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Russland - Putins große Stalin'sche Erzählung

In der Ukraine-Krise wurde in Russland eine unvergleichliche Propagandawelle losgetreten, sagt Jens Siegert. Im Interview erklärt der Leiter der Heinrich Böll Stiftung in Moskau, wie die russische Zensur funktioniert, warum Putin an Stalin'sche Propganda anknüpft und glaubt, Russland sei das bessere Europa

Autoreninfo

Vinzenz Greiner hat Slawistik und Politikwissenschaften in Passau und Bratislava studiert und danach bei Cicero volontiert. 2013 ist sein Buch „Politische Kultur: Tschechien und Slowakei im Vergleich“ im Münchener AVM-Verlag erschienen.

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Cicero Online: Herr Siegert, woher nimmt eigentlich der Westen all das Geld? Wenn man dem Kreml glaubt, hat er ja von den Protesten gegen die Fälschungen der Duma-Wahlen im Dezember 2011 bis hin zum Maidan ja so ziemlich alles finanziert.
Jens Siegert: Allein die USA sollen aus russischer Sicht ja Milliarden in die Orangene Revolution in der Ukraine und in die Maidan-Bewegung gesteckt haben in den vergangenen Jahren. Aber es geht eher um eine Technik des Westens.

Was für eine Technik?
„Soft Power“. Aus russischer Sicht ist das eine hinterhältige Technik, mit der der Westen seine Ziele erreichen will. Und dem muss man etwas entgegensetzen.

Sind die westlichen Staaten dann so was wie Soft Power-Faschisten?
Nein, der Westen gilt nicht als faschistisch. Aber wenn es darum geht, Russland zu schädigen, ist dem Westen so zu sagen jedes schmutzige Mittel recht – wie etwa Faschisten in der Ukraine an die Macht zu bringen.

Ein geschädigtes Russland ist das Ziel des Westens?
Das ist das Grundprinzip der russischen Argumentation. Was vom Westen in der Ukraine gemacht wird, hat erstmal nichts mit der Ukraine zu tun hat, sondern ist prinzipiell gegen Russland gerichtet.

Das bekannte Bild von dem von Feinden umzingelten Russland.
Ja, das ist die große Stalin’sche Erzählung: Außerhalb Russlands gibt es nur Feinde. Unter Putin ist sie in den vergangenen zehn Jahren ganz systematisch erneuert und die Köpfe der Leute hineingehämmert worden. Sehr viele Russen glauben das.

Ist diese Stalin’sche Erzählung, dieser sowjetische Narrativ nicht zu einer Art Selbstläufer geworden? Kann sich Putin dem überhaupt entziehen?
Ich bin kein Psychologe. Es ist schwer zu sagen, wie zynisch Putin ist. Aus seiner Biographie kann man aber wohl schließen, dass es eine gewisse Neigung bei ihm gibt, das alles selbst zu glauben. Ich denke, Putin fühlt sich vom Westen ge- und enttäuscht.

Warum?
In den Nullerjahren hat der Westen alle Angebote für eine strategische Zusammenarbeit aus Putins Sicht auf unbegründete und unverschämte Weise abgelehnt.

Ist das die tiefe narzisstischen Kränkung Russlands, über diese in Ihrem Russland-Blog schreiben?
Die Kränkung geht viel weiter. Das riesige und großmächtige Land ist zwischen 1989 und 1991 zu einer regionalen Mittelmacht zusammengeschrumpft. Man fühlte sich nicht mehr ernst genommen, hatte einen besoffenen Präsidenten und musste dann auch noch vom Westen mit Geld gerettet werden. Auf diese Kränkung legt sich dann die gefühlte Ablehnung durch den Westen als, wie es hier immer heißt „Partner auf Augenhöhe“.

Wie kommt es, dass Russland für seinen Sender Russia Today Ausländer engagieren kann, die eben nicht mit diesem Narrativ aufgewachsen sind?
Bei manchen geht es sicher über Geld. Manche glauben das aber auch. Schauen Sie sich die Diskussion in Deutschland an: Da gibt es eine ganze Reihe von Leuten, die zumindest Verständnis für diese Narrative haben. Das geht bis zu erfahrenen Politikern wie Helmut Schmidt und Gerhard Schröder. Ich persönlich kann zwar die Kränkung Russen auch nachvollziehen. Das heißt aber nicht, dass ich die daraus folgenden Handlungen gutheiße.

Sie schreiben in ihrem Russland-Blog von einer „unvergleichlichen Propagandawelle in den russischen staatskontrollierten Medien“. In wie fern ist sie größer als beispielsweise in der Georgien-Krise 2008?
Heinrich Böll Stiftung e.V.Erstens war sie in der Georgienkrise ausgesprochen zeitlich begrenzt. Zweitens war das noch die unideologische Phase der Putin’schen Herrschaft. Es ging noch nicht so sehr darum, sich vom Westen abzugrenzen. Das hat sich erst in den vergangen zwei Jahren so stark entwickelt, dass es fast schon psychopathologische Züge angenommen hat. In dieser Zeit hat  Putin damit begonnen, die russische Gesellschaft, oder wie es hier immer heißt, die „russische Zivilisation“, erneut als Gegenentwurf zum Westen darzustellen.

Aber dennoch rechtfertigt sich Russland als europäisch und stellt die Ukraine in den Kontext europäischer  Separatisten-Bewegungen: Russia Today lobt zum Beispiel die venezianischen Unabhängigkeitsbewegung.  Putin selbst zieht immer wieder das Beispiel des Kosovo heran, um die Krim-Abspaltung zu legitimieren.
Gegenbild heißt ja auch nicht, dass man was völlig Anderes ist. Russland sieht sich eher als das bessere Europa, ja als die Rettung Europas. Das fällt in die Vorstellung vom dritten Rom: Nach der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen bleibt Moskau, bleibt nur noch Russland als Rettung des christlichen Abendlandes. Putin selbst hatte im September in einer Rede gesagt, der Westen sei dekadent und vom christlichen Weg abgekommen. Russland müsse als moralisches Rückgrat Europas den christlichen Weg weitergehen.

Das sind beinahe dieselben Worte der slavophilen Philosophen, die im 19. Jahrhundert die Idee vom russischen Messianismus predigten. Wird dieser Messianismus auch in den Medien aufgenommen?
Ja, beispielsweise in der Propaganda gegen Homosexuelle und für die Familiendoktrin, die sich auf angebliche alte slawisch-orthodoxe Familienwerte bezieht. In der Krim-Krise wurden Vertreter rechter europäischer Parteien wie die Vlaams Belang, die FPÖ und der französische Front National als vermeintliche Wahlbeobachter zum Referendum geladen. Das war sozusagen eine Versammlung der Feinde der offenen Gesellschaft. In Russland wird das orthodox unterfüttert, weil die Kirche bei einem großen Teil der Bevölkerung über eine sehr große moralische Autorität verfügt. Die Orthodoxe Kirche hat aber ein Problem mit der Ukraine-Krise.

Weshalb?
Nun ja: Ein nicht unerheblicher Teil der orthodoxen Gläubigen, die sich dem Moskauer Patriarchat unterordnen, sind Ukrainer. Die will der Patriarch nicht verprellen.

Für Russland spielt nicht nur die religiöse Legitimation eine Rolle. In seiner Rede zum Anschluss der Krim vor der Staatsduma verglich Wladimir Putin die Vorgänge in der Ukraine mit dem „Arabischen Frühling“. Russische Nationalisten feiern bereits ihren „Russischen Frühling“.
Was gerade in Russland abläuft ist eine präventive konservative Revolution. Putin hat sie ausgelöst, um seine eigene Macht zu sichern, die seit den Protesten 2011 leicht am Bröckeln war. Die völkischen Töne, die dabei mitschwingen, werden zwar wohl nicht im Kreml geteilt, aber gern genutzt.

Will dann die russische Gesellschaft ein ethnisch definiertes Großrussland, ein „Velikaja Rossija“?
Die Zustimmung zum Anschluss der Krim ist in Russland zwar groß, ist aber etwas Anderes als die Zustimmung zu diesen völkischen Theorien.

Wenn man das russische Fernsehen anschaut, denkt man etwas Anderes.
Es ist schon so, dass die Leute, die jetzt von der Leine gelassen worden sind, nationalistisch argumentieren und im russischen Fernsehen fast nur noch auftauchen. Aber viele Russen wünschen eben keinen Anschluss der Ost-Ukraine. Deshalb muss die Propaganda übrigens viel stärker mit der Bedrohung der dort lebenden ethnischen Russen arbeiten als auf der Krim. Und sie wirkt. Andere Meinungen kommen im öffentlichen Diskurs praktisch nicht mehr vor.

Wie positioniert sich denn die alternative russische Öffentlichkeit in der Ukraine-Krise, wie beispielsweise der kritische Sender Doschd‘ oder die Plattform Slon.ru?
Sie positioniert sich klar, ist zugleich aber sehr verschreckt. Viele erwarten, dass sich die innenpolitischen Repressionen verstärken werden, wenn sich die außenpolitische Krise gelegt hat.

Sie schreiben in Ihrem Blog von einem allgemein steigenden Druck auf die Medien. Was heißt das konkret?
Es ist ein offenes Geheimnis, dass es morgens Wünsche aus dem Kreml an die Redaktionen gibt: Wie soll worüber in welcher Form wann berichtet werden. Die drei wichtigsten, landesweit empfangbaren Fernsehprogramme, über die sich etwa 80% der Menschen über Politik informieren, brauchen diesen Druck gar nicht. Denn der Erste Kanal und der Fernsehkanal Russland werden beide direkt vom Kreml kontrolliert, und NTW gehört Gazprom. Aber auch alle privaten Redaktionen stehen unter diesem Druck. Sich diesen Wünschen zu widersetzen, kann gefährlich sein.

Die Zensur kennen die Russen ja noch aus der Sowjetunion.
Die heutige Zensur funktioniert aber anders. Es geht nicht so sehr über direkte Verbote oder Anweisungen, sondern mehr um eine ausgelöste Selbstzensur.

Selbstzensur aus Angst?
Wenn Sie wissen, dass Sie weiterarbeiten dürfen, wenn sie sich einigermaßen an die Vorgaben halten und sich damit auch noch ein Leben auf dem materiellen Niveau Europas leisten können, passen sich viele an. Wenn Sie Dissident sein wollen, können Sie davon ausgehen, nicht unbedingt davon leben zu können oder stehen gar in Gefahr, geschlossen zu werden.

Kommt aus dieser Angst heraus auch der „Überbietungswettbewerb in antiwestlichen Aussagen und Handlungen“, von dem Sie in Ihrem Blog berichten?
Das hat was mit der Angst zu tun. Aber auch damit, dass es eine gewisse Tradition in Russland gibt, sich dem jeweiligen Herrscher gegenüber beliebt zu machen.

Ein zaristischer Komplex?
Ja, Das ist eine Art Wettbewerb um Einfluss und Posten, aber auch eine Mischung aus Begeisterung und Angst, würde ich sagen.

Wie findet sich diese Mischung aus Begeisterung und Angst im Online-Diskurs wieder? Lange galt doch das Internet in Russland als der einzige Raum der freien Meinungsäußerung.
Ist es auch noch. Aber sogenannte Trolle, also bezahlte User, die in Foren und Sozialen Netzwerken Propaganda verbreiten, gibt es immer häufiger. Das merkt man auf Facebook und VKontakte – einem sehr populären Netzwerk in Russland. Zudem sind ja einige Blogs zum Beispiel im Life Journal und Seiten in Sozialen Netzwerken geschlossen worden. Oder auch lenta.ru, die eine der führenden oppositionellen Internetzeitungen gewesen ist.

Die Propaganda fällt teilweise wirklich peinlich aus. Es gibt zahlreiche Fälle, in denen Verletzte als Schauspieler entlarvt wurden. Dann landeten russische Militärgefährte ohne Kennzeichen auf der Krim, gut ausgerüstete Separatisten in der Ostukraine wollen nicht über ihre militärische Ausbildung sprechen.
Im Netz laufen immer noch als Fake entlarvte Propaganda-Videos. Zwar machen sich viele Leute in den Sozialen Netzwerken darüber lustig. Aber viele, die den Beitrag auf Youtube sehen, wissen nicht, dass er gestellt ist. 

Wähnt sich die russische Propaganda so stark und sicher, dass sie so stümperhaft vorgehen kann?
Offensichtlich kommt der Kreml im Moment mit dieser billigen PR in Russland durch. Viele Menschen glauben das. Im Fernsehen gibt es einfach keine Gegendarstellung. Da wird etwas behauptet, was vielleicht 10 Prozent nicht glauben – aber auf die kommt es dann nicht an.

Jens Siegert ist Leiter der Heinrich Böll Stiftung in Moskau. Er schreibt in seinem Russland-Blog regelmäßig über die russische Politik und Gesellschaft. (Foto: Böll-Stifftung)

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