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Wahlchaos in Italien - Grillos Erdbeben macht Italien unregierbar

Europa hoffte auf klare Verhältnisse und eine breite proeuropäische Mehrheit bei den Parlamentswahlen in Italien. Die erneute Wiederauferstehung Berlusconis und der überraschende Erfolg von Komiker Beppe Grillo sorgen jedoch für ein Patt. Wie konnte es dazu kommen und was bedeutet das Ergebnis für Europa?

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Julian Graeber hat Sportwissenschaft und Italienisch in Berlin und Perugia studiert.

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„Tsunami-Tour“ – einen besseren Namen hätte Beppe Grillo seinem Wahlkampf nicht geben können. Wie eine gigantische Welle ist die Movimento 5 Stelle (M5S) – die Fünf-Sterne-Bewegung – des ehemaligen Komikers über das italienische Parteiensystem hinweggefegt. Auch wenn es wohl noch zu früh ist, um den traditionellen Bipolarismus im italienischen Parlament dauerhaft zu begraben, deutet das überraschende Wahlergebnis doch auf tief greifende Veränderungen hin.

Als „politisches Erdbeben“ beschreibt Mario Calabresi, Chefredakteur der Turiner Tageszeitung La Stampa, den Erfolg der Grillini. Dass die junge Bewegung, die in den vergangenen Jahren vor allem mit dem Motto „contro tutto e tutti – gegen alles und jeden“ aufgefallen war, bei ihrer ersten Teilnahme an nationalen Wahlen ins Parlament einziehen würde, war seit Wochen klar. Der massive Stimmenzuwachs seit den letzten Umfragen vor gut zwei Wochen hat jedoch auch Experten überrascht. Mit 25,5 Prozent im Abgeordnetenhaus und 23,8 Prozent der Stimmen im Senat liegt die M5S nur knapp hinter den zwei etablierten Koalitionen. Im Abgeordnetenhaus sind die Grillini sogar stärkste Einzelpartei.

Den Erfolg von Grillo als reinen Protest gegen die Sparpolitik Montis zu werten, wäre allerdings ein großer Fehler. Er ist vielmehr ein Ausdruck der massiven Unzufriedenheit der Italiener mit der traditionellen politischen Klasse, der unbeliebten casta. 20 Jahren, nachdem die sogenannten Prima Repubblica im Sumpf aus Korruption und Vetternwirtschaft untergegangen ist, hat sich außer den Namen der Protagonisten nicht viel geändert. Unzählige Skandale, vorbestrafte Abgeordnete und gebrochene Wahlversprechen haben bei vielen Italienern eine Politikerverdrossenheit hervorgerufen, die sich nicht nur in der gesunkenen Wahlbeteiligung ausdrückt.

Der Erfolg Grillos ist deshalb mehr als nur ein Warnschuss für die etablierten Parteien. Sicherlich ist die zweite Republik weit davon entfernt, mit einem Knall unterzugehen. Der Erfolg Grillos könnte aber eine Zäsur im Wahlverhalten der Italiener bedeuten. Denn abgesehen von Berlusconi, der mit dem ihm üblichen Populismus und dem Versprechen, den Bürgern die Immobiliensteuer notfalls aus eigener Tasche zurückzuzahlen, eine beinahe unglaubliche Aufholjagd hingelegt hat, gelten alle klassischen Parteien als Verlierer.

Pier Luigi Bersani, der vor einem Monat noch wie der sichere Sieger aussah, hat sich im Wahlkampf zu defensiv verhalten. Ohne große Reden zu schwingen und mit einem Wahlkampf auf Sparflamme, schien es, der Demokrat wolle den Vorsprung nur über die Ziellinie retten. Noch schlimmer ist es dem im Dezember zurückgetretenen Wirtschaftsprofessor Mario Monti ergangen. Seine notwendigen, aber extrem unbeliebten Sparmaßnahmen haben ihn für viele Italiener unwählbar gemacht. Großen politischen Einfluss wird Montis Partei im neuen Parlament nicht haben.

Die unmittelbaren Konsequenzen dieser Wahl für die politische Stabilität in Rom sind indes erschreckend. Klare Mehrheitsverhältnisse wurden verpasst, ingovernabilità – Unregierbarkeit – zum Unwort des Tages in allen Medien. Das Bündnis um Bersani hat aufgrund des umstrittenen Wahlrechts eine stabile Mehrheit im Abgeordnetenhaus – obwohl es bei einer der knappsten Wahlen der jüngeren italienischen Geschichte nicht einmal einen halben Prozentpunkt vor der Konkurrenz liegt. Die Sitzverteilung im Senat lässt jedoch an der Bildung einer handlungsfähigen Regierung zweifeln. Mitte-links hat dort zwar drei Stimmen mehr als Berlusconis Lager. Grillos Fünf-Sterne-Bewegung ist mit 53 Sitzen jedoch das Zünglein an der Waage. Zusammen mit dem Mitte-rechts-Bündnis gibt es eine breite europa- und sparkritische Mehrheit, die die so wichtigen Reformen problemlos blockieren könnte. Eine handlungsfähige Regierung scheint in dieser Konstellation ausgeschlossen.

nächste Seite: Große Koalition oder Neuwahlen?

Beppe Grillo hat am Wahlabend erneut bekräftigt, dass er an Kompromisse mit den etablierten Parteien nicht sonderlich interessiert ist. „Wir sind das große Hindernis. Wenn sie uns nicht folgen, wird es ein harter Kampf“, sagte der ehemalige Komiker in einem Livestream auf der Internetseite seiner Bewegung.

Bleiben die Grillini bei dieser Haltung, gibt es nur zwei Auswege aus der Sackgasse. Eine große Koalition oder Neuwahlen. Die Lebensdauer einer Koalition von Bersani und Berlusconi dürfte allerdings minimal sein. Übereinstimmungen in der politischen Ausrichtung der Parteien sind kaum zu finden. Eine Fortsetzung der wichtigen Reformen scheint utopisch und der Druck der europäischen Nachbarn wird steigen. Die Bedeutung dieser zur Schicksalswahl für die Euro-Zone hochstilisierten Parlamentswahl zeigt sich nicht zuletzt an den Reaktion der Finanzmärkte. Nach Bekanntwerden der ersten positiven Prognosen am gestrigen Nachmittag schnellten die Kurse an der Mailänder Börse steil nach oben. Die Zinsen für zehnjährige Staatsanleihen sanken auf 4,2 Prozent. Bei Handelsschluss war der Zinssatz wieder bei 4,49 Prozent, Tendenz steigend.

Staatspräsident Giorgio Napolitano wird Bersani nun mit der Bildung einer Regierung beauftragen. Der Spitzenkandidat der Mitte-links-Koalition sprach in der Nacht von einer „sehr heiklen Lage“, in der sich das Land befinde. In seiner Partei werden bereits vereinzelte Rufe nach Neuwahlen laut. Ausgeschlossen ist dieses Szenario nicht, eine stabile Mehrheit garantiert ein erneuter Gang an die Urnen allerdings nicht. Nur eines scheint klar: Grillos Fünf-Sterne-Bewegung wird auch bei Neuwahlen eine wichtige Rolle spielen.

Die Journalisten des staatlichen Fernsehsenders Rai haben indes noch ihre Probleme mit den politisch weitestgehend unerfahrenen Grillini. Als die Regie gegen 22 Uhr in das improvisierte Wahlhauptquartier der M5S schaltete, stand der Korrespondent vor einem leeren Podium. „Sie sind so schnell gegangen, wie sie gekommen waren“, sagte der deplatziert wirkende Journalist. „Sie haben nur gesagt: ‚Tschüss, Journalisten. Wir sehen uns im Parlament‘ und sind feiern gegangen.“ Aus den Palazzi in Rom werden die 162 Parlamentarier der Fünf-Sterne-Bewegung nicht so plötzlich wieder verschwinden.

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