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Neustart der EU - Diesen 10-Punkte-Plan muss Juncker abarbeiten

EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker hat eine große Parteienallianz hinter sich. Das ist eine gute Ausgangslage, um in der Europäischen Union den „Reset“-Knopf zu drücken. Auf Juncker warten zehn wichtige Aufgaben

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Eric Bonse berichtet seit 2004 aus Brüssel über Europapolitik. Er betreibt auch den EU-Watchblog „Lost in Europe“.

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Die Europäische Union gibt wieder einmal ein unglückliches Bild ab. Beim EU-Gipfel ist es den 28 Staats- und Regierungschefs nicht gelungen, sich auf die Nachfolger von Ratspräsident Herman Van Rompuy und Außenvertreterin Catherine Ashton zu einigen. Zu weit lagen die Positionen zwischen Konservativen und Sozialdemokraten, Ost- und Südeuropäern sowie dem neuen Kommissionschef Jean-Claude Juncker auseinander.

Immerhin: Die EU hat einen neuen Kommissionschef. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit – doch dafür muss man mittlerweile fast schon dankbar sein. Nach wochenlangem Gezerre und gegen massiven Widerstand aus Großbritannien war Juncker am Dienstag im Europaparlament gewählt worden – mit den Stimmen einer ganz großen Koalition, die von CDU/CSU und ihren Schwesterparteien über SPD bis hin zu Liberalen und einigen Grünen reicht.

Juncker ist nun bis auf Weiteres der Einzige, der der entscheidungsunfähigen EU einen Weg nach vorn weisen kann. Erst Ende August wollen Bundeskanzlerin Angela Merkel und die anderen EU-Chefs nachholen, woran sie am Mittwoch gescheitert waren – und ein Personalpaket schnüren. Nach Lage der Dinge wird es wieder ein fauler Kompromiss, ausgekungelt in dunklen Hinterzimmern.

So kann es nicht weitergehen – und das sollte Juncker nutzen. Gestützt auf das Ergebnis der Europawahl, das ja auch ein Aufschrei gegen die Kungelei der Chefs war, sollte er den Reset-Knopf drücken und einen Neustart wagen. Hinter Juncker steht eine ganz große Koalition aus Konservativen, Sozialdemokraten, Liberalen und einigen Grünen. Er hat ein Mandat für den überfälligen Wandel.

Juncker muss sich auf eine klare Linie festlegen, vor allem aber mit der bisherigen Politik brechen. Sie ist unter dem scheidenden Kommissionschef José Manuel Barroso völlig unlesbar geworden, da sie zwischen haltlosen Versprechen („wettbewerbsfähigste Region der Welt“) und historischen Fehlleistungen (Eurokrise) hin- und herirrte und am Ende fast alle verprellte, auch in Deutschland.

Hier zehn Vorschläge für einen gelungenen Neustart:

1. Schonungslose Bilanz: Wie jede neue Regierung sollte Juncker einen Kassensturz durchführen und eine Bilanz der letzten Jahre vorlegen. Warum ist die EU im weltweiten Wettbewerb zurückgefallen? Wieso haben sich die Unterschiede innerhalb Europas seit der Finanz- und Eurokrise noch verstärkt? Reichen die Finanzmittel, um die Versäumnisse zu beheben und die Union zu stärken?

2. Alle Politiken auf den Prüfstand stellen. Die alten EU-Strategien sind an ihre Grenzen gestoßen. Marktöffnung, Liberalisierung und Privatisierung sollten Wachstum und Jobs schaffen. Doch daraus wurde nichts. Auf den Prüfstand gehören auch neue, bisher unerfüllte Versprechen wie die Jugendgarantie und bürokratische Prozeduren wie das Europäische Semester.

3. Neue, realistische Ziele definieren. Bisher hat die EU fast alles versprochen und nur wenig gehalten. Juncker sollte daher realistische, überprüfbare Ziele definieren. Wo wollen wir in fünf Jahren, am Ende der Amtszeit der nächsten EU-Kommission, stehen? Wie viele neue Jobs kann die EU schaffen, welche Investitionen will sie anstoßen? Daran muss er sich messen lassen.

4. Neue Mittel mobilisieren. Juncker hat ein Investitionsprogramm über 300 Milliarden Euro angekündigt – doch die Finanzierung ist unklar. Wenn er es ernst meint, muss er neue Finanzmittel mobilisieren – über eigene EU-Steuern (wie im Lissabon-Vertrag vorgesehen), neue Projektbonds (werden schon erprobt) oder einen Investitionsfonds, wie ihn das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung vorschlägt.

5. Sich von den Hauptstädten emanzipieren. Noch-Kommissionschef Barroso holte sich für alle wichtigen Vorschläge erst eine Genehmigung in den nationalen Hauptstädten, zuletzt vor allem in Berlin. Damit hat er der EU-Kommission ihre Rolle als Motor genommen. Juncker muss diese Rolle wiederfinden – und sich dafür auch von Kanzlerin Merkel emanzipieren.

6. Großbritannien härter rannehmen. Der britische Premier David Cameron wollte nicht nur mit aller Gewalt Juncker verhindern. Er möchte seinem Land auch neue Sonderrechte sichern und den EU-Vertrag aushebeln. Doch damit legt er die Axt an die Union. Schon aus Selbstachtung sollte Juncker Großbritannien daher härter rannehmen und neue Extrawürste verweigern.

7. Einen symbolischen Bruch wagen. Damit der Neustart gelingt, muss Juncker Zeichen setzen. Die Abschaffung der in Südeuropa verhassten Troika wäre so ein starkes Symbol. Wünschenswert wäre auch ein Neustart der Verhandlungen mit den USA über ein Freihandels-Abkommen (TTIP). Ein solcher symbolischer Bruch würde signalisieren, dass es Juncker wirklich ernst meint.

8. Die Kommission neu organisieren. EU-Kommissar Guenther Oettinger sprach im Cicero-Interview von Clustern, die wichtige Themen wie Energie oder Wettbewerb politisch und personell bündeln sollen. Doch das reicht nicht aus. Juncker muss die Kommission auch endlich transparent und rechenschaftspflichtig machen – mit Abstimmungen und Auswechslungen, wenn ein Kommissar versagt.

9. Das Europaparlament stärker einbinden. Um seine Legitimation zu stärken und die  übermächtigen Staats- und Regierungschefs zurückzudrängen, sollte Juncker auf das EU-Parlament zugehen. Das gilt insbesondere für Themen rund um den Euro. Sinnvoll wäre es aber auch, Vorschläge der Abgeordneten für neue Gesetze aufzugreifen und so mehr Demokratie zu wagen.

10. Die Bürger direkter ansprechen. Unter Barroso hat sich die EU in ihrem „Raumschiff Brüssel“ verschanzt. Juncker kann ein Neustart nur gelingen, wenn er auf die Bürger zugeht und die Zivilgesellschaft stärker einbindet. Man müsse mehr auf Ängste und Schutzbedürfnisse eingehen, hat EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy gefordert. Der Mann hat Recht.

Wird Juncker einen Neustart wagen? „Eine Revolution steht nicht auf der Tagesordnung“, hat er bei seiner Antrittsrede im Europaparlament gesagt. Aber er hat auch versprochen, auf die Bürger zu hören. Und die wollen jetzt Ergebnisse sehen.

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