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Flüchtlinge in Europa - Der Anfang eines Verteilungskampfes

Die Flüchtlingskrise wird Europa zu schmerzhaften Entscheidungen zwingen: Entweder wir geben einen Teil unseres materiellen Reichtums ab oder wir verlieren unsere Menschlichkeit. Gerade jetzt dürfen nicht Extremisten den Kurs bestimmen

Autoreninfo

Benedikt Brunner, Jahrgang 1978, ist promovierter Politikwissenschaftler. Er lebt und arbeitet in Berlin.

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Der typische Dritte-Welt-Laden existierte früher eher randständig vor sich hin. Die meisten Leute ignorierten ihn. Manche gingen ab und zu hin. Nur wenige waren Stammkunden. Das waren die echten Kenner, die, die ständig betonten, eigentlich müsse es Eine-Welt-Laden heißen. Doch das war schon sehr speziell. Für die meisten Menschen waren diese kleinen, verhutzelten Lädchen nichts weiter als Gutmenschengedöns. Und sie waren das Gegenteil von unausweichlich.

Zurzeit merken wir sehr konkret, dass die Verfechter der Eine-Welt-Bezeichnung richtig lagen. 159.927 Erstanträge auf Asyl hat das Bundesamt für Migration in Deutschland im ersten Halbjahr 2015 gezählt. Die Hälfte der Antragsteller kam aus Asien und Afrika, die größte Gruppe aus dem Bürgerkriegsland Syrien. Im August hat der Bundesinnenminister die bisherige Prognose für das Gesamtjahr auf bis zu 800.000 Flüchtlinge angehoben, das wäre in etwa einer auf einhundert Einwohner.

Jeder Einzelne braucht ein Obdach, Nahrung, Kleidung, etwas Geld. Viele brauchen medizinische und psychologische Hilfe. Alle brauchen eine Zukunft. Die derzeit drängendste Frage lautet: Wie bewältigen wir die Folgen dieses gewaltigen Zustroms? Doch das wird sich schon bald ändern. Denn je mehr Flüchtlinge zu uns kommen, umso drängender und schließlich unausweichlich wird die Frage werden: Wie bewältigen wir die Ursachen dieses gewaltigen Zustroms?

Dort, nicht hier, ist das Boot voll
 

Die Zahl 800.000 beschreibt nur die Spitze des Eisbergs. Weltweit waren 2014 knapp 60 Millionen Menschen auf der Flucht, 2015 werden es mehr sein. 86 Prozent lebten in Entwicklungsländern. Das für die Stabilität im Nahen Osten so wichtige Jordanien wird Ende 2015 rund 940.000 syrische Flüchtlinge aufgenommen haben – bei 6,7 Millionen Einwohnern, darunter bereits Hunderttausende geflohener Palästinenser. Dort, nicht hier, ist das Boot voll.

Die meisten Flüchtlinge stammten 2014 aus Syrien, Afghanistan, Somalia, Sudan, Südsudan, der Demokratischen Republik Kongo und Myanmar: insgesamt knapp 10 Millionen Menschen, Binnenflüchtlinge nicht mitgerechnet. Sechs dieser sieben Länder – alle außer Myanmar – liegen nicht nur im wirtschaftlichen und geopolitischen Einflussbereich Europas. Europa ist für die Menschen dort auch relativ gut erreichbar. Nie war das offensichtlicher als heute.

Erst der bescheidene Anfang
 

Hohe Flüchtlingszahlen sind kein vorübergehendes Phänomen, und Kriege sind nur einer von mehreren Anreizen für Migration. Langfristig viel gravierenderer ist wirtschaftliche Not. Auch der Klimawandel wird Menschen aus ihrer Heimat vertreiben: Laut der Internationalen Organisation für Migration reicht die Spanne der Prognosen für 2050 – weit vor dem angenommenen Peak der Erderwärmung – von 25 Millionen bis zu einer Milliarde Menschen. Was uns Europäer heute, gefühlt oder real, an die Grenzen unserer Leistungsfähigkeit treibt, ist erst der bescheidene Anfang.

Früher reichte es aus, den Dritte-Welt-Laden zu ignorieren, um sich nicht mit dem Elend der Anderen beschäftigen zu müssen. Heute erleben wir die Auswirkungen dieses Elends so intensiv auf dem eigenen Kontinent wie nie zuvor. Deshalb müssen wir uns auch so intensiv wie nie zuvor mit seinen Ursachen auseinandersetzen. Was wir heute nicht tun, fällt schon morgen mit brutaler Härte auf uns zurück. Die Macht des Faktischen ist überwältigend.

Folgenreichste Gerechtigkeitsdiskussion aller Zeiten
 

Die anstehenden Diskussionen und Umwälzungen werden umfassend, schmerzhaft und folgenschwer sein. Sie werden unser Dasein grundlegend verändern. Es wird um die tieferen Quellen unseres Wohlstands gehen, um die Verbindungslinien zwischen unserer alltäglichen Bequemlich- und Sorglosigkeit einerseits und dem Elend der Anderen andererseits, um unsere Beiträge zu Krieg und Unterdrückung, Hunger und Krankheit, regionalem und globalem Terrorismus. Vielleicht wird es die größte, doch zweifellos wird es die folgenreichste Gerechtigkeitsdiskussion aller Zeiten werden. Statt um moralische Schlussfolgerungen geht es diesmal um handfeste, quantifizierbare Konsequenzen. Und egal, ob oder was für Konsequenzen wir Europäer selbst aus ihr ziehen: Auf uns werden gewaltige Konsequenzen zukommen. Entweder wir geben einen Teil unseres materiellen Reichtums ab oder wir verlieren unsere Menschlichkeit. Auf eines von beidem läuft es hinaus.

Und noch etwas wird anders, härter, brutaler sein als bisher: Diese Gerechtigkeitsdiskussion wird sich nicht auf den Feuilleton und das Wort zum Sonntag beschränken; sie wird in der vollen Breite der Gesellschaft ausgetragen werden. Sie wird sich massiv in politischen Strömungen niederschlagen. Sie wird Radikalismus und Extremismus wuchern lassen, sie wird sich zum Hochfest der Demagogie auswachsen. Sie wird bestehende extreme Parteien mästen und neue gebären, überall in Europa. Wer bei Verstand ist, kann nur hoffen, dass in der Diskussion nicht die Extremisten die Führung übernehmen, und dass nicht sie es sein werden, die die politischen Entscheidungen fällen.

Und über all dem drängt die Zeit. Vielleicht bedarf es sogar noch einiger Jahre und einiger Millionen Flüchtlinge, ehe die Diskussion voll aufbrandet; aber gewiss vergeht kein Jahrzehnt mehr, ehe ihre Konsequenzen auf unser Alltagsleben durchschlagen. Wo tragen wir Europäer eine Mitschuld am Elend in der Dritten Welt, und was müssen wir ändern? Die demokratischen Parteien müssen diese Fragen dringend auf die Tagesordnung setzen. Wenn sie es nicht tun, tun es die Extremisten.

Die Wirkung wäre verheerend. Am Ende könnte daraus die größte Gefährdung der europäischen Demokratien seit dem Zweiten Weltkrieg erwachsen.

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