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(picture alliance) Dürfen Religion und Staat vermischt werden?

Glaube, Staat, Gesellschaft - Der Religion den Giftzahn ziehen

Religion lässt sich mit humanen, freiheitlichen Zuständen nur vereinbaren, wenn ihr der Giftzahn des Anspruchs auf das Absolute gezogen ist. Im politischen und rechtsstaatlichen Raum haben die Konfessionen nichts verloren

Religion sei das Opium des Volkes, schrieb Karl Marx in seiner „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“. Dahinter steckte die Vorstellung, dass, herrschten erst einmal rationale gesellschaftliche Verhältnisse, die Menschen des Rausches und der Betäubung nicht mehr bedürften. Mit diesem Gedanken aber legte Marx bereits den Keim für die totalitäre Entwicklung des Kommunismus. War der doch von der Idee besessen, den Menschen alle Einbildungen, Selbsttäuschungen, Wunsch- und Traumbilder austreiben zu können, die sie von der Erkenntnis einer vermeintlich objektiven Wirklichkeit ablenkten.

Als Marx den Kommunismus „das aufgelöste Rätsel der Geschichte“ nannte, entging dem selbst ernannten Meisterdialektiker freilich die Pointe, damit seinerseits religiösem Denken verfallen zu sein. Nur dass der sich am jüngsten Tag zu offenbarende und alle Rätsel lösende Gott bei ihm „die Geschichte“ hieß. Indem der „materialistische“ Religionskritiker dergestalt selbst zum Religionsstifter wurde, bewies er wider Willen die anhaltende Macht religiöser Bedürfnisse über das Bewusstsein auch des modernen, aufgeklärten Menschen.

Was an Marxens Urteil über die Religion gleichwohl zutrifft, ist die Beobachtung, dass es sich bei ihr um eine Art intellektuelles Rauschmittel handelt. Es soll dem Bewusstsein die Kluft zwischen dem menschlichen Erkenntnisstreben und der Einsicht in die Unergründlichkeit alles Seienden erträglich machen.

Diese Kluft wird auch die Wissenschaft nie schließen können – im Gegenteil, sie führt uns in immer gewaltigere Dimensionen des Unvorstellbaren. Selbst wenn wir den Urknall als Anfang des unfassbar weit ausgedehnten Universums bestimmen und berechnen können, wann und wie es dereinst enden wird, scheitern wir doch an der Frage, was denn gewesen sein könnte, bevor es Raum, Zeit und Materie gab. Die Religion erzählt uns dazu eine Geschichte, die alles rationale Grübeln verscheuchen soll, wenn man sich nur in ihre Wahrheit fallen lässt wie ein Kind in die Wirklichkeit des Märchens. Menschen diesen Halt in einer Illusion von Sinn nehmen zu wollen, wäre ein ebenso vergebliches wie anmaßendes Unterfangen.

Wie bei jedem Gift kommt es bei der Religion jedoch auf die Dosierung an. In Maßen genossen, kann sie eine heilsame, beruhigende Wirkung haben, überdosiert entfaltet sie ihre aufputschende, zerstörerische Kraft. Die moderne westliche Zivilisation beruht auf der Kunst, die Wirkung der Religion zu begrenzen und sie sich als Sedativum gegen ausufernde politisch-ideologische Leidenschaften nutzbar zu machen.

Nicht aus der Religion sind freiheitliche Errungenschaften wie die Menschenrechte, die Herrschaft des unparteiischen Gesetzes, die Trennung von Staat und Kirche, der Pluralismus des Glaubens und der Überzeugungen erwachsen, sondern aus ihrer Zähmung. Die Unterwerfung der Kirche unter die weltliche Macht, die Beendigung blutiger Religionskriege durch die Aufgabe des Alleingültigkeitsanspruchs eines einzigen Glaubens, und schließlich die säkulare, pluralistische Ordnung, wie sie die Gründerväter der amerikanischen Demokratie vorgezeichnet haben, waren Meilensteine auf diesem Weg.

Ihr geniales Konzept, die Vielfalt der Religionen zu schützen, indem man sie allesamt aus dem Raum der allen gemeinsamen öffentlichen Institutionen heraushält, leiteten die amerikanischen Gründungsväter nicht aus ihrem eigenen christlichen Glauben ab, sondern aus den Idealen der Freimaurerei. Wer den Tempel der Freimaurer betritt, gibt seinen jeweiligen Glauben nicht auf, lässt ihn aber für die Dauer der rituellen Exerzitien gleichsam an der Garderobe zurück. Er tritt dann in einen Raum, in dem sich Gleiche unter Gleichen, gewissermaßen in ihrem bloßen Menschsein begegnen. Das ist ein Sinnbild für die Sphäre des von religiösen Einflüssen abgeschirmten politischen und rechtsstaatlichen Raumes, wie er sich als Kernstück der pluralistischen Demokratie bewährt hat.

Wer heute suggeriert, ein stärkerer Einfluss der Religion auf Staat und Gesellschaft sei notwendig, um deren Zusammenhalt zu sichern, legt Hand an dieses Wunderwerk säkularer Ausbalancierung getrennter Sphären. In der islamischen Welt liefert die Religion gegenwärtig den Treibstoff für einen Aufstand gegen die fragmentierte, entsubstanzialisierte Moderne. Wenn sich nun auch in anderen Konfessionen Kräfte regen, die sich mit der Einhegung der Religion ins Private nicht mehr zufriedengeben wollen, ist das alarmierend. Denn Religion lässt sich mit humanen, freiheitlichen Zuständen nur vereinbaren, wenn ihr der Giftzahn des Anspruchs auf das Absolute gezogen ist.

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