindung einer „Weltvernichtungsmaschine“. Die „virtuelle Welt“, an die wir unseren Körper verlieren sollen, ist nach der Erfindung der Neutronenbombe der nächste und vielleicht doch etwas smartere Anlauf zu einer solchen de Sade’schen Maschine.

Freiheit wird als Macht definiert
 

Der Transhumanismus ist also letztlich keine Idee, sondern selbst eine Maschine. Er braucht gar nicht das Engagement eines Kreativen wie Ray Kurzweil. Er bedarf keines Propheten, denn er ist seinem Wesen gemäß eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: So und nicht anders muss es kommen. Wenn man nämlich annimmt, dass der Mensch eigentlich nur eine Maschine ist, dann ist es folgerichtig, auch die Entwicklung hin zu der Menschmaschine als eine naturgesetzliche Evolution, als einen Automatismus anzusehen.
Gefährlich ist nicht der Fortschritt, gefährlich ist dessen Richtung. Die Verbindung des Versprechens auf grenzenlose Freiheit mit der absoluten Zwangsläufigkeit, durch die es sich einlösen soll, gründet letztlich in einem fundamentalen Vorentscheid: Freiheit wird als Macht definiert.

Eine solche Bestimmung, die gewissermaßen die Geschäftsgrundlage im Hause Google ist, übersieht jedoch das Entscheidende. Wahre Freiheit realisiert sich letztlich nur durch etwas, das dem modernen Denken zu einer schieren Ungeheuerlichkeit geworden ist: durch Verzicht. Schon Marc Aurel wusste das.

Verzicht ist keine Kategorie der de Sades und Kurzweils dieser Welt. In der elitären Überheblichkeit eines Larry Page, des Google-Gründers, der zudem Auftraggeber des größten Lobbyistenheeres der USA ist, lässt sich der Größenwahn der Nachfahren de Sades gut erkennen. „Es gibt“, sagt Page, „eine Menge Dinge, die wir gern machen würden, aber nicht tun können, weil sie illegal sind. (…) Wir sollten einfach ein paar Orte haben, wo wir sicher sind. Wo wir neue Dinge ausprobieren und herausfinden können, welche Auswirkungen sie auf die Gesellschaft haben.“

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