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Schiffstragödie im Mittelmeer - Europas Blamage

Zum Jahresende hatte die EU verhindert, dass eine Lebensrettungsmission im Mittelmeer fortgeführt wird. Nun ist das Zwangsläufige passiert: Bei dem Schiffsunglück vor der libyschen Küste sind Hunderte Flüchtlinge ertrunken. Deutschland ist für die Toten mitverantwortlich

Autoreninfo

Petra Sorge ist freie Journalistin in Berlin. Von 2011 bis 2016 war sie Redakteurin bei Cicero. Sie studierte Politikwissenschaft und Journalistik in Leipzig und Toulouse.

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Es waren Männer, Frauen, Kinder. Sie kamen aus Syrien und Subsahara-Afrika. Ihr Weg endete in den Fluten des Mittelmeers. 400 Menschen werden nach dem jüngsten Schiffsunglück vor der libyschen Küste vermisst und sind möglicherweise ertrunken, fürchtet die Hilfsorganisation „Save the Children“. Die italienische Küstenwache hat das noch nicht bestätigt. Das Boot war am Sonntag auf dem Weg von Libyen nach Italien in Seenot geraten. Neun Leichen wurden bereits geborgen.

Wenn die Zahlen stimmen, wäre es eine der größten Tragödien, die sich in den vergangenen Jahren vor den Toren Europas abgespielt hat. Im Oktober 2013 kamen bei dem Unglück vor der italienischen Insel Lampedusa mehr als 360 Menschen ums Leben.

Dass diese Katastrophe noch übertroffen werden konnte, dafür trägt auch Deutschland Mitverantwortung.

Zynische Rettungspolitik
 

Damals, vor zwei Jahren, zeigte sich Italien erschüttert. Papst Franziskus flog auf die Insel, betete für die Opfer. Nie wieder wollte das Land kaltherzig zuschauen, wie ihr Mittelmeer für Hunderte zum Massengrab wird. Rom startete die Rettungsorganisation „Mare nostrum“. Ein Jahr lang fuhr die Küstenwache aus, wenn irgendwo ein Flüchtlingsboot zu kentern drohte. Die Mission rettete rund 140.000 Menschen.

Dann bat Italien die weiteren europäischen Länder um Mithilfe. Die weigerten sich. Bundesinnenminister Thomas de Maizière fürchtete, Mare nostrum habe sich zu einem „Pull-Faktor“ entwickelt, einem Anreiz für Flüchtlinge, nach Europa zu kommen. Er bezeichnete das Programm im November als „Brücke nach Europa“.

Dass diese Einschätzung nicht nur zynisch, sondern auch grundfalsch ist, warnten Menschenrechtsorganisationen schon damals. Brüssel entschied sich trotzdem gegen eine Rettungsmission – und installierte stattdessen eine Abwehreinheit von Frontex, der EU-Grenzsicherungsagentur. Diese neue Mission „Triton“ verfügt nur über einen Bruchteil des Budgets von „Mare nostrum“.

Zwar greift auch die italienische Küstenwache noch immer ein. So konnten nach ihren Angaben allein seit Freitag rund 8.500 Menschen gerettet werden. Doch erstens hatte die Küstenwache mit „Mare nostrum“ noch weit größere Kapazitäten und fuhr bis weit in libysche Hoheitsgewässer hinein. Das tut sie heute nicht mehr in dem Maß. Zweitens sind viele Auffanglager völlig überfüllt. Italien ist mit der Aufgabe überfordert.

Von anderen EU-Staaten oder Deutschland kommt bislang keine nennenswerte Hilfe.

Die europäische Flüchtlingspolitik ist gescheitert
 

Die Katastrophe von Sonntag ist nicht nur eine Blamage für die europäische Flüchtlings- und Grenzpolitik, sondern belegt auch die krasse Fehleinschätzung von Politikern wie de Maizière. Eine Lebensrettungsmission kann kein „Pull-Faktor“, kein Anreiz zum Kommen sein, genauso wenig wie Flucht allein von „Pull-Faktoren“ abhängig ist.

Viele Menschen werden aus ihrer Heimat auch durch „Push-Faktoren“ wie Krieg, Verfolgung, Naturkatastrophen oder Armut „wegdrückt“. Anders gesagt: Wer fürchten muss, vom „Islamischen Staat“ gekidnappt, vergewaltigt oder geköpft zu werden, wer in syrischen Städten Assads Bombenattacken fürchten muss, der wird sich nicht vom lebensgefährlichen Überweg nach Europa, der immer häufiger über Libyen führt, abhalten lassen, nur weil eine maritime Rettungsmission eingestellt wurde. Die Verzweifelten kommen trotzdem. Kein Kalkül europäischer Politiker wird sie abhalten können.

Europa muss sich entscheiden: Entweder, es nimmt Geld in die Hand, um im Mittelmeer wieder eine nennenswerte Rettungsmission zu starten. Oder es wird sich daran gewöhnen müssen, dass Woche für Woche, Monat für Monat mehr Leichen an Europas Küsten gespült werden. Das Frühjahr hat gerade erst begonnen – und damit auch die neue Überfahrtssaison.

Das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer beschäftigte das Magazin Cicero auch in seiner Ausgabe vom Dezember 2014. „Das Boot ist voll“ lautete der Titel, der den zynischen Satz kommentiert, mit dem die deutsche Abschottungspolitik schon in den 1990er Jahren begründet wurde. Das Heft können Sie hier nachbestellen.

 

 

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