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Szenen und Schicksale der Flüchtlingskrise in Europa - Vom Traum, „endlich irgendwo anzukommen“

Im italienischen Touristenort Ventimiglia werden Flüchtlinge zum Wirtschaftsrisiko. In Österreich ist laut Amnesty International die Erstaufnahme „unmenschlich”. In Essen droht der nächste rechte Mob. Ein trinationales Besuchsprotokoll

Autoreninfo

hat Medien- und Politikwissenschaften in Düsseldorf, Cádiz und Brüssel studiert. Neben seinem Master in Politologie und Wirtschaftsgeographie arbeitet er als freier Journalist.

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„Zelte, wenn wir wenigstens Zelte hätten“, nuschelt Omar aus seinem verfilzten Rauschebart. Der 24-Jährige aus dem afghanischen Kandahar läuft gebückt wie ein Greis. Die zerschlissene Jeanshose schlottert im Wind um seine Beine. Seine müden Augen wirken trübe. 6.500 Kilometer Flucht haben Spuren hinterlassen.

„Puh ist das heiß.“ Omar steht im gleißenden Sonnenlicht an der italienisch-französischen Grenze im Touristenstädtchen Ventimiglia – bei 37 Grad. Sein einziger Schutz ist eine verblichene Schirmmütze mit der Aufschrift „Just Do It“. Zu Hause sei es zwar nicht weniger heiß. „Dort hatten wir aber zumindest einen Ventilator“, sagt er augenzwinkernd.

In Ventimiglia habe er nichts. „Nachts schlafen wir auf Steinen an der Uferpromenade.“ Kein Dach, kein Zelt, nicht einmal ein Sonnenschirm schützen ihn vor Regen und Sonne. Ein dreckiges Handtuch dient ihm nach Einbruch der Dunkelheit als Unterlage auf den scharfkantigen Steinen, wenige Zentimeter neben der Brandung.

Omar ist nicht allein. „Das Elend von Ventimiglia“ nennen die Lokalzeitungen das allabendliche Schauspiel, wenn zeitweise über 50 Flüchtlinge aus Afrika, dem Nahen Osten und Asien die Uferpromenade des Städtchens besetzt halten. Sie alle eint ein Ziel: Frankreich. Omar und die anderen Namenlosen träumen von einem besseren Leben. Nach Monaten der Unsicherheit sei der einzige Wunsch: „Endlich irgendwo ankommen“, sagt Omar.

„All die zurückgelegten Kilometer, all die Leiden, all die Erniedrigungen und Schläge können doch nicht umsonst gewesen sein“, sagt der Afghane verzweifelt. Seine Stimme bebt. In seinen Augen steht die Wut. Er sei seit sieben Monaten unterwegs. Auf dem Weg nach Europa sei er mehrmals von türkischen Grenzbeamten aufgegriffen worden. „Sie haben mir die Schulter ausgekugelt.“ Nachprüfbar ist seine Geschichte zwar nicht, aber sie passt ins Bild. Immer wieder gibt es Berichte über Misshandlungen seitens der türkischen Sicherheitskräfte.

Omar steckt nun wieder einmal fest. In Ventimiglia will ihn niemand. Auf der anderen Seite der Grenze erst recht nicht. In Frankreich sind Flüchtlinge nicht erst seit den Schlagzeilen um Calais und den Eurotunnel ein Reizthema. An der italienischen Mittelmeerküste werden die Asylbewerber mittlerweile zum Wirtschaftsrisiko. Ventimiglia, einst bekannt für seine Gärten und Märkte, steht dafür sinnbildlich.

Pietro Rizzione führt in dem Städtchen eine kleine Herberge. Obwohl er das Anliegen der Flüchtlinge verstehen könne, „muss doch irgendwann mal Schluss sein“. „Die Leute kommen hierher, um Urlaub zu machen“, sagt der Gastronom über seine zahlenden Gäste. Insbesondere die Cafés blieben immer öfter leer. „Die Flüchtlinge sind für uns eine Belastung“, sagt Rizzione. Zwar spüre er die Folgen der Flüchtlingskrise in seinem Heimatort selbst noch nicht. „Aber ein Haufen Schwarzafrikaner an der Uferpromenade ist nicht gerade das beste Mittel, um die Hotelbetten zu füllen“, sagt der Italiener.

Seine Stimmung schwankt zwischen Wut auf die Behörden und Verständnis für die Geflüchteten. Er ist sich sicher: „Europa hat versagt!“ Mit diesem kurzen Satz spricht er aus, was kaum jemand zu formulieren vermag. Das sei „eine Schande für uns alle in Europa“. Letztendlich ginge es einzig um die Frage: „Welche Alternative bleibt diesen armen Teufeln schon noch?“

Die „armen Teufel“, das sind Omar und seine „Campfreunde“, wie er die anderen Flüchtlinge nennt. „Wir werden es weiter versuchen“, sagt Omar mit einem gequälten Lächeln, an die Kaimauer etwas außerhalb von  Ventimiglia gelehnt. Wenige Meter entfernt parken deutsche und belgische Mittelklassewagen vor einem Hotel auf einer Anhöhe nahe der Uferstraße. Auf einem Balkon schlürft ein Pärchen im mittleren Alter Cocktails aus langstieligen Gläsern. Den Mann mit der verblichenen Basecap und dem verwilderten Bart bemerken sie nicht.

 

Ein Zelt wünschte sich auch Markus S.* für seine erste Nacht in der Flüchtlingsunterkunft im österreichischen Traiskirchen vergeblich. Der Wiener mit afghanischen Wurzeln gab sich in dem Asylbewerberheim als Flüchtling aus. Zwei Nächte verbrachte er dort. Die Toiletten seien „dreckig“ und „stinken“. Weder bekämen die Bewohner Seife, Shampoo oder Zahnbürsten, noch gebe es Klopapier. Markus S., der Farsi spricht, berichtet außerdem von „Müllbergen auf dem Gelände“.

In der Erstaufnahmeunterkunft werden einem Bericht von Amnesty International zufolge „grundlegende Menschenrechtsstandards“ missachtet. 1.500 Menschen müssten zeitweise im Freien übernachten. Für 40 Stunden war Markus S. einer von ihnen. „Völlig überbelegt“, „unzureichend“, „besonders prekär“: Die Zustände in Traiskirchen seien unhaltbar, sagen Amnesty International und Markus S. übereinstimmend.

Das Städtchen im Osten des Berglandes steht zum wiederholten Male in den Schlagzeilen, weil es Flüchtlinge hier besonders schwer haben sollen. Die medizinische Versorgung sei laut Amnesty International „unzureichend“. Unter einem Vorwand versuchte auch der Undercover-Flüchtling einen Arzt sehen zu dürfen. Er wurde abgewiesen. „Ärzte ohne Grenzen“ hatten diese Praxis kritisiert.

Auch Amnesty International berichtet von Asylbewerbern, die erst dann einen Arzttermin erhielten, wenn sie mehr als einmal zum Empfang kämen. Ein junger Mann aus Somalia habe mit einem gebrochenen Bein tagelang auf medizinische Hilfe warten müssen. Ein anderer Flüchtling aus Afghanistan schnitt sich die Unterarme auf, weil er die Bedingungen in Traiskirchen nicht aushielt.

Außerdem gebe es nach Aussage von Amnesty International ein inoffizielles Strafpunktesystem, demzufolge Asylbewerber Strafpunkte für Streitereien oder Beschwerden bekommen. Nach drei Strafpunkten müsse der betreffende Flüchtling außerhalb der Betreuungsstelle die Nacht verbringen. Auch Markus S. berichtet von einem solchen Strafsystem.

Markus S. beobachtete Flüchtlinge, die mit Spenden eine Art Schwarzmarkt betrieben. Am Zaun der Unterkunft nähmen zumeist „schwarzafrikanische Männer“ Spenden von Bürgern entgegen. Einer der Männer horte Kleidung in mehreren Zelten. „Die Männer behalten die Ware, um sie einzutauschen“, sagt der Undercover-Asylbewerber. Selbst ein Zelt sei darunter gewesen.

* Name geändert

Alma und ihre Schwestern Maria und Susi zelten im Garten ihrer Eltern. Mit einem Laken über den Köpfen stolpern die drei kleinen Gestalten zwischen Teich und Terrasse umher. Eingeschaltete Taschenlampen werfen Schatten auf den weißen Stoff. Ihr kleines, grünes Wurfzelt rennen sie fast über den Haufen. Das Kichern ist nicht zu überhören. Alma, Maria und Susi spielen „Nacht“.

Die „Nacht“ wird zum Spiel, weil die Kinder bei Dunkelheit nicht mehr in den Garten dürfen. „Eine Vorsichtsmaßnahme“, sagt ihre Mutter. Ihr Haus liegt im Essener Stadtteil Frintrop, unweit einer Flüchtlingsunterkunft. Seit 2013 gibt es Proteste um das Asylbewerberheim in der ehemaligen Walter-Pleitgen-Schule.

In die aufgeheizte Atmosphäre platzte jüngst ein Gerücht, das Angst und Sorgen im Stadtteil schürte: Ein Mädchen sei vergewaltigt worden. Der Täter sei Flüchtling und wohne in der Asylbewerberunterkunft. Nach einer kurzweiligen Festnahme durch die Polizei wurde der mutmaßliche Täter wieder freigelassen. Seither droht die Lage zu eskalieren.

Die Anwohner fühlen sich von der Politik im Stich gelassen – ähnlich wie in Freital, Salzhemmendorf und Heidenau. Die Deutungshoheit scheint bereits verloren. Der rechte Mob geht in die Offensive: Eine Bürgerversammlung endete im Tumult. Menschenverachtende Sprechchöre diffamierten Flüchtlinge. Rechtsradikale schlugen Politiker.

In sozialen Medien riefen Rechtsradikale offen zu Gewalttaten gegen das Flüchtlingsheim auf. Ein Gegendemonstrant sah in Essen bereits „das neue Heidenau“. Nun versuchen Anwohner, Hilfsorganisationen und Parteien die Stimmung mit einer „Mahnwache gegen Fremdenhass“ umzukehren.

Auch Alma, Maria und Susi wollen mit ihrer Mutter an der Mahnwache teilnehmen. Sie haben bereits ihre Kinderzimmer aussortiert und wollen im Anschluss an die Demonstration ihr altes Spielzeug in die Walter-Pleitgen-Schule bringen. Ihre Mutter sagt: „All die Aufregung blendet doch den Blick auf das Wesentliche aus.“ Sie meint: die Flüchtlinge.

Denn auch in der ehemaligen Schule leben geflüchtete Menschen in beengten Verhältnissen. In den vergangenen zwei Jahren sind mehr und mehr Container auf dem Gelände der Flüchtlingsunterkunft aufgestellt worden. Das Heim, das eigentlich als „Behelfsunterkunft“ gedacht war und nun doch zur Dauerlösung  wurde, arbeitet bereits „seit Monaten über der Belastungsgrenze“, sagt eine Helferin vor Ort.

In Essen haben Flüchtlinge, anders als in Ventimiglia und Traiskirchen, zwar ein Dach über dem Kopf. Glücklich sind sie dort – trotz der erfolgreichen Flucht – dennoch nicht.

 

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