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Ukraine-Konflikt - Nato-Engagegement in Osteuropa verstärken

Putins Aggressionen erfordern eine deutliche Reaktion der Nato, schreibt der Osteuropahistoriker Stefan Troebst. Das Militärbündnis sollte bei seinem nächsten Gipfel Anfang September jene Übereinkunft aufkündigen, die Russland zusichert, keine Einheiten in den neuen Mitgliedsstaaten zu stationieren

Autoreninfo

Stefan Troebst ist Professor für Kulturstudien Ostmitteleuropas am Institut für Slavistik der Universität Leipzig. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Erinnerungskultur – Kulturgeschichte – Geschichtsregion. Ostmitteleuropa in Europa“ (Steiner 2013).

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Fünf Monate hat die Europäische Union gewartet, bis sie auf die Invasion, Okkupation und schließlich Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch die Russländische Föderation, auf das Einsickern russländischer Söldnertruppen in den Osten der Ukraine und auf den Abschuss der Flugmaschine MH17 reagiert hat. Ende Juli 2014 verhängte die EU Sanktionen der Stufe 3. Dabei war Brüssel bemüht, die negativen Auswirkungen auf die Bevölkerung Russlands so gering wie möglich zu halten. Bestraft werden sollen die „Vertikale der Macht“, d. h. die „Silowiki“ in Geheimdiensten und Armee, sowie die zur Entourage des Staatspräsidenten gehörenden Oligarchen, nicht aber Iwan Normalverbraucher, schon gar nicht die rudimentäre Zivilgesellschaft zwischen Smolensk und Chabarovsk.

Putin weh tun, aber nicht den Russen


Mit den USA ist sich die EU über eines im Klaren: Eine demokratische Umwälzung von innen nach dem Muster der „bunten Revolutionen“ in Serbien, Georgien, der Ukraine und andernorts ist kurz- und wohl auch mittelfristig ein wenig realistisches Szenario. Andererseits wissen Amerikaner und Europäer, dass sich Wladimir Putins momentanes Umfragehoch rasch in sein Gegenteil verkehren kann, wenn seine „Erfolgssträhne“ reißt, der Rubel weiter fällt, die Preise für Nahrungsmittel steigen sowie Renten und Gehälter gekürzt werden müssen. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass sich vom Kremlherrn schmählich im Stich gelassen fühlende Aufständische des „Volksaufgebots“ aus dem Donbass und Ex-Offiziere des russländischen Militärgeheimdienstes auf dem Roten Platz in Hungerstreik treten und dort einen nationalchauvinistischen „Majdan“ inszenieren. Wie kann der Westen also den Gordischen Knoten durchschlagen, um der zugleich aggressiven wie erratischen Expansionspolitik Moskaus Paroli zu bieten? Wie den Putin-Getreuen empfindlich weh tun, ohne den 140 Millionen Bürgern der Russländischen Föderation direkt zu schaden?

EU und USA haben – taktisch wohl unklug – bereits zu Beginn der russländischen Militäraktionen lautstark jegliche Art von militärischer Gegenaktion ausgeschlossen. Daher kommen Kommandoaktionen von Elitetruppen aus Nato-Staaten – etwa im Stadtzentrum von Donezk zur Fest- und Mitnahme prominenter Rebellenführer oder Separatistensprecher – nicht in Frage. Es bleiben also lediglich Maßnahmen, die auf eine militärische Schwächung Russlands zielen, ohne dass das transatlantische Bündnis dabei die Schwelle zu direktem Eingreifen überschreitet.

Die Nato hat sich stets an ihre Abmachungen gehalten


Es gibt aber einen Schritt, der militärpolitisch deutlich über die bereits erfolgte Verlegung einiger weniger US-amerikanischer Kampfflugzeuge an die Ostgrenze Polens und Litauens hinaus ginge: die Aufhebung der Nato-Selbstverpflichtung. Diese findet sich in der Grundakte über Gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der Nato und der Russländischen Föderation vom 27. Mai 1997 und wurde 2002 durch die Gründung des Nato-Russland-Rates ergänzt. Die Selbstverpflichtung beinhaltete, „in dem gegenwärtigen und vorhersehbaren Sicherheitsumfeld“ im östlichen Mitteleuropa nicht „zusätzlich substanzielle Kampftruppen dauerhaft zu stationieren“. Die Osterweiterung des transatlantischen Bündnisses bezog sich zu diesem Zeitpunkt konkret auf die neuen Bundesländer. Polen, Ungarn und die Tschechische Republik traten erst 1999 der Nato bei, die baltischen Republiken und weitere Staaten Ostmittel- und Südosteuropas dann 2004 bzw. 2009. Dennoch machte die besagte Nennung eines „vorhersehbaren Sicherheitsumfeldes“ deutlich, dass die Nato seinerzeit bereit war, diese Selbstverpflichtung auch auf künftige Mitgliedsstaaten zu beziehen. Und sie hat sich bis heute daran gehalten.

Die Russländische Föderation hat sich ihrerseits jedoch nicht an den in der Grundakte festgelegten „Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt (…) gegen irgendeinen anderen Staat, seine Souveränität, territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit“ gehalten, geschweige denn an die „Achtung der Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Unversehrtheit aller Staaten sowie (…) der Unverletzlichkeit von Grenzen“. Und ihrer dort eingegangenen „Verpflichtung zum Bau eines stabilen, friedlichen und ungeteilten, geeinten und freien Europas“ ist sie ebenfalls nicht nachgekommen.

Auf diplomatisches Vorgeplänkel verzichten


Die Nato hat also allen Grund, ihre Selbstverpflichtung von 1997 unter Bezug auf Moskaus Ukraine-Politik des Jahres 2014 aufzuheben. Der bevorstehende Nato-Gipfel Anfang September in Großbritannien bietet Gelegenheit dazu. Ein solcher Schritt wäre in der jetzigen Situation, in der das Szenario einer Invasion russländischer Streitkräfte in die Ostukraine – mit oder ohne Hoheitsabzeichen oder als humanitäre Aktion getarnt – täglich an Wahrscheinlichkeit zunimmt, eine klare Botschaft in Putins neue „russische Welt“ hinein. Sie lautet, dass an der Ostgrenze des Nato-Territoriums der Stolperdraht verläuft, der den Bündnisfall auslöst, und das unverzüglich, gleichsam automatisch – ohne neuerliches diplomatisches Vorgeplänkel.

Dadurch wäre mit Blick auf eine denkbare neuerliche Aggression Russlands gegen die Ukraine ein deutliches Signal gesetzt. Zugleich erführe die Nato durch einen solchen militärpolitischen Schritt mit Blick auf ihre Mitglieder in der Region vom Balkan zum Baltikum einen veritablen Integrationsschub in Form von forcierter Vertrauensbildung.

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