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Mordfall Litwinenko - Im Namen der Gesetzlosigkeit

In London ist die Empörung über den vom Kreml „wahrscheinlich“ in Auftrag gegebenen Mord am ehemaligen russischen Geheimdienstagenten Alexander Litwinenko groß. Doch kann die britische Regierung es sich leisten, den russischen Präsidenten zu verstimmen?

Tessa Szyszkowitz

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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Als Alexander Litwinenko vor den Augen der Welt im November 2006 in einem Londoner Krankenhausbett dahinsiechte, konnte niemand wissen, welche diplomatische Verwicklungen die seltsame Vergiftung des ehemaligen russischen Agenten noch bringen würde. Erst gut neun Jahre später steht es schwarz auf weiß unter Punkt 10.16 auf Seite 247 des Berichts zum Untersuchungsausschuss der Causa Litwinenko: „Die FSB-Operation, der Mord an Herrn Litwinenko, wurde wahrscheinlich von Herrn Patruschew und auch von Präsident Putin genehmigt.“

Mit diesem verbalen Hammerschlag beschloss Richter Robert Owen am 22. Januar seine Schlussfolgerungen. Demnach hat die russische Führung den Mord an einem britischen Staatsbürger auf britischem Boden in Auftrag gegeben. Denn Alexander Litwinenko war knapp vor seiner Ermordung Brite geworden. Im Gerichtssaal schnappten viele hörbar nach Luft, als Wladimir Putins Name genannt wurde.

Zur Auslieferung der beiden Täter nach England ist es nie gekommen
 

Der Litwinenko-Ausschuss hatte vor einem Jahr in den Royal Courts of Justice in London begonnen. Bis ins kleinste Detail wurden die Umstände und Hintergründe des Gifttods untersucht. Der Bericht hat keine zwingenden juristischen Folgen. Und überraschend ist er auch nicht unbedingt. Schon nach dem Tod Litwinenkos hatte die britische Polizei den Fall geprüft und war zu dem Schluss gekommen, dass der vormalige FSB-Agent von seinen Kollegen Andrei Lugowoi und Dmitri Kowtun mit Polonium-210 vergiftet worden war, einem außerordentlich giftigen radioaktiven Isotop.

Dem Antrag auf Auslieferung der beiden russischen Bürger wurde aber von der russischen Regierung nie stattgegeben. Im Gegenteil: Andrei Lugowoi wurde 2007 Abgeordetneter der kremlfreundlichen Liberaldemokratischen Partei – und genoss fortan parlamentarische Immunität. 2015 verlieh Präsident Putin dem seit 1996 offiziell aus dem FSB ausgeschiedenen Offizier einen Orden für „Verdienste um das Vaterland“.  Für Ben Emmerson, Anwalt von Alexander Litwinenkos Witwe Marina, war schon zu Beginn des Untersuchungsausschusses klar: „Die Spur des Polonium-210 führt zur Tür von Wladimir Putins Büro.“

Witwe Litwinenkos fordert Sanktionen gegen Russland
 

Die streitbare Witwe Marina Litwinenko, die sich unermüdlich über die Jahre dafür eingesetzt hatte, dass der Mord an ihrem Mann offiziell untersucht wird, legte in einer persönlichen Pressekonferenz vorigen Donnerstag noch eines drauf: „Es ist nicht denkbar, dass der britische Premierminister nach diesen Schlussfolgerungen keine weiteren Schritte setzt.” Sie fordert Sanktionen gegen Russland. Sie will ein Einreiseverbot für Wladimir Putin. Im Gespräch mit Cicero sagte Marina Litwinenko am Montag nachdenklich: „Vielleicht geht das nicht sofort. Doch eines ist klar: Wladimir Putin ist hier in London kein willkommener Gast mehr.“

Könnte die britische Regierung dem russischen Präsidenten tatsächlich die Einreise verweigern? Innenministerin Theresa May ließ erst einmal das Vermögen der mutmaßlichen Mörder Lugowoi und Kowtun einfrieren. Weitere Maßnahmen werden geprüft.

Russland ist ein wichtiger Exportmarkt für das Vereinigte Königreich
 

Von den Oppositionsbänken erhob sich ein Sturm der Entrüstung. Schattenjustizminister Andy Burnham von der Labour Party etwa forderte stärkere Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Einige Abgeordnete riefen nach der Ausweitung der Magnitzky-Liste auf Litwinenkos Fall. Nachdem der russische Anwalt Sergei Magnitzky im November 2009 von korrupten Innenministeriumsbeamten in einem Moskauer Gefängnis  zu Tode geprügelt worden war, hatte sein Boss, der britisch-amerikanische Finanzinvestor Bill Browder, eine internationale Kampagne gestartet: Magnitzkys Mörder sollten mit Einreiseverboten in den Westen belegt werden. In Amerika ist dies gelungen. In Europa noch nicht. Das britische Parlament hatte 2012 der Regierung empfohlen, die sogenannte Magnitzky-Liste mit den Namen der Verantwortlichen an seinem Tod anzuerkennen. Diesen Individuen sollten die Einreise nach Großbritannien versagt und ihre Vermögen eingefroren werden. Die britische Regierung aber hat dies nicht getan.

Grund dafür sind nicht nur die bilateralen Beziehungen – London ist und bleibt ein Spielplatz der schwerreichen russischen Elite. Vom Putin-Freund Roman Abramowitsch abwärts genießen viele betuchte Russen und ihre Sprösslinge die britische Hauptstadt, ihre Immobilien, Restaurants und exklusiven Internate. Die lukrativen Gäste will man nicht verstimmen. Russland ist zudem für die britische Wirtschaft nach der EU, den USA und China der wichtigste Exportmarkt.

Russland nimmt Schlüssel-Rolle in Syrien-Frage ein
 

Der britische Premierminister David Cameron muss auch aus internationalen Überlegungen im Umgang mit Russland vorsichtig sein. Im Dezember hatten die EU-Staatschefs nur unter Mühen noch einmal einen Konsens zustande bekommen, die Sanktionen gegen Russland um sechs Monate zu verlängern. Diese diplomatischen und wirtschaftlichen Sanktionen waren wegen des russischen Überfalls auf die Ukraine und die nach internationalem Recht illegale Annexion der Krim an Russland 2014 verhängt worden. Einige EU-Staaten und die USA sind aber bereits der Meinung, man sollte die Sanktionen nicht mehr verlängern, da Russland die Kampfhandlungen in der Ostukraine zurückgefahren hat.

Das liegt auch an Russlands neuem Engagement in Syrien. Kann man Nikolai Patrushew, den Chef des russisches Geheimdienstes zu Zeiten der Ermordung Litwinenkos, auf eine schwarze Liste setzen, wenn die internationale Gemeinschaft unter Einschluss der russischen Regierung versucht, dem „Islamischen Staat“ Einhalt zu gebieten und eine gemeinsame Lösung für Syrien zu finden? Patruschew ist heute nicht mehr FSB-Chef, sitzt aber dem russischen Sicherheitsrat vor. Der Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsapparaten würde ein solcher Schritt kaum dienen.

Cameron braucht Russland für Syrien-Lösung
 

London richtet zudem gemeinsam mit Berlin für den 4. Februar eine internationale Syrien-Geberkonferenz aus, zu der eventuell auch der russische Präsident anreisen will. Wenn David Cameron und Angela Merkel den russischen Staatschef im Boot haben wollen, kann man ihn schwer vorher mit Einreiseverbot belegen. Oder auch nur riskieren, ihn zu brüskieren. Die Reaktion von Premierminister David Cameron auf den Schlussbericht zu Litwinenkos Ermordung fiel daher eher zahm aus. Er brauche die russische Führung für eine Syrien-Lösung und arbeite daran mit „klarem Blick und sehr kaltem Herzen“.

Witwe Marina Litwinenko sieht ihre Mission nicht als beendet an. „Wir werden weiter daran arbeiten, dass das Europäische Parlament und das britische Parlament auf die russische Staatsduma Druck ausüben, den Mörder Andrei Lugowoi nicht länger als Abgeordneten zu dulden. Lugowoi und Kowtun haben einen Mord begangen, das sollten russische Gesetzgeber nicht dulden.“ Ein Kommentator in der Tageszeitung Guardian ruft ebenfalls zur „Europäisierung“ des Falles auf: „Europäische Regierungen sollten auf eine gemeinsame Sanktionsliste hinarbeiten.“

Putin legt viel Wert auf Loyalität und duldet keinen Verrat
 

Lugowoi und Kowtun weisen jede Schuld weit von sich. Putins Sprecher Dmitri Peskow hält den ganzen Bericht für „ein Beispiel britischen Humors“. Ob es Wladimir Putin stört, dass er von einem britischen Untersuchungsbericht bezichtigt wird, „wahrscheinlich“ einen Mord in Auftrag gegeben zu haben? Russland-Experte Ivan Krastev vom „Center for Liberal Studies in Sofia“ analysiert Putins Entscheidungsprozesse seit Jahren. Er glaubt, ein Schlüssel zum Verständnis seiner Politik sei Loyalität: „Er ist damit an die Macht gekommen. Persönliche Freundschaften sind ihm wichtig.“

Umgekehrt kann Putin es nicht leiden, wenn jemand ihn verrät. Und genau das hat Alexander Litwinenko in Putins Augen wohl getan. 1998 ging der FSB-Offizier in einer Pressekonferenz in Moskau gegen seine eigenen Chefs mit einem ungeheuerlichen Vorwurf an die Öffentlichkeit. Litwinenko arbeitete damals in einer Spezialeinheit, die sich mit organisiertem Verbrechen beschäftigte. Er behauptete, seine Vorgesetzten hätten ihn aufgefordert, den einflussreichen Oligarchen Boris Berezowski zu ermorden. Litwinenko wurde in der Folge verhaftet. Im Jahr 2000 konnte er mit Frau und Sohn aus Russland nach London fliehen. Der Chef des FSB hieß 1998: Wladimir Putin.

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