Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
picture alliance

Ex-Kommissar Verheugen - „Juncker macht eine Kulturrevolution“

Mit der neuen EU-Kommission wird es in Brüssel zu radikalen Umbrüchen kommen, sagt Günter Verheugen. Der ehemalige EU-Kommissar erklärt im Gespräch, nach welchen Kriterien Jean-Claude Juncker die Kommissare ausgewählt hat und warum dessen eigener Apparat an Macht gewinnt

Autoreninfo

Vinzenz Greiner hat Slawistik und Politikwissenschaften in Passau und Bratislava studiert und danach bei Cicero volontiert. 2013 ist sein Buch „Politische Kultur: Tschechien und Slowakei im Vergleich“ im Münchener AVM-Verlag erschienen.

So erreichen Sie Vinzenz Greiner:

Cicero Online: Herr Verheugen, vier der sieben Vizepräsidenten der künftigen Kommission kommen aus Ländern, die 2004 oder 2007 der EU beigetreten sind. Freuen Sie sich als ehemaliger EU-Kommissar für Erweiterung über die neue Kommission?

Günter Verheugen: Natürlich freue ich mich, dass die neuen Mitgliedsländer an der Spitze der europäischen Institutionen angekommen sind. Das war auch überfällig. Neben dem  Europäischen Rat, zu dessen Vorsitzenden der polnische Premier Donald Tusk ernannt worden ist, zeigt nun auch die Kommission, das die Neuen längst zu den Alten gehören.

Nicht nur die osteuropäischen Staaten, auch die kleinen kommen gut weg. Alle Vizepräsidenten – abgesehen von der Italienerin Federica Mogherini – stammen aus Ländern, die in den Ministerräten der EU wenig Stimmgewicht haben. Finnland hat dort zum Beispiel nur sieben Stimmen, Slowenien und Lettland nur vier. Will Jean-Claude Juncker ein Gegengewicht zu den großen Playern in Europa schaffen?

Auf jeden Fall hat er demonstriert, dass die EU auf der Idee der souveränen Gleichheit ihrer Mitglieder beruht, und dass es keine Rolle spielt, ob jemand aus einem großen oder einem kleinen Land stammt.

Aber es kommt schon darauf an, aus welchem Land man kommt. London zum Beispiel, Finanzplatz Nummer eins in Europa, stellt nun den Kommissar für Kapitalmärkte.

Wenn man eine Kommission zusammenstellt, muss man natürlich viele politische Rücksichten nehmen. Das ist noch schwieriger als eine Regierungskoalition aus vielen verschiedenen Parteien zu bilden. Es geht immer um eine gewisse Balance.

Manche sprechen davon, dass man im Falle des britischen Kommissars den Bock zum Gärtner mache. Schaut man in die Kommission, schart der Bock eine kleine Herde um sich: Der Grieche Dimitris Avramopoulos, in dessen Land Asylbewerber nicht mehr rücküberführt werden dürfen, wird für Migration zuständig sein. Ungarns Kommissar wird sich unter anderem um Jugend, Bildung und Bürgerschaft kümmern. Konfrontationstherapie für neue Kommissare?

Ich halte es nicht für fair, ein Kommissionsmitglied und seine künftige Arbeit schon vorab aufgrund seiner Herkunft zu beurteilen. Außerdem hat meines Erachtens Juncker sehr clever kalkuliert:  Nun wird ein Brite dem Finanzplatz London erklären, warum europäische Regeln notwendig sind, ein Franzose Frankreich, dass konsolidiert werden muss und so weiter. Das hat Charme.

Aber die Mitgliedsstaaten schlagen die Kommissare vor. Die sind doch nur auf dem Papier unabhängig.

Nein, ein Mitglied ist nicht der Interessenvertreter seines Heimatstaates sondern dem europäischen Gemeinwohl verpflichtet. Man muss als Mitglied der Kommission in jeder Weise unbeeinflusst sein von dem, was zuhause passiert. Die Hauptstädte haben nicht in die Politik der Kommission reinzuregieren. Juncker hat das ganz klargemacht. Ich bin auch froh, dass er ebenfalls in aller Klarheit gesagt hat: Die Mitgliedsstaaten der EU machen zwar die personellen Vorschläge, aber sie haben nichts zu sagen im Hinblick auf die innere Organisation und politische Ausrichtung der Kommission.

Bei der Vergabe von Posten berücksichtigte Juncker auch andere Faktoren: Mit Cecilia Malmström darf eine liberale Kommissarin die TTIP-Verhandlungen maßgeblich leiten. Die Forderung nach zehn oder mehr Frauen in der Kommission hat Juncker mit vier Vizepräsidentinnen weggebügelt.

Was sollte Juncker denn machen? Die Mitgliedstaaten benennen Männer, er will Frauen. Also hat er gesagt: Wer mir eine hochqualifizierte Frauen schickt, kann sicher sein, dass sie eine verantwortungsvolle Aufgabe bekommt. Man hätte ihm nur zuhören müssen. Und er hat sein Versprechen gehalten. Die für das Innenleben der Kommission absolut mächtigste Person wird die hochanerkannte bulgarische Kommissarin Kristalina Georgiewa sein, die Geld und Personal unter sich hat.

Nach welchen anderen Kriterien hat Juncker die Kommissare ausgewählt?

Es ist völlig klar, dass wichtige Aufgaben an politische Schwergewichte gingen, die Juncker in erster Linie als frühere Ministerpräsidenten von EU-Staaten definiert.

Fünf künftige Kommissare waren einmal Premierminister, vier stellvertretende Regierungschefs…

Ja. Dazu gesellt sich außerdem die persönliche Kompetenz als Auswahlkriterium. Das hat insgesamt zu interessanten Konstellationen geführt. Zum Beispiel hat nun der deutsche Kommissar Günther Oettinger einen früheren estnischen Ministerpräsidenten vor der Nase sitzen und muss sich mit ihm arrangieren..

Oettinger wird vom Energie-Kommissar zum Kommissar für digitale Wirtschaft degradiert, der vom Willen eines Vize-Präsidenten abhängig ist. Mit dem Franzosen Pierre Moscovici wird ein Sozialist und Gegner der Austeritätspolitik Wirtschaftskommissar. Putscht Juncker gegen Merkel, gegen ihren Einfluss in der EU?

Das geht zu weit. Aber man kann bei der Zusammensetzung der Kommission nicht erkennen, dass besondere Rücksichten auf Deutschland genommen worden sind. Das kann man wohl sagen. Oettingers Aufgabe ist im Übrigen äußerst wichtig. Denn es ist eines der Portfolios, die sich mit der großen Zukunftsfrage befassen: Wie wettbewerbsfähig wird Europa gegenüber dem Rest der Welt in den nächsten Jahrzehnten sein? Juncker hat von Anfang an auch erklärt, das ein Sozialdemokrat das Dossier Wirtschaft und Finanzen betreuen soll. Das macht nun Moskovici. Aber auch er hat gleich zwei vor der Nase: einen Finnen und einen Letten. Und ganz generell: Nur weil einige Leute in Berlin jetzt auf Moskovici herumhacken, haben sie noch lange nicht recht.

Dennoch ist der deutsche Kommissar abhängig vom Vize-Präsidenten für den digitalen Binnenmarkt.

Abhängig nicht, aber auf enge Kooperation angewiesen. Das ist das vollkommen Neue. Was Juncker hier macht, ist eine Kulturrevolution: Es verlangt ein völliges Umdenken, wie die Dienststellen der Kommission, die Kabinette und die Kommissare zusammenarbeiten. Ein vollkommener Kulturwandel.

Warum? Vizepräsidenten gab es doch auch schon vorher. Sie waren selbst einmal Vizepräsident der Kommission.

Neu ist, dass Mitglieder der Kommission die Zustimmung eines „vorgesetzten“ Vizepräsidenten brauchen, ehe sie eine Initiative ins Kollegium zur Entscheidung bringen können. Diese Möglichkeit hatte ich zum Beispiel in meinen Koordinierungsfunktionen damals nicht. Ich konnte nicht irgendwelche Initiativen von Kollegen stoppen. Ich hatte allerdings eine große Generaldirektion in meinem Rücken, ohne die ich meinen koordinierenden Zuständigkeiten nicht hätte nachkommen können. Das ist der Schwachpunkt im neuen Modell.

Haben die neuen Vize-Präsidenten keinen eigenen Apparat?

Nein, nicht alle. Die Generaldirektionen, bei denen es sich bisher um streng abgeschlossene Geschäftsbereiche handelte, müssen jetzt mehreren Kommissaren zuarbeiten. Damit hört es vielleicht auf, dass Generaldirektionen glauben, ein Kommissar sei nicht mehr als ihr eigenes politisches Sprachrohr.

Entmachtet Juncker also die Generaldirektoren?

Das ist nicht das Problem, denn ein guter Generaldirektor ist Gold wert. Die neue Struktur soll das Primat der Politik herstellen, und das ist überfällig. Der Apparat als solcher ist und bleibt mächtig.

Wie mächtig?

Die Vize-Präsidenten, die keine eigenen Behörden haben,  sind angewiesen auf das Generalsekretariat, das dem Präsidenten untersteht und das jetzt schon der mächtigste Teil der ganzen Kommission ist. Die Funktionen des Generalsekretariats werden mit Sicherheit noch stärker werden. Juncker muss sicherstellen, dass es nicht seinen eigenen Weg geht, sondern den politischen Vorgaben des Präsidenten und der Vizepräsidenten folgt, mit denen er ja jetzt seine präsidialen Vorrechte teilt – also genau das macht, was Barroso nicht wollte.

Juncker gibt Prärogative an die Vizepräsidenten ab und das Generalsekretariat profitiert davon?

Ja, denn die entscheidende Koordination wird dort geleistet. Eine ganz zentrale Frage wird jetzt sein, wer künftig das Generalsekretariat der Kommission leitet.

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.