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(picture alliance) Geht es nur um Schwarz gegen weiß, Arm gegen reich? Nicht unbedingt.

USA - Ein tief gespaltenes Land? Von wegen!

Es ist ein Klischee, das deutsche Medien immer wieder kolportieren: die USA seien zerrissen – und das zeige sich in den politischen Blöcken der Demokraten und Republikaner. Unser Washington-Korrespondent widerspricht

Noch drei Tage – und am 6. November wählen die USA ihren Präsidenten: Cicero-Online-Korrespondent Malte Lehming berichtet zu diesem Anlass in einem Countdown über besondere Ereignisse und Kuriositäten während des Wahlkampfs

Es ist ein offenes Geheimnis, dass Zeitungsredakteure die Nachrufe auf bedeutende Persönlichkeiten vorschreiben, um im Fall der Fälle schnell reagieren zu können. Im Ordner „Tote“ liegen die Texte manchmal viele Jahre lang. Es kommt vor, dass der Autor eines Nachrufes früher stirbt als die Person, die er gewürdigt hat. Dann muss ein neuer Nachruf geschrieben werden.

Auch Kommentare zu Wahlergebnissen werden oft vorgeschrieben. Die Frühausgabe der Zeitung geht kurz nach den ersten Hochrechnungen in Druck. Da bleibt kaum Zeit zum Räsonnieren. Online hat diesen Trend noch verstärkt. Wer fünf Minuten nach Bekanntwerden der Zahlen bereits mit einer fertigen Analyse an die Öffentlichkeit geht, wird geklickt und setzt den Spin.

Also rasch an die Arbeit. Wie könnte der Leitartikel am Tag nach der amerikanischen Präsidentschaftswahl anfangen? Vielleicht so: Die Wahlnacht enthüllte, dass ein tief gespaltenes Volk sich auf zwei fast gleich starke Lager verteilte. Es wirkte, als wären zwei verschiedene Nationen zur Wahl gegangen – Männer gegen Frauen, Weiße gegen Schwarze, Protestanten gegen Katholiken und Juden, Land gegen Stadt, Kleinstädte gegen Großstädte, die einen mehrheitlich für Mitt Romney, die anderen für Barack Obama.

Oops, diesen Text gibt es schon. Er stand vor zwölf Jahren im „Spiegel“ (Überschrift: „Die geteilte Nation“), damals, als die Wahl nach einem Patt zwischen George W. Bush und Al Gore in die Florida-Verlängerung ging. Wenn man die Namen austauscht, liest er sich immer noch aktuell.

Zweiter Versuch: Nicht nur zwei Kandidaten standen zur Abstimmung, sondern zwei Weltsichten. Ein Zusammenprall der Kulturen. Der „rote Amerikaner“ ist nach der Typologie der Demoskopen ein wenig älter als der Schnitt und verheiratet. Er gehört meist keiner Gewerkschaft an, liebt Macho-Sportarten und besitzt eine Schusswaffe. Er wohnt auf dem Land oder in der Kleinstadt. Der „blaue Amerikaner“ ist eine Frau, lebt in der Großstadt oder in einem Vorort, ist jünger als der Schnitt, ist gut ausgebildet und findet ethnische Vielfalt erstrebenswert (oder zählt selbst zu einer Minderheit). Es ist ein Schisma, eine Apartheid der Lebensverhältnisse.

Man ahnt es: Auch dieser Text ist bereits erschienen, er stand 2004 in der „Zeit“, nachdem George W. Bush knapp gegen John Kerry gewonnen hatte (Überschrift: „Die Vereinigten Halbnationen“). In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ hieß es im selben Jahr, kurz vor der Wahl (Überschrift: „Das große Patt“): „Die Meinungsumfragen, die mittlerweile beinahe stündlich veröffentlicht werden, sehen mal den Präsidenten vorn, mal den Herausforderer. Niemand wagt noch Prognosen. Sicher ist nur, dass es eng werden wird, sehr eng.“

Seite 2: Viele Amerikaner treffen ihre Wahl schweren Herzens

Und in diesem Jahr? Lesen wir einen Wahlkampfbericht aus der österreichischen Zeitschrift „Profil“: „Mit jeder Umfrage, jedem Bargespräch, jedem Kaffeetratsch vertieft sich der Eindruck (mit jeder Fernsehminute sowieso): Die Vereinigten Staaten von Amerika sind eine gespaltene Nation. Zwei ideologische Lager stehen einander gegenüber, und sie stehen fest und unverrückbar. Wer auch immer am 7. November als Wahlsieger aufwacht, wird die Hälfte des Landes hinter sich haben. Aber nur diese.“

Das alles ist richtig – und falsch zugleich. Wer wählt, entscheidet sich. Das heißt, er trennt sich auch von etwas. Schon Spinoza wusste: Omnis determinatio est negatio, alle Festlegung bedeutet Abspaltung.

Auf Obamas wie auf Romneys Seite mag es Fans geben, aber viele Amerikaner ringen mit sich und treffen am 6. November eine Bilanz-Entscheidung, schweren Herzens, wie man sagt. Kein Kulturkampf wird da ausgetragen, sondern bloß unterschiedlich resümiert. Trotz der gigantisch hohen Staatsverschuldung für Obama, trotz der Staatsverachtung der Republikaner für Romney.

Es gab in diesem Wahljahr kein wirkliches Erregungsthema, das die Leidenschaften hätte entfachen können. Weder Abtreibung noch Homo-Ehe, weder falsche Kriege noch Todesstrafe, weder Waffenbesitz noch globaler Klimawandel. Es geht um Krisenbewältigung, die bessere Art des Durchwurschtelns.

Der Obama-Hype ist verpufft, ein Romney wärmt kein Gemüt. Radikalliberale wählen Obama aus Pflichtgefühl (und Abneigung gegen Romney), konservative Christen stimmen ebenso mechanisch (und aus Abneigung gegen Obama) für Romney. Nicht um Hoffnungen oder gar Visionen geht es, sondern um politische Traditionen und das kleinere von zwei Übeln.

Ja, Amerika ist in zwei etwa gleich starke Lager gespalten. Aber die Schnittmenge an Werten und Überzeugungen, die diese beiden Lager verbindet, ist größer, als durch das Patt suggeriert wird. Amerika ist 2012 eher in zwei Pizzahälften geteilt, auf der linken liegen mehr Salamistücke, auf der rechten mehr Pepperonis. Aber zusammen bilden sie eben doch - eine Pizza.

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