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Europawahl 2014 - Der Wahlschock

Merkel bestätigt, die AfD nur mäßig erfolgreich: Deutschland kann nach den Europawahlen gelassen bleiben, aber Europa steht unter starkem Druck. Die EU braucht dringend eine neue Erzählung, sonst fällt sie auseinander. Ein Kommentar

Autoreninfo

Christoph Seils war Ressortleiter der „Berliner Republik“ bei Cicero bis Juni 2019. Im Januar 2011 ist im wjs-Verlag sein Buch Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien erschienen.

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Endlich ist der Europawahlkampf vorbei. Eine Zumutung war er, fantasielos, planlos, ideenlos. Organisierte Langeweile ohne wirkliche Streitthemen und mit Spitzenkandidaten, die kaum jemand ernst nahm. Das Ergebnis ist ein Schock.

In zwei Kernländern der Europäischen Union, in Frankreich und in Großbritannien, erzielten Parteien die Mehrzahl der Stimmen, die die EU zerschlagen wollen, die neue Schlagbäume aufstellen und wieder nationale Währungen einführen wollen. Die britische Ukip von Parteichef Nigel Farage errang einen historischen Sieg: Mit 28 Prozent der Stimmen ließen sie nach ersten Hochrechnungen sogar die Labour-Partei und die Konservativen hinter sich. In Dänemark liegt die rechtspopulistische Dänische Volkspartei vorne. In vielen Ländern konnten ersten Trends zufolge zudem rechtsextreme und nationalistische Parteien zulegen. In Griechenland wurde die Regierungsmehrheit von Christ- und Sozialdemokraten pulverisiert. In Italien entpuppt sich im Parteiensystem ein Politclown ohne Interesse für Europa immer mehr als Zünglein an der Waage. Die europäische Idee wurde in zwei Kernländern der EU vom Wähler radikal in Frage gestellt. Seit diesem Sonntag hat die EU ein Problem.

Und auch wenn Europagegner und Europakritiker, Rechtsextremisten und Neonazis im neuen Europaparlament nur etwa 10 bis 15 Prozent der Sitze einnehmen werden – die genauen Zahlen werden erst im Laufe der Woche feststehen – ist das Ergebnis aus europäischer Perspektive ein fatales Signal. Die zentrifugalen Kräfte sind in vielen europäischen Ländern stark und die proeuropäischen Eliten in den 28 Mitgliedsländern haben keine Idee, wie sie diese Dynamik wieder stoppen können. Vor allem dem linken französischen Präsidenten François Hollande und dem konservativen britischen Premier David Cameron fehlen die Argumente.

Als nächstes: Tauziehen und Gemauschel


Die EU wird nicht so weiter machen können wie bisher. Und doch sah es am Wahlabend so aus, als hätten die deutschen Europapolitiker den Schuss der Wähler in ganz Europa nicht gehört. Kaum stehen die Wahlergebnisse fest, wird mit Blick auf die Macht in Brüssel wieder getrickst, es werden taktische Bündnisse geschmiedet, im Verborgenen Mehrheiten gesucht. Denn eines ist klar, weder die Fraktion der Volkspartei noch die Fraktion der Sozialdemokraten werden im neuen Europäischen Parlament eine Mehrheit haben. Beide werden Koalitionen schmieden und Absprachen treffen müssen.

Ob einer der Spitzenkandidaten von EVP oder SPE, ob Jean-Claude Junker oder Martin Schulz am Ende tatsächlich zum Kommissionspräsidenten gewählt wird, wird sich erst in ein paar Wochen zeigen. Dabei werden die Staats- und Regierungschefs ein entscheidendes Wort mitreden. Bis die neue Europäische Kommission steht, wird es wohl Herbst werden. Auf den Wahlschock folgt also das übliche europäische Tauziehen und Gemauschel. Lust auf Europa macht das alles nicht.

Innenpolitisch kann Angela Merkel diesen Wahlabend sehr gelassen betrachten. Die CDU bleibt stabil, die CSU hingegen, die sich den Eurokritikern angebiedert hatte, musste deutliche Einbußen hinnehmen. Auch das wird Merkel gefallen. Die SPD wurde anders als vor fünf Jahren nicht gedemütigt, aber für große Töne reichen 27,3auch nicht. Insgesamt allerdings wurde die Große Koalition vom Wähler bestätigt.

Bei der Opposition heißt es auch: Business as usal. Grüne und Linke machten keine großen Sprünge. Die Regierung können sie mit diesem Wahlergebnis nicht unter Druck setzen. Und die FDP wird sich an den Gedanken gewöhnen müssen, dass sie im bundesdeutschen Parteiensystem keinen Platz mehr hat. Die sechs bis sieben kleinen Parteien, die dank fehlender Sperrklausel nun ins Europaparlament einziehen, werden aus ihrem kurzen Ruhm kein politisches Kapital schlagen können.

Bei der AfD hätte man Schlimmeres befürchten können


Bleibt die AfD. Angst vor der Professoren-Truppe des Herrn Lucke muss niemand haben. Ihr Rechtspopulismus light hat gerade mal für 7 Prozent gereicht, da hätte man Schlimmeres befürchten können. AfD bedeutet einerseits europäische Normalität, anderseits sind die Deutschen, das hat die Wahl auch gezeigt, zugleich mit großer Mehrheit pro-europäisch, für die EU und für den Euro.

Mit dieser Stimmung und mit dem deutschen Wahlergebnis im Rücken bleibt Merkel die starke Frau in Europa. Das bedeutet, auf ihr lastet große europäische Verantwortung. Die Bundeskanzlerin wird ihren europapolitischen Kurs neu justieren müssen. Mit ihrer Botschaft, was für Deutschland gut ist, ist gut für Europa, lässt sich der Trend zur Re-Nationalisierung in Europa nicht stoppen.

Die Methode Merkel wird in Brüssel nicht mehr weiterführen. Stattdessen braucht Europa flexiblere Strukturen, transparentere Entscheidungswege und eine Antwort auf die Frage, wie die sozialen Kosten der Eurokrise abgemildert werden können. Die Antwort kann nur aus mehr Transferleistungen vom reichen Norden in den armen Süden bestehen, um diese Erkenntnis werden sich Europa und Deutschland nicht länger herumdrücken können.

Darüber hinaus braucht Europa dringend eine neue Erzählung. So faszinierend die Idee der Vereinigten Staaten von Europa ist, so verlockend das Versprechen von gemeinsamem Wohlstand und gemeinsamer Demokratie sein könnte, nach dieser Europawahl steht fest, dass sich die Wähler in Europa von dieser Idee nicht begeistern lassen.

Vielleicht kann stattdessen ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten eine neue Erzählung sein. Beim Euro und beim Schengenvisum gibt es dieses Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten schon, weitere Politikfelder wie zum Beispiel die Energiepolitik, die Ausländerpolitik oder der Datenschutz könnten folgen. Zeigt sich die EU jedoch reformunfähig, dann war diese Europawahl nur der Anfang. Dann bricht Europa auseinander.

Aktualisiert am 26.05. um 8:32 Uhr

 

 

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