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Vertrauensverlust - Wie die Finanzwirtschaft Europa aushöhlt

Das Vertrauen in Europa hat einen Tiefpunkt erreicht. Das liegt auch daran, dass es den Regierungen nicht gelungen ist, der global operierenden Finanzwirtschaft die Macht zu entreißen. So zerstören die Märkte ein historisches Friedensprojekt

Autoreninfo

Prof Dr. Michael Naumann ist Geschäftsführer der Barenboim-Said-Akademie gGmbH. Von Februar 2010 bis April 2012 war er Chefredakteur von Cicero.

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Vor einem knappen Jahrhundert stürzten sich die Großmächte Europas in den Abgrund des Ersten Weltkriegs. Als nach seinem Ende in den Versailler Verträgen die Landkarte des Kontinents neu gezeichnet wurde, geschah dies im Namen unverletzbarer nationaler Souveränität – im Geist des Westfälischen Friedens von 1648, ergänzt durch die Anerkennung ethnischer und sprachlicher Einheitlichkeit (mitsamt deren schmerzhaften territorialen Folgen für einige Staaten, zum Beispiel Ungarns). Jener Geist war allzu schwach und flüchtig, um als Widerpart nationalistischer, imperialistischer und rassistischer Ideologien des 20. Jahrhunderts zu bestehen.

„Nationale Souveränität“ reduzierte sich in den Worten des vorübergehenden NS-Apologeten Carl Schmitt auf das Recht des Staates, den inneren Notstand zu erklären. Ihre normative Komponente, die Einhaltung der Menschenrechte im souveränen Staat, sollte erst nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs zur globalen völkerrechtlichen Doktrin aufsteigen. Im Selbstverständnis des „Westens“ wuchs die Idee der nationalen, repräsentativen freiheitlichen Demokratie zum Synonym von Souveränität heran.

Das eigentliche politische Wunder unseres geschundenen Kontinents, die Verlagerung zahlreicher Komponenten dieser Souveränität auf die Europäische Union, ihre Kommissionen, ihr Parlament und ihre Gerichte sollte erst den West-, dann den Osteuropäern Jahrzehnte ökonomischen Wachstums in Frieden und Rechtstaatlichkeit bescheren. Reise- und Aufenthaltsfreiheit, soziale Sicherheit – wenn auch in unterschiedlichen Schattierungen – und vor allem das Ende von Handelskriegen oder gar klassischen Kriegsdrohungen addierten sich zu einem historischen Gesamtbild, auf dem gegenseitige Machtprojektionen und Interessenskonflikte verlagert wurden in immer größere Brüsseler Verhandlungsrunden. Deren politische Kunst des gesamteuropäischen Kompromisses ließ den Verlust nationaler Souveränität für die gewählten Repräsentanten in den je eigenen Parlamenten erträglich erscheinen. Ein freies und friedliches Europa – das hatte es in dieser Form noch nie gegeben.

[gallery:Der Vertrag von Lissabon]

Nationen, so der Historiker Hans Ulrich Wehler, sind „Erinnerungsgesellschaften.“  Ihre Erinnerung an das Unheil der Weltkriege beflügelte die Union. Aber Gesellschaften, die sich erinnern, können auch vergessen. Und in dieses Stadium der Selbstvergessenheit droht Europa in unseren Tage einzutreten. Ein Hohelied Europas erklingt in keiner einzigen Hauptstadt mehr, erst recht nicht in Paris oder in Berlin. Großbritannien sehnt sich fast mehrheitlich nach dem Austritt aus der Union.

Die Europäer zweifeln an sich selbst. Sie verteilen Hasszeugnisse an die Nachbarn, streiten über fiskalische und strategische Methoden, um der schwersten Wirtschaftskrise ihrer jungen gemeinsamen Geschichte zu entkommen. Und sie suchen nach Sündenböcken. Es sind altmodische Ausflüge in den keineswegs überwundenen Nationalismus der Vergangenheit, in die schöne, wenngleich verklärte und verblichene Welt der partikularen Souveränität.

Dabei übersehen sie einen neuen, gleichsam dritten Souverän. Er schert sich um gesellschaftliche Stimmungslagen ebenso wenig wie um Wahlergebnisse und jenen normativen Souveränitätsbegriff, der mit Menschenrechten auf politisch garantierte Gerechtigkeit in Freiheit verbunden ist (oder doch sein sollte): Dieser weltweit operierende Souverän ist die globale Finanzwirtschaft. Er ist anonym und entzieht sich jeder traditionellen Gerichtsbarkeit.

Er kennt keine Grenzen, kein gewähltes Parlament, keine Regierung und unterliegt einzig den Gesetzen des computerisierten Aktien- und Devisenhandels. Seine geheimen Armeen sind die so genannten „Finanzprodukte“, Derivate, Credit Default Swaps, Hedge Funds, Credit Default Obligations und dergleichen mehr. Seine Armeen sind Computer, seine Offiziere immer komplexere Algorithmen. Er handelt mit nationalen Devisen zum Nachteil der Nationalbanken, mit der Zukunft überschuldeter Nationen, mit Energieressourcen, Nahrungsmitteln und der Hilflosigkeit der europäischen Unionsmitglieder, sich auf eine einheitliche Fiskal- und Wirtschaftspolitik zu einigen.

Die vorerst letzte Chance, die Macht des dritten Souveräns zu brechen, die Macht der Banken-Giganten in New York und anderswo neu zu regulieren (wie es der Regierung Franklin Roosevelts nach dem historischen Wall Street Crash gelang) – diese Chance hat die Regierung Barack Obamas ebenso vertan wie die Regierungen der beiden europäischen Zentralmächte, Frankreich und Deutschland. Von Großbritannien ganz zu schweigen. Der dritte Souverän kennt keine besseren Normen als Profit. Darin gleicht er dem textilen Welthandel, dem über tausend Tote in einer zusammenkrachenden Slumfabrik irgendwo in Asien kein Bedauern wert ist: Der „Markt“ ist der „Markt“ – auch wenn er sich eines Tages unter den Trümmern seiner Maßlosigkeit endgültig selbst begräbt.

[gallery:Die Chronik der globalen Finanzkrise]

Die Erosion des europäischen Gemeinschaftsgefühls und Selbstvertrauens verläuft atemberaubend schnell. Das größte amerikanische demoskopische Institut, Pew Research, hat in seiner jüngsten Umfrage vom März dieses Jahres festgestellt, dass nur noch 45 Prozent der Europäer ihre Union positiv einschätzen. Zwölf Monate zuvor waren es 60 Prozent.

In Frankreich glauben 70 Prozent, dass die Wirtschaftsunion dem Land geschadet habe. Und 58 Prozent halten die EU insgesamt für schädlich – 18 Prozent mehr als im vorigen Jahr. Die Politik der deutschen Bundeskanzlerin wird in Griechenland (88 Prozent), Spanien (57 Prozent) und in Italien (50 Prozent) für die Krise haftbar gemacht. Nur in Deutschland sind 75 Prozent der Befragten mit dem Zustand der Wirtschaft zufrieden. Kein Wunder, dass unter den acht größten Nationen der Union fünf Länder der Meinung sind, dass Deutschland das herzloseste und arroganteste Mitglied sei.

Derlei Gemütsumfragen sind keine „Momentaufnahmen“, sondern das Resultat einer außerordentlichen und fortschreitenden Legitimitätskrise der politischen Gemeinschaft. Sie wird auch dann anhalten, wenn die furchterregenden Manifestationen der Rezession zumal in Südeuropa überwunden sein werden – was zweifellos länger als ein Jahrzehnt dauern dürfte. Die Bundesrepublik ist in europäischen Verruf geraten, ob schuldlos oder nicht, spielt keine wirkliche Rolle. Denn jene gesellschaftliche „Erinnerung“ der europäischen Nationen beruht weder auf Aktenstudium, noch auf transnationalen parlamentarischen oder bürokratischen Rettungsbemühungen in Straßburg oder Brüssel, sondern auf individuellen und familialen Erinnerungen an Arbeitslosigkeit, Armut und Verzweiflung.

Diesen schwer beschädigten Ruf zu reparieren, ist die Aufgabe der nächsten Bundesregierung. Ob sie bereit sein wird, ihr europäisches Austeritäts-Programm zu revidieren oder nicht, kann über das Schicksal der Europäischen Union entscheiden – aber nicht allein. Der dritte Souverän, die globale Finanzwirtschaft, behält sich das letzte Wort vor. Ihr dieses Wort zu entreißen, ist die eigentliche Aufgabe aller demokratisch gewählten Regierungen der Welt. Wenn es dafür nicht zu spät ist.

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