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Asylpolitik - In Moralgewittern

Die öffentliche Empörungsautomatik vernebelt das Denken in der Flüchtlingsdebatte. Anstatt sich konkret zwischen Shuttel-Service und Einwanderungsquoten zu entscheiden, ziehen sich die Aufschreier in eine Komfort-Zone der „Moral to go“ zurück 

Autoreninfo

Reinhard Mohr (*1955) ist Publizist und lebt in Berlin. Vor Kurzem erschien sein Buch „Deutschland zwischen Größenwahn und Selbstverleugnung. Warum es keine Mitte mehr gibt“ (Europa Verlag, München).

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Jüngst rief mich spätabends ein Freund an, der für die ARD einst viele Jahre aus Nordafrika berichtet hatte. Natürlich ein alter 68er, natürlich polyglott, weitgereist und multikulturell geprägt. Ob er denn der einzige Verrückte sei, dem die anhaltende Lampedusa-Welle im Lande auf die Nerven gehe, diese La-Ola-Welle der Betroffenheitsapostel, Berufshumanisten und Gutmenschen, die sich gar nicht mehr einkriegen können vor lauter „Schande, Schande!“-Rufen und Dauerklagen über die „menschenverachtende Festung Europa“.

Bigotte Gratis-Empörung hat nichts mit Opfern zu tun

So waren wir schon mal zwei Verrückte, die die wohlfeile Gratis-Empörung auf allen Kanälen ziemlich bigott finden. Denn mit den konkreten Opfern hat sie so gut wie nichts zu tun. Was genau in den Herkunftsländern der Flüchtlinge passiert, in Somalia, Libyen, Syrien, Sudan, Ägypten, Äthopien oder Eritrea, hat in den letzten Jahren kaum jemanden unter all denen interessiert, die sich jetzt ihrer selbst entlastenden Empörungslust hingeben.

Wen kümmert schon das alltägliche Leiden und Sterben in Eritrea, wo die einst als fortschrittlich geltende „Eritreische Volksbefreiungsfront“ längst eine brutale „marxistische“ Diktatur errichtet hat, die es schafft, in Sachen Pressefreiheit Jahr für Jahr den letzten Platz aller Länder einzunehmen, noch hinter Nordkorea.

Professionelle Moralprediger

Wo waren hierzulande die Demonstrationen gegen Assads grausamen Krieg gegen das eigene Volk, bevor er zum Bürgerkrieg eskaliert ist?  Wo bleibt das Engagement für eine friedliche und demokratische Zukunft Ägyptens, Tunesiens, Marokkos, von Somalia zu schweigen, wo islamistische Banden die Bevölkerung terrorisieren?

Nebbich. Das sind die falschen Fragen. Denn um die komplizierte, weit entfernte Realität geht es ja gar nicht bei derart rituellen Aufwallungen der Öffentlichkeit: Es geht um die eigene Befindlichkeit, um Schuldgefühle und den Versuch, sich ihrer möglichst umstandslos zu entledigen.   

„'s ist Krieg! 's ist Krieg! O Gottes Engel wehre,
Und rede du darein!
's ist leider Krieg - und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!“

dichtete Matthias Claudius 1778 und lieferte so unfreiwillig das unvergängliche Motto für professionelle Moralprediger wie Claudia Roth und Martin Schulz – das Begehren, nicht schuld daran zu sein, ganz unschuldig und blütenrein. Wer aber unschuldig ist, gut und weise, kann alle anderen anklagen.

Abstraktes „Wir“ für die Rettung des Egos

Aber Achtung Dialektik: Die moralische Wucht wird umso stärker, je mehr in ihr sorgfältig austarierte Anteile einer – freilich stellvertretend kollektiven – Selbstanklage mitschwingen. Eine Prise Flagellantentum haben Heuchler zu allen Zeiten eingestreut, um das große abstrakte „Wir“ („Wir Europäer, gerade wir Deutsche…“) für die konkrete Seelenrettung des kleinen Egos zu benutzen. Die katholische Kirche – ob Heilige oder Sünder – weiß seit zweitausend Jahren ein garstig Lied davon zu singen.

Die scheinheilig vorgeführte Scham eines diffusen Kollektivs, einer metaphysischen o-Mensch-Allheit, eignet sich perfekt dazu, von eigener Ratlosigkeit, Unfähigkeit oder gar Gleichgültigkeit abzulenken und die großzügig eingeforderte moralische Verantwortung stets bei anderen zu entdecken.

Keine Frage, dass hier auch therapeutische Effekte wirken, und wer ehrlich ist, gibt offen zu, dass es gerade die womöglich kathartische Pause im Bildersturm der Emotionen ist, die einen enormen Erholungswert für die angeschlagene Psyche hat.

Denn die psychologische Überwältigung durch die mediale Aufbereitung ferner Katastrophen funktioniert durchaus wie ein Action-Thriller im Kino: Nach dem Gewitter der Gefühle ist die Luft reiner als zuvor. Ein unangenehmer Stau hat sich gelöst und man ist wieder bereit für Neues: Ayurveda für die gestresste europäische Seele. 

Bedenkenlose Moralisierung aller Diskurse

Immer häufiger bedrückt mich dieses Reiz-Reaktionsschema unserer medialen Öffentlichkeit, die ebenso blitzschnelle wie bedenkenlose Moralisierung aller Diskurse, die die Fakten und Widersprüche der Realität völlig unter sich begräbt. Wenn der unglückselige Tod Hunderter Flüchtlinge vor Lampedusa mehr wäre als ein Fanal für eine folgenlose moralische Erregung zur Reinigung des eigenen Seelenhaushalts, dann würde man sich den kaum zu lösenden Fragen wirklich stellen. Dabei müsste man allerdings die abstrakt-moralischen Komfortzone verlassen und sich entscheiden, mit allen Konsequenzen.

Wer den Tod im Mittelmeer wirklich verhindern will, muss einen europäischen Shuttle-Service zwischen Nordafrika und Südeuropa einrichten. Die Botschaft: Wir holen Euch ab. Anschließend werden alle, die kommen wollen, nach einem bestimmten Schlüssel in den EU-Staaten verteilt. Das wäre das Konzept „Offene Grenzen“. Wer das will, soll es auch sagen.

Alternativ: Klare, berechenbare und ja, „transparente“ Einwanderungsquoten jenseits von Asylrecht und Genfer Flüchtlingskonvention. Das aber hieße: Verlässliche Grenzkontrollen an allen EU-Außengrenzen. Und: Abschiebungen all jener, die weder unters Asylrecht noch unter die Einwanderungsquote fallen. Sonst macht das Konzept keinen Sinn.

Wer sich für einen Lösungsansatz entscheidet, macht sich mit schuldig

Man sieht: Ein kompliziertes und konfliktanfälliges Verfahren, das auch in Italien und Griechenland funktionieren müsste, also dort, wo die Flüchtlingsunterkünfte heute schon jeder Beschreibung spotten und die Menschen zur Weiterflucht Richtung Nordeuropa treiben. So besteht das „Protestcamp“ am Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg inzwischen zu 95 Prozent aus „Lampedusa“-Flüchtlingen. Die Ursprungsbesatzung vom Herbst 2012 hat sich längst aus dem Staub gemacht.

Und natürlich werden, wie heute schon, viele illegale Migranten kommen – mit Hilfe von Schleppern und den individuell besten Gründen. Das Gerede von der „Festung Europa“ hat also nichts mit der Realität zu tun: Allein die 100.000 offiziellen Asylbewerber, die 2013 nach Deutschland kamen, widerlegen das bereitwillig kolportierte Klischee.

Kurz und krumm: Es gibt keine einfache Lösung, schon gar nicht jene, die mit der sinnfreien, aber eingängigen Parole „Kein Mensch ist illegal“ plakatiert wird. Wer sich für einen konkreten Lösungsansatz entscheidet, macht sich immer auch schuldig. Er schließt diese ein und andere aus, muss Chancen eröffnen und Grenzen setzen, Hoffnungen wecken und enttäuschen. Auch den Tod wird er nicht abschaffen können.

In der Debatte geht es um Affekte statt Argumente

Aber das genau ist das Problem unserer Debatten im Moralgewitter: Es geht um Affekte statt um Argumente. Ein Reizwort reicht, und schon gerät die praktische Vernunft unter die Räder – und die Wahrnehmung einer höchst widersprüchlichen Wirklichkeit.

Selbstverdummung durch – pseudomoralische –  Selbsterhöhung.

Dann wird auch ein Hungerstreik von mehrfach rechtskräftig abgelehnten Asylbewerbern, die ihre Anerkennung erpressen wollen, zum Menetekel einer „unmenschlichen Politik“, die bereitwillig Tote in Kauf nehme. Vom zynischen Kalkül sogenannter „Unterstützer“ aus der linksautonomen Szene ist keine Rede.

Was den Propagandisten einer stets abrufbereiten Empörung gar nicht mehr auffällt: Struktur und Ablauf ihrer Erregung ist fast beliebig austauschbar. Auch Rainer Brüderles „Dirndl-Gate“ zu Beginn des Jahres folgte den Prinzipien eines moralischen Empörungssturms, der Molière’sche Züge trug.

Billige „Moral to go“

Das gleiche gilt für den wochenlangen Aufschrei in Sachen Sitzplätze im Münchner NSU-Prozess. Dass der damals so geschmähte Richter den Prozess nun souverän, aber vor halbleerem Gerichtssaal führt, hätte man sich schon im Sommer mit ein wenig ruhigem Nachdenken vor Augen führen können.

Aber nein, es ist einfach zu schön, bei jeder sich bietenden Gelegenheit ins große Horn zu stoßen. Schande, Scham und Aufschrei im großen Chor ersparen das Selberdenken. Nie war die Moral to go billiger zu haben.

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