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Europawahl - Die quasireligiöse Verklärung der EU

Der Wahlkampf war langweilig. Die politisch-ideellen Konzepte von Europa haben nicht überzeugt. Eigentlich brauchen wir die europäische Legislative nicht

Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Hinter uns liegt der langweiligste Wahlkampf, den dieses Land je gesehen hat. Im Vergleich dazu war die letzte Bundestagswahl der absolute Kracher. Und auch das Wahlergebnis ist an Belanglosigkeit kaum zu überbieten. Die CDU hat ein paar Prozente verloren, die SPD ein bisschen gewonnen, die FDP liegt bei 3 Prozent, die Grünen bei 10, die Linke bei 7, ebenso die AfD. So war es vorhergesagt, so hat man sich das gedacht, so ist es gekommen. War was?

Es liegt europapolitischer Mehltau auf diesem Land. Begeisterung, Enthusiasmus, Leidenschaft? Fehlanzeige. Zumindest kämpferische Ablehnung, wütendes EU-Bashing, knallharte Kritik? Nicht wirklich. Das Ergebnis der AfD? Eine Niederlage. Das war ihre Wahl, ihr Thema. Die schlappen 7 Prozent sind da ein Witz – der Anfang vom Ende.

Natürlich kann man sich das alles schön reden. Man kann schwadronieren von der politischen Reife, die dieses Wahlergebnis zum Ausdruck bringt, man kann darin ein Votum für die EU sehen, einen Vertrauensbeweis, ein Zeichen für Zufriedenheit der Deutschen mit Europa, eine Absage an populistische Bauernfänger. Und tatsächlich wurde das Wahlergebnis am Sonntagabend so oder ähnlich von der politischen Elite dieses Landes kommentiert.

Nun ist das Formelhafte dieser politischen Selbstbeweihräucherungsrhetorik schlimm genug. Was die Sache aber wirklich dramatisch macht: Man hat den Eindruck, die Leute glauben wirklich, was sie da sagen.

Und so sind die offiziellen Kommentare zum Wahlergebnis ein trauriges Abbild der politischen Kommunikationskultur, die hierzulande hinsichtlich der EU herrscht. Man macht sich etwas vor, leiert vorgestanzte Phrasen runter, die keiner mehr hören kann und geht zur Tagesordnung über. Es regiert eine Mischung aus Borniertheit, Geistlosigkeit und Wunschdenken.
 

Europas politisch-ideellen Konzepte sind gekünstelt
 

Das Problem beginnt schon bei dem Schlüsselbegriff selbst: Was „Europa“ ist, sein kann oder werden soll, ist mehr als unklar. Feierlich besinnt man sich dann gerne auf die gemeinsame europäische Kultur. Doch was macht Europa kulturgeschichtlich aus? Ist es das Christentum, die griechische Antike, die Renaissance, die technische Moderne? Man kann es kurz machen: Keine der einschlägigen Weltanschauungen oder Epochen ist halbwegs eindeutig bestimmbar, klar in ihrer Ausprägung und europaweit einheitlich ausgebildet, kultiviert oder adaptiert. Ob man das Verbindende oder das Trennende, die Gemeinsamkeiten oder die Unterschiede betont, hat mit sachlichen Gründen wenig, mit Ideologie aber umso mehr zu tun.

Vollends an den Haaren herbei gezogen sind jedoch die politisch-ideellen Konzepte, die Europa angeblich ausmachen. Schon die schmissige Fanfare aus Demokratie und Menschenrechten, die in keiner einschlägigen Sonntagsrede fehlen darf, macht deutlich, dass es hier vor allem um die Begründung einer politischen Ersatzreligion geht, nicht um das Ergebnis sachlicher Analyse. Ginge es tatsächlich um europäische Traditionen und europäische Identität, müssten wir eher ein von Priestern gesalbtes europäisches Kaisertum anstreben – sicher aber kein transnationales Parlament.

Kurz: Schon der von EU-Vertretern und Angehörigen der nationalen Politkasten kultivierte Europabegriff ist im Grunde unredlich. Er ist das Ergebnis der verzweifelten Bemühungen, in der EU mehr zu sehen als ein nüchternes und pragmatisches Vertragswerk, das die Wirtschaftsbeziehungen verschiedener Staaten miteinander regelt und einen ungehinderten Güter-, Finanz- und Warenverkehr ermöglicht – als wäre das etwas Schlechtes.

Stattdessen wurde der EU eine historische Mission zugesprochen, nämlich die Überwindung des Nationalstaates. Diese quasireligiöse Verklärung der EU erzeugt nicht nur das schmalzige Europathos, das bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit verbreitet wird, sondern gründet in einem Denken, das sich modern vorkommt, doch mit überholten Kategorien arbeitet.

Die Vorstellung von der Überwindung des Nationalstaates geht von einer naiven historischen Entwicklungslogik aus, nach der die Idee der Nation ein Produkt des 19. Jahrhunderts war, die früher oder später in einer transnationalen Institution überwunden werden wird.

Ausgeblendet wird dabei, dass das Konzept des Nationalstaates dynamisch ist und Veränderungen unterliegt, die es an die Gegebenheiten individualisierter Gesellschaften in einer globalisierten Welt angepasst haben. Der offene, pluralistische, in multilateralen Interessenbündnissen eingebundene Nationalstaat des 21. Jahrhunderts ist eben nicht mehr der selbstzentrierte, hypertrophe Nationalstaat des 19. Jahrhunderts.

Vor allem ist der heterogene Nationalstaat der Postmoderne – anders als sein Vorläufer vor hundert Jahren – nicht dem kollektivistischen Konstrukt der „Nation“ verpflichtet, sondern allein dem Schutz, der Freiheit, der Wohlfahrt und dem Emanzipationsbedürfnis des Individuums. Hieraus gewinnt er seine Legitimation. Ihn durch eine übergeordnete Institution ersetzen zu wollen, die lokale Traditionen, regionale Eigenarten und persönliche Vorlieben – und sei es auch nur im Konsumverhalten – nivelliert, wird deshalb von vielen Bürgern als Angriff auf die persönliche Freiheit verstanden.

Aus diesem Grund kommen die gut gemeinten Forderungen nach mehr Demokratie und Stärkung des EU-Parlamentes bei vielen europäischen Bürgern eher wie eine Drohung an. Denn mit der Aura der demokratischen Legitimation, so die nicht unbegründete Befürchtung, wird eine Welle vereinheitlichender Regelungen und Verordnungen über Europa hinwegrollen, denen man sich nicht mehr erwehren kann, ohne als Rechtspopulist oder zumindest provinzieller Tölpel zu gelten.


Wir kommen gut ohne eine europäische Legislative aus
 

Die Wähler in Europa haben das verstanden. Was wir brauchen, ist ehrliche europäische Realpolitik auf Regierungsebene, regelmäßige Konsultationen, Interessenausgleich zwischen Nationen, bilaterale und multilaterale Verständigungen über gemeinsame Ziele und unterschiedliche Präferenzen. Eine europäische Legislative brauchen wir dafür nicht. Am allerwenigsten jedoch benötigen wir eine transnationale Institution, die ihre Existenzberechtigung aus einer schon heilsgeschichtlich anmutenden Selbstverklärung bezieht. Der damit einhergehende rührselige Europakitsch ist nicht nur geschmacklos, er diskreditiert vor allem jede kritische Diskussion. Diese aber hat die EU dringend nötig.

Wenn es eine europäische Identität gibt, dann liegt sie in der Differenz, in der Variation und in der Vielfalt. Europa ist der Kontinent, in dem man nach 50 Kilometern Autofahrt in einer komplett anderen Welt sein kann: kulturell, konfessionell, sprachlich, städtebaulich, landschaftlich. Hierin liegt sein Zauber und seine Schönheit.

Die europäischen Institutionen werden nur dann eine Zukunft bei den Bürgern Europas haben, wenn sie ihnen glaubwürdig vermitteln, dass sie diesen Pluralismus bewahren und verteidigen. Die EU hat weder eine höhere Moral gepachtet noch repräsentiert sie die Avantgarde der politischen Entwicklung oder gar das Ziel der europäischen Geschichte. Sie ist ein pragmatisches Verwaltungsinstrument zwischen Nationalstaaten. Das endlich mal einzusehen, wäre schon ein großer Schritt in die richtige Richtung.

 

 

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