Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
(picture alliance) Jordanische Islamisten protestieren in Amman: Doch 2012 braucht sich der Westen nicht vor den Radikalen zu fürchten

Arabischer Frühling 2012 - Keine Panik, die Bärtigen kommen

CICERO ONLINE schaut in einer Reihe auf die wichtigsten Themen 2012. Heute: Die Islamisten übernehmen den Nahen Osten. Ob in Ägypten, Libyen, Tunesien oder im Jemen, überall werden 2012 islamistische Parteien die höchsten Staatsämter besetzen. Das ist kein Grund zur Panik, im Gegenteil, das ist längst überfällig. Aus Kairo berichtet Raphael Thelen

Der weltweite Jubel war groß, als sein Tod verkündet wurde. Zehn Jahre lang war Osama bin Laden des Westens schlimmster Alptraum. Nicht ein amerikanisches Einsatzkommando hat ihn jedoch getötet, er starb schon im Januar von Händen der Freiheitskämpfer des Arabischen Frühlings. Sein Gerede vom Kampf gegen Ungläubige und den Westen wurde irgendwo zwischen Sidi Bouzid und dem Tahrir-Platz irrelevant.

Bin Ladens Beerdigung findet 2012 statt. Dann nämlich, wenn in Tunis, Tripoli und Kairo islamistische Parteien Regierungsverantwortung übernehmen und endlich diskutieren müssen, was Islamismus in modernen, globalisierten Staaten bedeutet. Vieles spricht zugleich dafür, dass der Westen 2012 sein Bild vom bärtigen, gewaltbereiten Islamisten überdenken muss. Denn Koran und Kopftuch füllen keine Mägen, es geht den Menschen um Brot und Butter. Für Jihad-Rhetorik bleibt da wenig Platz, es macht sich schlecht im Gespräch mit westlichen Investoren und in Urlaubsprospekten.

Im Jemen, dem unterentwickeltsten Land der Region, hat zum Beispiel eine Frau den Friedensnobelpreis erhalten und dafür auch im eigenen Land viel Beifall erhalten. Tawakkul Karman ist das Gesicht der jemenitischen Protestbewegung, Frauenrechtlerin und eine Führungspersönlichkeit der jemenitischen Oppositionspartei Islah. In den vergangenen Jahren haben sie und ihre Mitstreiterinnen in der Islah-Partei, zu der auch die Muslimbruderschaft gehört, erkämpft, dass es für jedes Parteigremium ein weibliches Pendant gibt. Ihre Verhaftung am 22. Januar 2011 durch Präsident Ali Abdullah Salihs Regime war der Auslöser der Protestbewegung. Für Menschen wie Karman sind Demokratie und Islam keine Widersprüche.

Ihre Entscheidung, den Niqab, einen Schleier, der nur die Augen freilässt, gegen ein einfaches Kopftuch zu tauschen, löste im Jemen heftige Kontroversen aus. Vor allem konservative Strömungen wie die Salafisten bekämpfen sie ganz offen. Unter Salih und seinen autoritären Kollegen in der Region wurden solche gesellschaftlichen Diskussionen nicht geduldet. Die Unterdrückung ließ nur den Weg in die Sektiererei und Radikalisierung offen. Die in den letzten Monaten gewonnene Freiheit hingegen hat eine nie gekannte Pluralität geboren. Tawakkul Karman ist Teil dieser neuen Pluralität.

Die ägyptische Muslimbruderschaft macht gerade ähnliche Erfahrungen. Ihr radikalster Prediger, Sayyid Qutb, schrieb 1964 sein bekanntestes Pamphlet in den Foltergefängnissen Gamal Abdel Nassers. Auch unter Nassers Nachfolgern war strikte Parteidisziplin überlebenswichtig. Im Jahre 2011 hingegen ist in der Partei ein lautstarker Streit entbrannt. Junge und alte, moderate und radikale Muslimbrüder streiten darüber, was Islamismus heute bedeutet. Die junge Generation, aufgewachsen mit Twitter und Facebook, pocht auf Entkrustung. Die Organisation modernisiert sich, sucht nach Kompromissen. 

Bei den laufenden Wahlen in Ägypten wird die Partei der Muslimbruderschaft voraussichtlich 40 Prozent erreichen. Die salafistische Nour-Partei wird auf ein Viertel der Stimmen kommen. Die Salafisten eifern in ihren religiösen und gesellschaftlichen Vorstellungen Saudi-Arabien nach. Die Muslimbrüder lehnen diese strikte Auslegung des Korans ab. Insgesamt haben die Wahlen gezeigt, dass die Menschen wollen, dass der Islam in ihrem Leben eine Rolle spielt. Vollverschleierung und Fahrverbot für Frauen sind in den Ländern des Arabischen Frühlings jedoch schwer vorstellbar.

Seite 2: Die Revolutionen haben die Armut in vielen Regionen noch verschärft.

Solche ideologischen Diskussionen dürften in den kommenden Monaten jedoch insgesamt zweitrangig sein. Die Revolutionen haben die Armut vieler Menschen in der Region noch verschärft. In Ägypten und Tunesien bleiben die Touristen aus, ausländische Investoren in Libyen haben während der Kämpfe ihre Gelder abgezogen.

Die Muslimbrüder haben darauf schon reagiert. Fast ein Zehntel der ägyptischen Bevölkerung hängt vom Fremdenverkehr ab. Als die Islamisten dies öffentlich kritisierten, gingen rund 1.000 Arbeiter der Tourismusbranche in Kairo auf die Straße. Bruderschaftschef Mohamed Badi ruderte daraufhin zurück – und besuchte demonstrativ das antike Luxor.

Rashid Ghannouchi, der Chef der islamistischen Nahda-Partei, die in Tunesien 40 Prozent der Sitze im Parlament errungen hat, denkt ähnlich. In Teilen des Landes hängt jeder zweite Job von ausländischen Touristen ab. Die Revolution hat jedoch viele Urlauber abgeschreckt. Die liberalen, frankophonen Bevölkerungsschichten haben ebenfalls Angst vor einer Islamisierung. Ghanouchi weiß um diese Ängste. Er weiß auch, dass er das Land beruhigen muss, will er die Touristen zurück an die tunesische Mittelmeerküste bringen.

Trotz des Wahlerfolgs hat die Nahda-Partei deshalb nur den Posten des Premierministers für sich beansprucht. Präsident ist der säkular-liberale Menschenrechtler Moncef Marzouki. Auch der neue Parlamentssprecher Mustapha Ben Jafar entspringt einer links-liberalen Partei.

Rashid Ghanouchi selbst hat auf einen Posten verzichtet, hält im Hintergrund jedoch die Fäden. Als inhaltliches Vorbild nennt er immer wieder die türkische Regierungspartei AKP und ihren Premierminister Recep Tayyip Erdogan. Dieser ist in der Region ungemein beliebt. Doch nicht auf Grund seiner Islamisierungstendenzen, sondern weil er die Türkei mit Wachstumsraten um die zehn Prozent zu einer der am stärksten boomenden Volkswirtschaften der Welt gemacht hat.

Erdogan hat keine weiße Weste, wenn es um Menschenrechte geht – und auch die verschiedenen islamistischen Strömungen in der Region haben eine Vergangenheit. In Ägypten fürchten sich Kopten und andere Minderheiten zu Recht vor zunehmender Diskriminierung. Tunesische Frauenrechtlerinnen sehen ihre Freiheit in Gefahr. Doch zum ersten Mal nach Jahrzehnten der Unterdrückung haben alle Bevölkerungsgruppen in den Ländern der Region die Möglichkeit mitzubestimmen, in was für einer Gesellschaft sie leben wollen. Im demokratischen Für und Wider bleibt da für Extrempositionen wenig Raum.

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.