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Bundesregierung rät von Flucht ab - „Afghanistan verlassen? Sind Sie sicher?“

Wie geht die Bundesregierung mit Flüchtlingen aus Afghanistan um? Ginge es nach Kanzleramt und Innenministerium, dann heißt die Antwort: am liebsten gar nicht. Die fluchtbereiten Afghanen sollen zu Hause bleiben, und die doch kommen, will man am liebsten abschieben. Trotz schwieriger Sicherheitslage im Land

Autoreninfo

Werner Sonne, langjähriger ARD-Korrespondent in Washington, ist der Autor mehrerer Bücher zu diesem Thema, u.a.  „Leben mit der Bombe“, sowie des jüngst erschienenen Romans „Die Rache des Falken“. 

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Hoher Besuch steht an im Kanzleramt. Ashraf Ghani Ahmadzai, der Präsident Afghanistans, kommt am 2. Dezember zum Mittagessen mit der Bundeskanzlerin. Er hat ein schweres Problem im Gepäck. Ihm laufen immer mehr Landsleute weg, und zwar vor allem solche, die das Land eigentlich dringend braucht: Junge, Ausgebildete, die aber in ihrer Heimat keine Zukunft mehr sehen.

Die Zahl der Flüchtlinge ist in den letzten Monaten dramatisch angestiegen. Das merkt man auch an den deutschen Grenzen: Im Oktober sind die Flüchtlinge aus Afghanistan hinter den Syrern auf Platz zwei vorgerückt, noch vor den Irakern. Knapp 90.000 kamen aus Syrien, 31.000 aus Afghanistan, 21.000 aus dem Irak. Besonders auffallend dabei ist die hohe Zahl Minderjähriger, die sich ganz allein durchschlagen, jeder Dritte der 6.000 jugendlichen Asylsuchenden ohne Begleitung ihrer Familien aus den ersten acht Monaten ist Afghane.

Schon seit Wochen weist Innenminister Thomas de Mazière darauf hin, dass er Flüchtlinge aus Afghanistan nicht für schutzbedürftig hält, eine Meinung, die auch in Merkels Kanzleramt geteilt wird. Die sogenannte Schutzquote liegt für Afghanen im Augenblick bei 45 Prozent.  Deshalb möchte de Mazière die Afghanen am liebsten verstärkt abschieben. Tatsächlich sind bisher nur 12 Prozent der Ankömmlinge abgelehnt worden. 

Unklare Lage im Land
 

In der  Großen Koalition beginnt es zu rumoren, aber offensichtlich tun sich auch die Abgeordneten schwer, eine eindeutige Position zu finden. Bauchschmerzen habe man, sagt eine Abgeordnete. Der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Niels Annen, sagt dazu:

„Angesichts der derzeitigen Sicherheitslage, die sich trotz des Bundeswehreinsatzes wieder verschlechtert hat, halte ich großflächige Rückführungen nach Afghanistan für unrealistisch. Die Politik der Bundesregierung, falschen Erwartungen vor Ort, die oft von kriminellen Schleppern vor Ort geschürt werden, durch eine Informationskampagne zu begegnen, halte ich aber für sinnvoll und richtig, da sich hierdurch Afghanen, die in halbwegs sicheren Gebieten leben, informierter überlegen können, ob sie die gefährliche Flucht auf sich nehmen wollen.“

Auch die Integrationsbeauftragte der CDU/CSU-Fraktion, Cemile Giousouf, tut sich schwer, sich hinter den Innenminister und seine Abschiebepläne zu stellen. Zu unklar ist die Lage im Land.

„Ich bin weiterhin in Sorge, ob die afghanische Regierung die Bevölkerung insgesamt schützen kann. Fakt ist aber auch, dass es durchaus befriedete Regionen gibt, ähnlich wie beispielsweis im Irak, wo viele Menschen im Norden des Landes Zuflucht gefunden haben und nach der Befriedung in ihre Heimat zurückehren wollen. Insgesamt müssen wir weiterhin an der Befriedung des Lands arbeiten, da ist es auch notwendig, dass die zum Teil gut ausgebildeten Menschen, die jetzt zu uns kommen, die Chance und Sicherheit haben, beim Aufbau des Landes mitzuwirken“, sagt sie gegenüber CICERO.

Keine pauschalen Aussagen
 

Bei den Grünen meldet sich der Bundestagsabgeordnete Omid Nouripour gegenüber CICERO so zu Wort: „Sogar in Kabul grassiert derzeit die Angst, die Stadt könnte an die Taliban fallen wie Kunduz. Wir sollten den Afghanen helfen, wieder Vertrauen in ihre Regierung und in die Sicherheitskräfte zu erlangen, statt das Gefühl zu verstärken, der Welt wäre das Schicksal der Afghanen egal“.

Einerseits der Verweis auf die schwierige Sicherheitslage, andererseits keine wirklich klare Aussage gegen mehr Abschiebungen – die Verunsicherung im Parlament ist deutlich zu spüren.

Das Auswärtige Amt (AA) hat über die Botschaft in Kabul ein 28-seitiges Papier zur Sicherheitslage erarbeiten lassen, dass das AA ängstlich unter Verschluss hält. Es dient als Grundlage für die Entscheidungen über Asylanträge und auch vor Gerichten. Tatsächlich zeichnet das Papier in Teilen ein ziemlich düsteres Bild, aber eben nicht durchgehend. Das ist das Problem: Ist das Glas halb voll, oder halb leer?

Im AA wird man nicht müde, darauf hinzuweisen, dass man keineswegs davon sprechen könne, ganz Afghanistan sei unsicher. Eine pauschale Aussage sei „sehr schwierig“. Das AA-Papier beschreibt das so: Die Sicherheitslage ist regional stark unterschiedlich, aber „weiterhin volatil". Besonders beunruhigend ist freilich, dass die Zahl der zivilen Opfer durch Anschläge und Kämpfe  mit fast 1600  im ersten Halbjahr 2015 den höchsten Wert seit Sturz der Taliban 2001 erreicht hat.

Die afghanischen Streitkräfte „schlagen sich sehr gut“, erlitten allerdings wie die Zivilbevölkerung „hohe Opfer“, fasst man im AA zusammen. Auf der anderen Seite: Es sind keineswegs nur „die Taliban“, die die eigene Bevölkerung bedrohen. „Die größte Bedrohung für die Bürger Afghanistans geht von lokalen Machthabern und Kommandeuren aus“, sagt der Botschaftsbericht, den der NDR veröffentlicht hat. „Die Zentralregierung hat auf viele dieser Personen kaum Einfluss und kann sie nur begrenzt kontrollieren beziehungsweise ihre Taten untersuchen oder verurteilen."

Erweiterter Bundeswehreinsatz
 

Anders als bei den syrischen Kriegsflüchtlingen, die praktisch alle anerkannt werden, tut sich die Politik also sehr schwer, eine klare Linie für die Menschen aus Afghanistan zu finden. Das Auswärtige Amt hat eine Propaganda-Abwehrschlacht organisiert. In den Straßen der großen Städte wurden Plakate aufgehängt: „Afghanistan verlassen? Sind Sie sicher? Durchdenken Sie das“. Über die sozialen Medien wird Ausreiswilligen eingehämmert, man bekomme keineswegs direkt eine deutsche Staatsbürgerschaft, und wer nicht anerkannt werde, der werde abgeschoben. Die Facebook-Seite der deutschen Botschaft hat über 100 000 Follower.

Auch wird den Afghanen versichert, Deutschland werde seine Unterstützung keineswegs einstellen. Mit 430 Millionen Euro, darauf verweist man in der Bundesregierung mit Fleiß, sei Afghanistan doch der größte Empfänger deutscher Hilfsgelder. Innenminister de Mazière hat das schon mal auf den Punkt gebracht: Das Land habe viel Entwicklungshilfe bekommen, so de Maizière weiter. „Da kann man auch erwarten, dass die Menschen dort bleiben."

Und auch mit mehr Soldaten will die Bundeswehr helfen, wieder mehr Sicherheit zu produzieren. Eigentlich sollte Ende nächsten Jahres das militärische Engagement endgültig beendet werden. Doch jetzt wird der Bundeswehreinsatz wieder hochgefahren, von 850 auf 980 Soldaten – Ende offen.

Angela Merkel wird also ihrem Gast aus Kabul in der nächsten Woche viele Argumente liefern, warum seine Landsleute eigentlich zu Hause bleiben sollen. Aber ob sie sich angesichts der großen Sicherheitsdefizite  eindeutig auf die Seite derjenigen rund um sie herum schlagen wird, die Afghanistan in eine mehr oder weniger sicheres Herkunftsland umdeuten wollen, um so die Flüchtlinge zurückschicken zu können, bleibt dabei die eigentlich spannende Frage.

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