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EU-Urnengang im Schatten der Ukraine - Eine Wahl der Angst

Rekord-Arbeitslosigkeit und Ukraine-Krise überschatten die Europawahl. Die Spitzenkandidaten haben es bisher nicht geschafft, eigene Themen zu setzen und Hoffnung zu verbreiten

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Eric Bonse berichtet seit 2004 aus Brüssel über Europapolitik. Er betreibt auch den EU-Watchblog „Lost in Europe“.

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Stell dir vor, es ist Europawahl, und keiner geht hin. Dies ist das Horrorszenario aller EU-Politiker, Ende dieser Woche könnte es wahr werden. Wenige Tage vor Beginn der EU-weiten Abstimmung am Donnerstag deuten fast alle Umfragen auf großes Desinteresse und niedrige Wahlbeteiligung hin.

Dabei sollte diesmal doch alles anders und besser werden: Zum ersten Mal gehen EU-weite Spitzenkandidaten der europäischen Parteienfamilien an den Start, erstmals soll der Bürger über den nächsten Kommissionspräsidenten entscheiden können. Doch die Wahl zwischen Martin Schulz und Jean-Claude Juncker – den Frontrunnern der Sozial- und Christdemokraten – funktioniert schon in Deutschland nicht.

Der SPD-Mann Schulz ist zwar laut Umfragen wesentlich populärer als Juncker. Doch bei der Sonntagsfrage liegen Junckers Konservative vorn – und das, obwohl (oder vielleicht gerade weil) der Luxemburger auf kaum einem Wahlplakat zu sehen ist.

Offenbar ziehen viele Deutsche letztlich doch die Partei der Kanzlerin vor, auch wenn Angela Merkel gar nicht zur Wahl steht. Ähnlich dürfte es in vielen EU-Ländern sein. Nationale Präferenzen sind immer noch stärker als europäische Politiker. Köpfe allein können die Bürger offenbar nicht für die EU begeistern. Doch was ist mit den Themen?

Da sieht es doch wesentlich besser aus, sollte man meinen. Schließlich arbeitet sich Europa gerade mühsam aus fünf Jahren Dauerkrise heraus. Gerade hat Portugal den Euro-Rettungsschirm verlassen, in Washington gehen die Verhandlungen über das umstrittene Freihandelsabkommen weiter – an spannenden Themen ist wahrlich kein Mangel.

Schwache Mobilisierung

 

Doch selbst die großen Streitfragen scheinen die Wähler nicht zu mobilisieren. Nur 1,79 Millionen Zuschauer schauten beim ersten großen TV-Duell im ZDF zur Prime Time zu. Die Quote von 5,8 Prozent war ein Flop, selbst „Germany’s Next Top Model“ kam auf ein besseres Ergebnis. Dabei wurden bei dieser Sendung alle Themen abgefragt – von Eurokrise bis TTIP, von Griechenland bis Ukraine. Schulz und Juncker gaben sogar Antworten; dummerweise waren sie sich in den meisten Fällen ziemlich einig.

Hier liegt die Crux: Diesem Europawahlkampf fehlt der Streit, und es fehlt das eine, große und alles beherrschende Thema. Normalerweise hätte dies die Wirtschafts- und Sozialkrise sein sollen, ja müssen. Schließlich liegt die Arbeitslosigkeit in Europa höher denn je, in Südeuropa ist fast jeder zweite Jugendliche ohne Job, in Griechenland und Spanien wächst eine „lost generation“ heran.

Doch Schulz und vor allem Juncker fassen das Thema mit Samthandschuhen an, der Konsens überwiegt, Hoffnung auf ein Ende der Krise verbreiten sie nicht. So tragen sie zur Demobilisierung bei, nur Linke und Grüne wagen – allerdings kaum vernehmlichen – Widerspruch. Letztlich ist es den Kandidaten bisher nicht gelungen, glaubhafte Alternativen zum bisherigen Kurs in der Wirtschaftspolitik zu formulieren.

Vermutlich führt schon die Erwartung in die Irre, die Europawahl könne diese Alternativen liefern. Denn die Wirtschaftspolitik läuft in der EU nach Regeln ab, die im Zuge der Eurokrise gefestigt und unverrückbar gemacht wurden. Vor allem der Fiskalpakt mit der Schuldenbremse nach deutschem Vorbild lässt kaum noch Spielraum für eine andere Politik.

Zudem wird der Europawahlkampf von einem zweiten, mächtigen Motiv überlagert. Es ist die Ukraine-Krise und das daran geknüpfte neue Feindbild Russland. Wie eine dunkle, drohende Gewitterwolke steht diese Krise über der Europawahl. Dies ist durchaus wörtlich zu verstehen – schließlich findet die Präsidentschaftswahl in der Ukraine am letzten Tag der Europawahl statt.

Am Wahlabend werden wir daher nicht nur mit den Abstimmungsergebnissen aus Berlin, Paris und Athen, sondern auch aus Kiew, Odessa und vielleicht sogar Doneszk konfrontiert werden. Die Ukraine-Krise überschattet nicht nur den Europa-Wahlkampf, sie dürfte auch das Hauptthema beim Sonder-EU-Gipfel zwei Tage nach der Wahl in Brüssel sein.

Mehr noch: Wenn die Präsidentschaftswahl in der Ukraine nicht rund läuft, dürfte es schnell zu einer neuen, diesmal wirklich ernsten Sanktionsrunde gegen Russland kommen. Darauf haben sich EU und USA schon in der vergangenen Woche geeinigt – ganz ohne Rücksicht auf Schulz, Juncker und die anderen Wahlkämpfer in Europa. Die Ukraine ist wichtiger als die Wahl, so die unterschwellige Botschaft.

Und so findet die angeblich wichtigste Abstimmung Europas in einem merkwürdigen Zwielicht statt. Das für die meisten Bürger zentrale Thema, die Wirtschaftskrise, wird in einer klebrigen Konsenssauce ertränkt. Die zentralen Fragen – wie geht es weiter mit Griechenland, kommt es doch noch zu einem Schuldenschnitt, droht Europa eine langanhaltende Stagnation oder gar eine gefährliche Deflation – werden gar nicht erst gestellt.

Feindbild Russland

 

Die Europäische Zentralbank hat alle Entscheidungen vorsorglich auf den Juni vertagt, vor der Wahl passiert gar nichts. Gleichzeitig werden die Wähler vom Konflikt in der Ukraine im Bann gehalten. Die EU spielt dabei eine merkwürdige Doppelrolle: einerseits präsentiert sie sich wie eh und je als Friedensmacht, die das Schlimmste verhindern will.

Andererseits arbeiten viele EU-Politiker bewusst oder unbewusst mit dem Feindbild Russland, gelegentlich sogar mit der Kriegsangst, um sich Gefolgschaft zu sichern und andere Debatten - etwa über die Wirtschafts- und Sozialpolitik - zu verhindern. Angst vor der Arbeitslosigkeit, Angst vor dem Krieg – das sind zwei mächtige Motive, die eine wirklich offene und freimütige Debatte bei dieser Wahl verhindern.

Die Spitzenkandidaten haben es bisher nicht geschafft, dem etwas entgegenzusetzen. Im Fall Ukraine haben sie es nicht einmal versucht. Am Ende könnte deshalb nicht nur eine niedrige Wahlbeteiligung stehen. Es könnten auch die Rechten profitieren, denn sie rütteln an den Tabus – an der Wirtschaftspolitik ebenso wie am Feindbild Russland. Keine schönen Aussichten. Geplant war eine Wahl der Hoffnung. Stattdessen droht nun eine Wahl der Angst.

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