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Europa nach der Italien-Wahl - Schluss mit der Schönfärberei!

Die Parlamentswahl in Italien macht deutlich: In zentralen Staaten der europäischen Einigung haben Begriffe wie Sparpolitik und Haushaltsdisziplin den Appeal eines mehrjährigen Gefängnisaufenthalts. Nur als demokratische und freiwillige Assoziation hat Europa eine Zukunft

Autoreninfo

Reinhard Mohr (*1955) ist Publizist und lebt in Berlin. Vor Kurzem erschien sein Buch „Deutschland zwischen Größenwahn und Selbstverleugnung. Warum es keine Mitte mehr gibt“ (Europa Verlag, München).

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Das Wort von der „historischen Zäsur“ sollte man vorsichtig benutzen. Doch die italienischen Parlamentswahlen, deren Ergebnis nicht nur ein politisches Patt ist, sondern auch eine krachende Absage an das Europa von Brüssel, sind ein Fanal. Es sollte sehr ernst genommen werden. Dabei geht es gar nicht zuallererst um das typisch italienische Chaos, um mediterrane Leichtfertigkeit, Protest-Populismus und den folkloristischen Hang zur praktizierten Anarchie – es geht um das Vorführen eines Exempels, das die offizielle Europa-Politik mit all ihren Schuldenbremsen, Rettungsschirmen, Sparvorgaben und Reform-Ultimaten auf beinah groteske Weise desavouiert. „Basta“ schallt es aus dem Süden, leckt uns doch am Arsch!

Dass es – neben dem skrupellosen Verführer Berlusconi – ausgerechnet ein abgehalfterter Komiker und clownesker Schreihals ist, der diese Botschaft überbringt, macht die Sache nur noch absurder.

Der Kontrast zu den unzähligen Brüsseler EU-Konferenzen könnte nicht größer sein, in denen in schier endlosen Nachtsitzungen das bedrohlich wackelnde europäische Kartenhaus – vom „Fiskalpakt“ über die „Bankenunion“ bis zur „Europäischen Stabilisierungs-Faszilität“ – stets aufs Neue notdürftig zusammengeklebt werden muss.

Noch höhnischer muss das Echo des Triumphs von Silvio Berlusconi und Beppe Grillo all jenen europäischen Intellektuellen in den Ohren klingen, die das „postnationale“ Europa feiern und mit ausschweifend lyrischen Sehnsuchtsmelodien besingen. Meilenweit über der europäischen Wirklichkeit schwebend träumen sie vom europäischen Bundesstaat, in dem gleiche Lebensverhältnisse herrschen, Frieden und Freiheit für immer gesichert sind und der allgemeine Wohlstand sich gleichsam naturwüchsig herstellt.

Zuweilen scheint es, als sei hier ein letzter Reflex der marxistischen „Histomat“-Gesetzmäßigkeit über den einzig wahren Lauf der Geschichte am Werke. Die Kleinigkeiten überlassen die großen europäischen Schwarmgeister gerne der Politik, die sie zugleich im tiefsten Innern verachten. Selbstverständlich ist man für Eurobonds und die Vergemeinschaftung aller Schulden. Das klingt solidarisch, gut und gerecht, ebenso wie die notorische Kritik am vermeintlichen „Spardiktat“ von Kanzlerin Merkel. Da schwimmt man gerne mit im Mainstream der kritisch Wohlmeinenden. Vertiefte ökonomische Kenntnisse wurden von Dichtern und Denkern ja auch nie verlangt.

Das Beste aber: Im Zweifel blamiert sich die Wirklichkeit vor der Idee, nicht umgekehrt. Pech für die dumme Wirklichkeit, wenn sie der schönen Idee nicht folgen will.

Genau an dieser Stelle werden unsere lieben italienischen Nachbarn doch wieder sympathisch. Wenigstens für die Millisekunde jenes Augenblicks, der uns sagt: „In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod“ (Alexander Kluge). Oder auch, mit Rio Reiser: „Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten“. Ja: Mit ihrer verzweifelten Super-Crash-Wahl haben die Italiener einen massiven, aber womöglich heilsamen Realitätsschock in Europa ausgelöst: die ultimative Krise der lähmenden Krisendebatte, die inzwischen ins sechste Jahr geht.

Ganz gleich, für wie falsch und verrückt man ihre Entscheidung hält: Das war ein Denkanstoß mit der ganz großen Pizza-Schaufel! Nicht einmal die guten Ratschläge von Schäuble und Westerwelle, doch bitteschön vernünftig im Sinne „Europas“ zu wählen, haben geholfen. Ganz im Gegenteil: Der irrationale Eigensinn hat sich Luft gemacht, Wut, Zorn und Ratlosigkeit. Dass sich die Italiener dabei vor allem an die eigene Nase fassen sollten, ist an diesem Punkt nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass fast in ganz Südeuropa Lage und Stimmung ähnlich sind – von Griechenland bis Portugal, von Spanien bis Frankreich. Die Erkenntnis wächst: So geht es nicht weiter.

nächste Seite: Der Versuch, die Vielfalt zu vereinheitlichen, führt ins Verderben

Es ist allerhöchste Zeit, die Europa- und Euro-Debatte endlich vom Kopf auf die Füße zu stellen.

Europa ist weder ein utopisches Traumgebilde noch ein postnationales Territorium, das von einer imaginierten Zentrale mit den ZK-Kompetenzen einer mächtigen und allwissenden Bürokratenelite gelenkt wird – Europa ist eine unendlich vielfältige und widerspruchsvolle Realität, die aus weit mehr als drei Dutzend Staaten und Nationen besteht, deren Regionen und Kulturen kaum zu zählen sind.

Nirgendwo deutlicher als in der andauernden Eurokrise hat sich gezeigt, dass gerade der Versuch, diese Vielfalt zu vereinheitlichen, das Unterschiedliche anzugleichen, kurz: das Krumme passend zu machen, ins Verderben führt. Gerade das monetäre Zwangsband der Einheitswährung, das ökonomisch extrem starke und extrem schwache Nationen zusammengebunden hat, sorgt nun für ein immer weiteres Auseinanderdriften. Kein Wunder, dass längst überwunden geglaubte Ressentiments wiederaufleben – hier der deutsche Nazi, da der faule Südländer.

So verlockend die Idee war, durch eine starke Gemeinschaftswährung die schwächeren Länder gleichsam „mit hochzuziehen“ – das genaue Gegenteil ist eingetreten. Mehr noch: Selbst Italien und Frankreich, zentrale Staaten der europäischen Einigung, geraten nun ins Trudeln.

Dazu kommt etwas, das im modernen Luftreich der politischen Korrektheit verpönt ist: Der Begriff der „Mentalität“, die ja nicht zuletzt Teil der jeweils nationalen, regionalen oder lokalen Kultur ist – Traditionen, Gewohnheiten, Überlieferungen aller Art, im weitesten Sinne die Art und Weise, das alltägliche Leben zu führen – und zu genießen. Auch hier reichen ein paar Blicke kreuz und quer durch Europa, um zu sehen, dass mit zentralistischem Vereinheitlichungsdruck überhaupt nichts, jedenfalls nichts Gutes erreicht werden kann. Manchmal reicht schon ein Wort, um das zu veranschaulichen. So hat „Austérité“ ähnlich wie „Rigueur“ im merkantilistisch-staatsgläubigen Frankreich parteiübergreifend den Charme eines mittelalterlichen Folterwerkzeugs, zumindest die Anziehungskraft eines mehrjährigen Gefängnisaufenthalts. In Deutschland dagegen klingen „Sparpolitik“ oder „Haushaltsdisziplin“ deutlich weniger teuflisch, auch wenn sie keine große Begeisterung hervorrufen.

Einen dialektischen Clou haben die unbeirrbaren Apologeten des „Mehr Europa!“ noch gar nicht mitbekommen: Bis jetzt jedenfalls ist dabei vor allem „Mehr Deutschland“ herausgekommen. Der Abstand zu den anderen wird immer größer und schon sind Teile der gebildeten südeuropäischen Jugend dabei, ihre Heimat zu verlassen und das Glück im gelobten Land des Nordens zu finden. Parallel dazu findet eine Armutswanderung aus Südosteuropa statt. Beide Entwicklungen sind das exakte Gegenteil dessen, was „Mehr Europa“ eigentlich heißen soll: Mehr Angleichung der Lebensverhältnisse in allen Ländern der EU.

Wenn es eine Lektion aus der irren Italien-Wahl gibt, dann diese: Nur als demokratische und freiwillige Assoziation hat Europa Zukunft. Die politischen und ökonomischen Grundlagen dafür müssen mühevoll in jedem einzelnen Land gelegt werden – mit Zustimmung wenigstens der Mehrheit der Bevölkerung. Ja, Überzeugungsarbeit bleibt nötig.

Zwang, in welcher Form auch immer, ist von Übel.

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