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Flüchtlingshilfe in Europa - Wider die Angst

In vielen EU-Mitgliedsstaaten gibt es keine Strategie, Migranten in die Gesellschaft zu integrieren. Statt Verständnis herrscht Vorbehalt. Und rassistische Übergriffe häufen sich. Die EU muss Migranten an demokratischen Prozessen teilhaben lassen

Autoreninfo

Redakteurin bei der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte.

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Die Migranten kommen, und die Angst geht in Europa um. Mit mehr als fünfzig Millionen Flüchtlingen weltweit erleben wir derzeit die größte Zwangsvertreibung seit dem Zweiten Weltkrieg. Im Mittelmeer sind allein im vergangenen Jahr über 3.400 Flüchtlinge ertrunken, so viele wie nie zuvor. Die meisten Flüchtlinge kommen aus dem vom Krieg zerrissenen Syrien.

Wie sehr die Menschenrechte derjenigen, die unsere Ufer erreichen, mit Füßen getreten werden, untersucht die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte.

So wird immer wieder der Grundsatz der Nichtzurückweisung verletzt. Danach darf niemand dorthin zurückgeschickt werden, wo sein Leben oder seine Freiheit gefährdet sind.

Keine Schengen-Visa mehr für Syrer

Die Flüchtlinge sind umso mehr Ausbeutung und Misshandlungen ausgesetzt, als es nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten für schutzbedürftige Menschen gibt, legal in die EU einzureisen. Die Gesamtzahl der ausgestellten Schengen-Visa für Syrer fiel von mehr als 30.000 im Jahr 2010 auf praktisch null 2013. Die Grundrechteagentur empfiehlt daher, mehr legale Einreisemöglichkeiten in die EU zu schaffen.

Solche Vorschläge zielen nicht darauf ab, die Zahl der Flüchtlinge und Asylbewerber in der EU zu erhöhen. Sie dienen lediglich dazu, unnötige Todesfälle zu vermeiden. Zugleich sollen sie die Abhängigkeit von Schmugglern verringern, die einen enormen Profit aus der Not ihrer Mitmenschen ziehen.

Flüchtlingshelfer werden kriminalisiert

Die derzeitigen Regeln stempeln nicht nur die oft traumatisierten Flüchtlinge zu Kriminellen ab, die mit Geld- und Haftstrafen belegt werden. Auch EU-Bürger, die humanitäre oder rechtliche Hilfe anbieten, müssen damit rechnen, dass ihre Hilfsbereitschaft bestraft wird.

Die Grundrechteagentur vertritt die Auffassung, dass die EU-Mitgliedstaaten unerlaubte Grenzübertritte nicht sanktionieren dürfen, wenn die Personen aus einem Land einreisen, in dem ihnen Gefahr für Leib und Leben droht. Desgleichen sollten diejenigen, die Migranten aus Seenot retten, mit Lebensmitteln oder Unterkunft versorgen, medizinisch verpflegen oder rechtlich beraten, keine Bestrafung befürchten müssen. Deutschland ist in diesem Zusammenhang eines von lediglich vier EU-Mitgliedsländern, in denen die Beihilfe zur illegalen Einreise nur dann gesetzlich verfolgt wird, wenn nachgewiesen werden kann, dass diese aus finanziellem Gewinnstreben erfolgte.

Muslime im Visier der Polizei

Was aber ist mit den Migranten, die bereits in der EU leben?

Forschungsergebnisse der Grundrechteagentur zeigen, dass es keineswegs einfach ist, in der EU einer Minderheit anzugehören. In einer EU-weiten Umfrage, an der 23.500 Personen mit einem Migrationshintergrund teilnahmen, gab jeder vierte muslimische Befragte an, in den vergangenen zwölf Monaten von der Polizei kontrolliert worden zu sein. 40 Prozent der Betroffenen waren der Ansicht, dass sie aufgrund ihres Migrationshintergrunds beziehungsweise ihrer ethnischen Zugehörigkeit gezielt herausgegriffen wurden. Fast ein Fünftel der befragten Schwarzafrikaner sagten, sie seien in den letzten zwölf Monaten Opfer rassistischer Übergriffe geworden.

Oft hört man, die Migranten wollten sich nicht integrieren. Mitunter fehlt es aber am Verständnis, dass Integration keine Einbahnstraße ist: Natürlich sollten Migranten sich bemühen, ihre neue Umgebung verstehen zu lernen. Aber selbst der Willigste kann an einer Gesellschaft nur dann partizipieren, wenn diese ihm grundsätzlich offen gegenübertritt.

Wie einfach ist es für Migranten, deren Kinder und Kindeskinder an demokratischen Prozessen teilzunehmen? Werden sie dazu ermutigt und unterstützt? Gibt es Programme, die den sozialen Zusammenhalt fördern? Gibt es dafür ausreichend Ressourcen und ausgebildete Mitarbeiter?

Migranten fühlen sich diskriminiert

Genau solche Fragen werden ausführlich in einem aktuellen Projekt der Grundrechteagentur untersucht. Vorläufige Ergebnisse zeigen, dass infolge der Wirtschaftskrise, zum Teil aber auch aufgrund veränderter politischer Prioritäten, die öffentliche Förderung derartiger Programme häufig beschnitten oder ganz eingestellt wurde. In einigen Mitgliedsländern gibt es (noch) überhaupt keine Strategie, um Migranten zu integrieren, ihnen eine Stimme zu geben oder zumindest eine Chance auf dem Arbeitsmarkt.

Inklusion sollte aber keineswegs als Geschenk für Wohlverhalten betrachtet werden. Deutschland hat Japan dieses Jahr als Land mit der niedrigsten Geburtenrate der Welt abgelöst. Auch anderswo in der EU altert die Gesellschaft rapide. Integration und Partizipation von Migranten sind unerlässlich dafür, dass Gesellschaft und Wirtschaft von ihren Fähigkeiten, Wissen und Erfahrungen profitieren können.

Selbst die schärfsten EU-Kritiker leugnen nicht, dass es in der EU einen starken gesetzlichen Rahmen zur Bekämpfung von Diskriminierung gibt. (Im Gegenteil, er sei zu stark, heißt es häufig aus der Ecke der Euroskeptiker).

Trotzdem hakt es bei der Umsetzung.

Das hat erstens damit zu tun, dass es noch an Daten über körperliche Gewalt gegen Minderheiten mangelt. Das hängt an den oft mangelhaften Erfassungsmechanismen in den Mitgliedsländern. Viele Opfer trauen sich aber auch nicht, Strafanzeige zu stellen.

Dies ist Teil eines allgemeinen Mangels an Vertrauen in der EU, der auch rassistischen Attentaten Vorschub leistet und den fremdenfeindlichen Diskurs on- und offline schürt. Irreguläre Migranten befürchten, dass sie abgeschoben werden, wenn sie die Polizei oder einen Arzt aufsuchen; ethnische und religiöse Minderheiten befürchten die Vorurteile oder (im besten Falle) völlige Gleichgültigkeit der anderen; und die Mehrheitsbevölkerung befürchtet die Verschlechterung ihrer Lebensqualität beziehungsweise ihrer Sicherheit.

Angst nach den Paris-Attacken gestiegen

Und damit sind wir wieder beim Thema Angst, denn es gibt auch die Angst der anderen. Unmittelbar nach den Angriffen auf das Redaktionsbüro von „Charlie Hebdo“ und einen Koscher-Supermarkt in Paris hat die Grundrechteagentur eine kleine Studie, eine Art Momentaufnahme, zu den Auswirkungen dieser Ereignisse auf die jüdischen und muslimischen Gemeinschaften in der EU durchgeführt. Dabei wurde festgestellt, dass die Angst vor Antisemitismus beziehungsweise Islamophobie in die Höhe geschnellt war. Obwohl es falsch wäre, die Erfahrungen und Gefühle einzelner Gemeinschaften miteinander zu vergleichen, steht eines fest: Angst ist eine Emotion, die Menschen lähmt, handlungsunfähig macht, ihnen nicht erlaubt, ihr Leben offen und ungehindert zu leben.

In einer Studie der Grundrechteagentur zu den Erfahrungen der jüdischen Gemeinschaften zeigen sich die dauerhaften Auswirkungen des Antisemitismus: 46 Prozent der Befragten gab an, Angst zu haben, im kommenden Jahr beschimpft oder belästigt zu werden. Die Studie stellte auch fest, dass 84 Prozent der Teilnehmer in Ungarn Antisemitismus im politischen Leben als ein Problem wahrnahmen. In einigen Ländern hielten etwa 70 Prozent Antisemitismus in den Medien für ein Problem. Und in sieben der acht untersuchten Länder (einschließlich Deutschland) wurde Antisemitismus im Internet als größtes Problem eingestuft.

Dies zeigt, wie wichtig es ist, dass Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens antisemitischen Äußerungen sofort und öffentlich entgegentreten. Andernfalls kann eine antisemitische oder rassistische Bemerkung einen Dominoeffekt auslösen und immensen Schaden anrichten.

Politiker und Journalisten haben viel Macht, den öffentlichen Diskurs zu beeinflussen. Statt sich empört über die verzweifelten Flüchtlinge zu zeigen, sollte sich diese Wut eher gegen die Negativität richten, die Menschen mit anderer Hautfarbe oder Religion tagein, tagaus erfahren.

Das könnte uns näher bringen, die Angst zu überwinden. Unser aller Angst.

*Die Autorin arbeitet für die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte. Die in diesem Artikel ausgedrückten Meinungen sind ihre eigenen und geben nicht notwendigerweise den Standpunkt der Agentur wieder.

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