- „Griechenlands Probleme kennen wir aus Afrika“
Griechenland ähnelt Staaten in Afrika oder im früheren Ostblock, sagt der Präsident des Hamburger Weltwirtschaftsinstitutes (HWWI), Thomas Straubhaar. Das Land könne staatliche Kernfunktionen nicht mehr wahrnehmen. Im CICERO-ONLINE-Interview empfiehlt der Wirtschaftsexperte Entwicklungshilfe
Griechenland und kein Ende. Ein Hilfspaket jagt das
nächste. Erst 110 Milliarden, nun werden nochmals 130 Milliarden Euro auf den Weg
gebracht. Vorausgesetzt, einige nationale Parlamente stimmen
zu: Reichen die Maßnahmen aus, um das Land vor einer Pleite zu
bewahren?
Es reicht kurzfristig, um einen formellen Staatsbankrott zu
verhindern. Dennoch ist es unstrittig, dass alle Voraussagen, die
dem Hilfspaket zugrunde liegen, mit einem Zeithorizont bis 2020
zwangsläufig unsicher bleiben müssen.
Das
Ganze steht also auf wackligen Beinen?
Das Hilfspaket basiert auf dem heutigen Kenntnisstand. Es ist
jedoch unseriös und unwissenschaftlich zugleich, über eine so lange
Periode bis aufs Komma genau vorauszusagen, wie sich die
griechischen Staatshaushalte entwickeln werden. Das könnten wir
nicht einmal für ein so gut verwaltetes Land wie Deutschland, weder
bei den Steuereinnahmen noch bei der Entwicklung der
Staatsausgaben. Wie soll das also bei einem Land wie Griechenland
funktionieren?
Augenwischerei also?
Ja! Tatsächlich operiert man mit Luftbuchungen: Erwartete Zuflüsse
von Privatisierungen und Steuereinnahmen, erwartete Senkungen der
Staatsausgaben. Nicht mal die Einzelposten sind mit einer
einigermaßen akzeptablen Präzision prognostizierbar. Derartige
Zahlen als in Stein gemeißelt zu präsentieren, ist ökonomisch nicht
machbar und politisch unredlich. Für die politische
Vertrauensbildung ist das nicht eben förderlich.
Trotz der Entscheidung über das zweite Hilfspaket stufte
vergangene Woche die Rating-Agentur Fitch Griechenland neuerlich
herunter. Zurecht?
Absolut. Griechenland ist faktisch bankrott, daran gibt es keinen
Zweifel. Die einzige Frage ist: In welchem Ausmaß und zu welchen
Bedingungen die Troika, also EU, EZB und IWF bereit sind, diesen
Staatsbankrott de jure zu verhindern. Das ist es, worum es momentan
geht.
Private Investoren, Banken, Versicherungen,
Pensionsfonds, die zuvor in griechische Staatsanleihen investiert
haben, werden auf knapp die Hälfte der rund 200 Milliarden Euro
verzichten. Geht es nicht anders?
Umschuldung ist eine der zentralen Forderungen, die wir vom HWWI
aufgestellt haben. Die gibt es aber nicht kostenlos. Für
Griechenland ist sie der einfachste Weg, Schulden loszuwerden – ein
dreistelliges Milliardengeschenk an die griechische Bevölkerung.
Das ist die sonnige Seite eines Schuldenschnitts.
[gallery:Griechenland unter: Karikaturen aus zwei Jahren
Eurokrise]
Und die dunkle Seite?
Gleichzeitig ist diese Umschuldung für Griechenland ein Schuss ins
eigene Bein, da das Vertrauen privater Gläubiger und Geldgeber auf
Jahre hinaus beschädigt ist. Das betrifft zum einen das
Finanzkapital, es betrifft aber auch private Kreditgeber,
beispielsweise Investoren.
Ein Beispiel: Deutsche Firmen, die in Sonnenenergie investieren
wollen, werden künftig enorme Risikoprämien verlangen,
realwirtschaftliche Projekte werden sich dadurch erheblich
verteuern. Andere Investoren werden angesichts der
Unsicherheit ganz abgeschreckt. Und auch bei normalen
Alltagsgeschäften spielen diese Unwägbarkeiten künftig eine Rolle.
Etwa, wenn ein Auto nach Griechenland verkauft werden soll. Wenn
nicht gerade Vorkasse bezahlt wird, werden solche Geschäfte durch
Versicherungen erheblich verteuert, da Verkäufer wie VW, Audi oder
BMW sicherstellen müssen, dass der Kunde auch bezahlt. Das sind die
Folgekosten eines solchen Bankrotts und umfassenden
Vertrauensverlusts.
Seite 2: „Einen neuen Staat aufbauen, ähnlich wie damals in der DDR“
Schon im vergangenen Sommer warnten Sie, Griechenland
sei ein „Fass ohne Boden“.
Das Problem ist, dass Griechenland makroökonomisch noch nicht
gerettet ist. Das Land steckt im fünften Krisenjahr. Infolge einer
Rezession steigen die Arbeitslosenzahlen und der Lebensstandard
sinkt. Die Probleme sind nicht gelöst und müssen mit Hilfe von
außen jetzt konsequent angegangen werden.
Ist es dann sinnvoll, ein Land in einer derart desolaten
Verfassung zu radikalen Sparreformen zu zwingen, wie die EU dies
derzeit forciert?
Keineswegs, da das griechische Hauptproblem ja nicht ein
finanzielles ist, sondern eins einer nicht existierenden
Staatlichkeit. Das kennen wir aus Afrika, das kennen wir zudem aus
den früheren kommunistischen Ländern. Auch Griechenland ist so ein
„failed state“. [gallery:Griechenland: Jahre des Leidens]
Was heißt das konkret?
Der griechische Staat ist nicht in der Lage, seine Kernfunktionen
wahrnehmen. Es gibt keine funktionierende Verwaltung, kein
funktionierendes Steuerwesen, kein funktionierendes Finanzwesen,
Eigentumsrechte werden nicht wirklich respektiert, es gibt kein
Grundbuch, das seinen Namen verdient – das alles sind Eckpfeiler
eines funktionierenden Staates, die in Griechenland entweder
überhaupt nicht vorhanden oder unterentwickelt sind. Wenn man jetzt
rein makroökonomische Sanierungspläne durchdrückt, geht man das
eigentliche Problem nicht an.
Was fordern Sie?
Es muss ein State-Building-Prozess angeschoben werden, wie es auch
in Afrika gemacht wird: eine Unterstützung und Förderung der
staatsbildenden Funktionen. Das ist viel wichtiger als Geld.
Ähnlich wie das damals in der DDR gemacht wurde, muss man auch nach
Griechenland Know-how transferieren, um zu veranschaulichen, wie
man einen neuen, funktionierenden Staat aufbauen kann. Das Beispiel
DDR zeigt, dass es am schnellsten ginge, wenn man Experten aus
Europa entsenden würde und sie neben jeden kritischen
Verwaltungsfunktionär in den Steuerbehörden oder Finanzämtern
postieren würde, die das Vorgehen vor Ort anleiten.
Eine heikle Aufgabe, bedenkt man die jüngsten nationalen
Verstimmungen zwischen Berlin und Athen. Wer könnte so einen
Prozess also begleiten?
Es wäre kontraproduktiv, wenn Deutschland das im Alleingang machen
würde. Bei der Troika sind gute Ansätze erkennbar, die nehmen dem
Ganzen die Spannung. Die Griechen sind Mitglied der EU, der
Eurozone und des IWF. Entsprechend könnte die Troika diese
Entwicklungshilfe leisten. Das muss mit viel Fingerspitzengefühl
passieren, aber es ist der einzige Weg, um nicht immer neues
Geld hinterherwerfen zu müssen. Die politische Ökonomie der Reform
lehrt, dass es Situationen in einer Gesellschaft gibt, in denen die
Gegner einer Reform so stark sind, dass sie sich jeder Veränderung
erfolgreich entgegen stellen können. Diesen Zustand muss man in
Griechenland als erstes überwinden.
Wo sehen Sie weitere Defizite?
Wir dürfen nicht vergessen, dass Griechenland lange durch eine
Militärdiktatur regiert wurde. Diese wurde beseitigt. Das
entstandene Vakuum aber wurde nicht durch eine funktionierende
Demokratie gefüllt, sondern durch eine Aristokratie. Eine kleine
aristokratische Oberschicht hat in der Folge über Jahrzehnte die
finanziellen Mittel monopolisiert und ihre Politik gegen die Masse
der Bevölkerung durchgesetzt. Diese Gruppe wird nicht freiwillig
ihre Position aufgeben. Das Bewusstsein, dass es zu den
demokratischen Spielregeln gehört, dass die Macht nicht in den
Händen einiger weniger Familien liegen kann, ist aber so gut wie
gar nicht verankert. Auch hier bedarf es eines gewissen Drucks von
außen.
Seite 3: „Das, was wir hier erleben, ist die geordnete Pleite“
Wie beurteilen Sie das europäische Krisenmanagement der
letzten Monate?
Im Nachhinein ist es natürlich einfach, den Oberlehrer zu geben.
Die europäischen Staats- und Regierungschefs sind im Mai 2010 ins
kalte Wasser geworfen worden, es gab keine Blaupausen, keine
Erfahrungen, wie man mit einem bankrotten Mitglied einer
Währungsunion umgeht. Punktuell hätte man einige Dinge besser
machen müssen. Alles in allem aber war das Krisenmanagement
zielführend.
Die deutsche Kanzlerin stand lange wegen ihrer
„No“-Haltung in der Kritik.
Dennoch leitet sich daraus nicht ab, dass sie mit dieser
Vorgehensweise eine schlechte Politik gemacht hätte. Gesetzt den
Fall, Frau Merkel hätte zu früh mit zu leichter Hand signalisiert,
dass die EU-Staaten bereit sind, klammen Mitgliedern unter allen
Umständen unter die Arme zu greifen, dann wäre der
Bewusstseinswandel, der sich allmählich in Spanien und Portugal
Raum greift, der eine wachsende Bereitschaft zur Veränderung mit
sich bringt, kaum erzielt worden. Politisch war das also klug,
selbst wenn es ökonomisch bessere Lösungen gegeben hätte. Das Ganze
ist wie ein Schachspiel: Die Politik hat das Primat, die Ökonomien
sind die Spielfiguren, mit denen man den Druck mindern oder erhöhen
kann. Letztlich erfordert eine politische Spielsituation in diesem
Fall eine gewisse ökonomische Ineffizienz, um so zu einer
politischen Bestlösung zu kommen. [gallery:CICERO ONLINE
präsentiert: Die Kandidaten für die Euro-Nachfolge]
Wie geht es weiter? Finanzminister Schäuble hat bereits
angekündigt, dass womöglich schon 2014 ein neues Paket geschnürt
werden muss.
Fest steht: Wir werden noch sehr lange sehr viel Geld nach
Griechenland transferieren müssen. Das, was wir hier erleben, ist
die geordnete Pleite, von der auch Herr Schäuble bereits gesprochen
hat.
Außer Ihnen nennt das bislang keiner so.
Das hat seinen Grund. Es käme über institutionelle
Versicherungsmechanismen zu einem Rattenschwanz an juristischen
Folgewirkungen, den man vermeidet, wenn man de jure den
Staatsbankrott verhindert. Dennoch haben wir es de facto mit einer
Insolvenz zu tun.
In Athen brennen Barrikaden, nationalistische Töne
greifen sich Raum. Ist das der Preis dieser geordneten
Insolvenz?
Das sind zweifelsfrei die Konsequenzen. Konflikte vor allem
innenpolitischer Art sind nicht zu vermeiden. Man kann nicht ein
Land über Dekaden schlecht regieren und von heute auf morgen in
einen modernen Staat verwandeln. Dieser Übergang bringt
innenpolitische Konflikte mit sich. Er verändert die Besitzstände,
er verändert die Kräfteverhältnisse, Selbstverständlichkeiten
müssen gestrichen werden. Das würde in keinem Land der Welt ohne
Widerstand und Protest akzeptiert werden.
Oder wäre am Ende für Griechenland, wie nun von
Innenminister Friedrich ins Feld geführt wird, doch der Ausstieg
aus der Eurozone die bessere Variante?
Nein. Er würde keine alten Probleme lösen, aber viele neue
zusätzlich schaffen.
Das Interview führte Marion Kraske. Fotos: picture alliance
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