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Katholische Kirche - Die Bilanz des Vatikans ist immer im Defizit

Die weltlichen Ideologien haben versagt. Weder Kommunismus noch ­Kapitalismus können den Weg aus der Krise weisen. Gelebtes Christentum aber schon.

Autoreninfo

Papst Franziskus ist seit dem 13. März das Oberhaupt der katholischen Kirche

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Dieser Beitrag ist ein Vorabdruck aus dem Buch „Über Himmel und Erde" von Papst Franziskus, das er noch als Erzbischof von Buenos Aires verfasste

In der immanenten Vorstellung des kommunistischen Systems lähmt alles, was über das Diesseits hinausgeht und eine Hoffnung im Jenseits markiert, die Tätigkeit im Hier. Da es den Menschen lähmt, ist es folglich ein Opium, das ihn konformistisch macht, ihn aushalten lässt und vom Fortschritt abhält. Aber diese Vorstellung ist nicht nur dem kommunistischen System zu eigen. Das kapitalistische System hat ebenfalls seine geistige Perversion: die Religion zähmen zu wollen. Es zähmt sie, damit sie nicht zu sehr stört, es verweltlicht sie. Eine gewisse Transzendenz darf sein, aber nur ein bisschen.

Für den religiösen Menschen bedeutet ein Akt der Anbetung Gottes, sich seinem Willen, seiner Gerechtigkeit, seinem Gesetz und seiner prophetischen Inspiration zu unterwerfen. Für den Weltmenschen hingegen, der die Religion manipuliert, ist dieser Akt völlig belanglos. In etwa wie: „Benimm dich gut, begeh’ ein paar Untaten, aber nicht zu viele.“ Das wären gute Umgangsformen und schlechte Angewohnheiten: eine Zivilisation des Konsumdenkens, des Hedonismus, der politischen Vetternwirtschaft, die Herrschaft des Geldes. Das sind alles Ausdrucksformen der Weltlichkeit.

Das Christentum verurteilt mit derselben Stärke den Kommunismus wie den ungezähmten Kapitalismus. Es gibt Privateigentum, aber mit der Verpflichtung, es in gerechten Parametern gesellschaftlich zugänglich zu machen. Ein klares Beispiel für das, was vor sich geht, ist die Geldflucht ins Ausland. Auch das Geld hat ein Vaterland, und wer eine Industrie im Land betreibt und das Geld mitnimmt, um es außerhalb des Landes zu horten, der sündigt. Denn er ehrt mit diesem Geld nicht das Land, das ihm den Reichtum gibt, und auch nicht das Volk, das arbeitet, um diesen Reichtum hervorzubringen.

In beiden antagonistischen Systemen gibt es die Vorstellung vom Opium, beim kommunistischen, weil es möchte, dass alle Arbeit dem Fortschritt des Menschen dient, eine Auffassung, die sich schon bei Nietzsche findet. Und beim kapitalistischen, weil es eine Art gezähmter Transzendenz toleriert, die sich im weltlichen Geist ausdrückt.

Ein Prediger aus den ersten Jahrhunderten des Christentums sagte, hinter jedem großen Vermögen verberge sich ein Verbrechen. Ich glaube nicht, dass das immer wahr ist. Wir haben das siebte Gebot: Du sollst nicht stehlen. Mancher hat unredlich erworbenes Geld und möchte es mit einem wohltätigen Werk gewissermaßen zurückerstatten. Ich akzeptiere nie eine Rückerstattung, sofern es keine Verhaltensänderung gibt, eine erkennbare Reue. Sonst wäscht derjenige sein Gewissen rein, aber danach geht das Spielchen weiter.

Ein religiöses Oberhaupt wurde einmal beschuldigt, Geld aus dem Drogenhandel zu empfangen; er sagte dazu, er setze das Geld für gute Zwecke ein und frage nicht, woher es komme. Das ist schlecht. Blutbeflecktes Geld kann man nicht annehmen. Die Beziehung zwischen Religion und Geld ist nie einfach gewesen. Es ist immer die Rede vom Gold des Vatikans, aber das ist ein Museum. Man muss auch zwischen dem Museum und der Religion unterscheiden. Eine Religion braucht Geld, um ihre Tätigkeiten auszuführen, und das macht man mittels Bankinstituten, daran ist nichts unzulässig. Die Frage ist, wie man das Geld nutzt, das man in Form von Zuwendungen oder als Unterstützung erhält. Die Bilanz des Vatikans ist öffentlich, sie ist immer im Defizit: Was durch Spenden oder Museumsbesuche hereinkommt, geht an Leprakranke, an Schulen, an afrikanische, asiatische, amerikanische Gemeinden.

Das Schlimmste, was einem Kirchenmenschen passieren kann, ist ein Doppelleben, ob er nun Rabbiner, Priester oder Pastor ist. Bei einem gewöhnlichen Menschen kann es vorkommen, dass er hier sein Zuhause und dort sein Liebesnest hat und dies nicht weiter verwerflich erscheint, aber bei einem Mann der Religion ist es absolut verwerflich.

Einen Vers aus dem Buch Jesaja machen auch wir im Christentum uns – als jüdisches Erbe – zu eigen: „Entzieh’ dich nicht deinen Verwandten, deinem Fleisch und Blut.“ Der Schlüssel liegt in der Parabel vom Jüngsten Gericht, wenn der Menschensohn die einen (die Guten) zu seiner Rechten und die anderen (die Schlechten) zur Linken versammelt. Der König wird dann zu denen auf der rechten Seite sagen: „Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz … Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben … ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen.“ Sie fragen, wann sie das getan haben sollen, und der König antwortet ihnen, dass sie es jedes Mal, wenn sie es für einen der Geringsten seines Reiches taten, für ihn taten. Die anderen, die es nicht taten, verurteilt er.

Im Christentum ist die Haltung der Armut und den Armen gegenüber – in ihrem Kern – eine wirkliche Verpflichtung. Diese Verpflichtung muss ganz aus nächster Nähe persönlich erfüllt werden. Es ist nicht damit getan, dass sie durch die Institutionen erledigt wird, was hilfreich ist, weil es einen Multiplikationseffekt hat; aber es genügt nicht, es befreit nicht von der Verpflichtung, in Kontakt mit den Bedürftigen zu treten. Man muss den Kranken pflegen – selbst wenn das Widerwillen, Ekel hervorruft –, man muss den Häftling besuchen.

Ich finde es schrecklich schwer, in ein Gefängnis zu gehen, denn was man dort sieht, ist sehr hart. Aber ich gehe trotzdem, denn der Herr möchte, dass ich ganz nah am Bedürftigen bin, am Armen, am Leidenden. Die erste Aufmerksamkeit der Armut gegenüber ist unterstützender Art: „Hast du Hunger? Nimm, hier hast du etwas zu essen.“ Doch dort sollte die Hilfe nicht stehen bleiben, man muss Wege der Förderung und der Integration in die Gemeinschaft aufzeigen. Der Arme soll nicht für immer am Rande stehen bleiben.

Wir können nicht akzeptieren, dass der zugrunde liegende Diskurs lautet: „Wir, denen es gut geht, geben dem etwas, dem es schlecht geht, doch er soll bloß dort bleiben, weit weg von uns.“ Das ist nicht christlich. Unbedingt muss man ihn so bald wie möglich in unsere Gemeinschaft eingliedern, mit Erziehung, mit Handwerksschulen. So, dass er da rauskommen kann. Diese Auffassung herrschte im 19. Jahrhundert mit den Schulen vor, die Don Bosco für alle bedürftigen Jugendlichen schuf, die er in seinem Oratorium versammelt hatte. Don Bosco dachte, dass es wenig Sinn habe, sie aufs Lyzeum zu schicken, weil ihnen das für ihr Leben nichts nutzen würde, daher schuf er Handwerksschulen.

Etwas Ähnliches wiederholen gerade die Geistlichen in den Elendsvierteln von Buenos Aires; sie bemühen sich, dass die jungen Leute mit einem oder zwei Jahren Lehrzeit eine Ausbildung erhalten, die ihrem Leben einen anderen Lauf gibt: Sie werden Elektriker, Köche, Schneider. Man muss fördern, dass sie sich ihre Brötchen verdienen können. Es setzt den Armen herab, nicht über dieses Öl zu verfügen, das einen mit Würde salbt: die Arbeit.
Man darf sich vor dem Armen nicht ekeln, man muss ihm in die Augen sehen. Manchmal ist das unangenehm, aber wir müssen dafür einstehen, was unsere Lebensrealität ist. Die große Gefahr – oder die große Versuchung – bei der Unterstützung der Armen liegt darin, in protektionistischen Paternalismus zu verfallen, der sie letztlich nicht wachsen lässt. Die Verpflichtung des Christen ist es, selbst den Besitzlosesten in die Gemeinschaft zu integrieren, so gut es geht, ihn auf jeden Fall irgendwie zu integrieren.

Die christliche Liebe ist die Liebe zu Gott und zum Nächsten. Sie kann mit der Unterstützung beginnen, doch darf sie sich nicht auf die Organisation von Teepartys beschränken. Es gibt Veranstaltungen, die sich wohltätig nennen und in Wirklichkeit gesellschaftliche Events sind. Diese Art von Aktionen werden durchgeführt, damit man sich selbst gut fühlt, doch die Liebe setzt immer voraus, aus sich herauszugehen, sich selbst zurückzustellen. Die geliebte Person verlangt, dass ich mich in ihren Dienst stelle. Aber es gibt Karikaturen der Nächstenliebe.

Einmal, ich war schon Bischof, erhielt ich eine Einladung für ein Benefiz-Dinner der Caritas. An den Tischen saß, wie man so sagt, die Crème de la Crème. Ich entschied, nicht hinzugehen. An jenem Tag gehörte zu den Geladenen der damalige Präsident. Bei diesem Treffen wurden Sachen versteigert, und nach dem ersten Gang kam eine goldene Rolex unter den Hammer. Eine wirkliche Schande, eine Kränkung, ein schlechter Gebrauch der Nächstenliebe. Man suchte nach jemandem, der mit dieser Uhr eitel herumprotzen wollte, um die Armen zu speisen.

Zum Glück werden bei der Caritas solche Sachen nicht mehr gemacht. Heute begleitet sie kontinuierlich die Förderung von Schulen, unterhält Häuser für alleinerziehende Mütter und Obdachlose, hat eine Bäckerei, wo auch das Kunsthandwerk verkauft wird, das die jungen Leute in den Handwerksschulen herstellen. Das ist Armenförderung durch den Armen selbst. Manchmal werden im Namen der Nächstenliebe Aktionen veranstaltet, die nicht karitativ sind, sie sind wie Karikaturen einer guten Absicht. Es gibt keine Wohltätigkeit ohne Liebe, und wenn bei der Unterstützung des Bedürftigen die eigene Eitelkeit genährt wird, ist da keine Liebe, dann täuscht man etwas vor.

Wenn man das Handbuch der Soziallehre der Kirche aufschlägt, wundert man sich über die Anklagen darin. Zum Beispiel die Verurteilung des Wirtschaftsliberalismus. Alle denken, die Kirche sei gegen den Kommunismus; doch sie ist ebenso gegen dieses System wie gegen den ungezähmten Wirtschaftsliberalismus von heute. Das ist auch kein Christentum, wir können das nicht akzeptieren. Wir müssen die Gleichheit von Chancen und Rechten suchen, für soziale Vorrechte eintreten, würdige Renten, Urlaub, Ruhetage, die Freiheit zum Zusammenschluss. All diese Fragen machen die soziale Gerechtigkeit aus. Es darf keine Besitzlosen geben, und es gibt keine schlimmere Besitzlosigkeit, als sich seinen Lebensunterhalt nicht verdienen zu können, nicht die Würde der Arbeit zu haben.

Eine Anekdote klärt vielleicht das Bewusstsein der Kirche zu diesem Thema: Als bei einer der vielen Verfolgungen der Kaiser von Laurentius, einem römischen Diakon, verlangte, er solle ihm kurzfristig die Schätze der Kirche herausgeben, kam Laurentius ein paar Tage später mit einer Gruppe Armer zu dem Treffen und sagte: „Diese Menschen sind der wahre Schatz der Kirche.“ Dieses Paradigma müssen wir pflegen, denn jedes Mal, wenn wir uns davon entfernen – sei es als Institution im Ganzen oder als kleine Gemeinschaft – verleugnen wir unser Wesen. Wir rühmen uns in der Schwäche unseres Volkes, dem wir helfen voranzukommen.

Die Armen sind der Schatz der Kirche, man muss für sie sorgen; und wenn wir diese Vision nicht haben, werden wir eine mediokre, laue, kraftlose Kirche errichten. Unsere wahre Macht muss das Dienen sein. Man kann Gott nicht verehren, wenn in unserem Geist der Bedürftige keinen Platz hat. 

Übersetzung: Silke Kleemann und Matthias Strobel

 

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