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(picture alliance) In den Augen der Weltöffentlichkeit ist Israel nicht selten der Aggressor

Deutschland und Nahost - Die Mär vom rachsüchtigen Israel

Israel hatte noch nicht reagiert, da kursierte bereits die Unverhältnismäßigkeitsvokabel durch die Gazetten. Warum sich deutsche Feuilletonisten so schwer tun mit Israel und sich der arabische Frühling längst gegen die einzige Demokratie in Nahost richtet

Israel hatte auf den Beschuss seiner Hauptstadt aus Gaza noch nicht reagiert, da war vielen bereits klar: Die Reaktion Israels würde unverhältnismäßig ausfallen. Deutsche Feuilletonisten, die links-liberale Presse war sich sicher, dass sich Israel auf das Gesetz der Rache berufen würde, um mit aller Gewalt zurückzuschlagen. Das Beliebigkeitsgleichnis von der „Spirale der Gewalt“ wurde ins Unerträgliche gedreht.

Auch wenn die meisten Kommentatoren Israel zumindest noch das Recht auf Selbstverteidigung zugestanden, ein „aber“ durfte nicht fehlen. Das „aber“ als obligatorische Absicherung, um sich ja nicht in eine womöglich kriegstreiberische Ecke schreiben zu lassen. Diesem “aber“ folgte schließlich die Spekulation. Netanjahu spiele der Beschuss in die Karten. Schließlich sei doch bald Wahl in Israel. Als hätte er die Hamas gebeten, Tel Aviv und Jerusalem anzugreifen. Es folgten die üblichen Erklärungsmuster und die Erkenntnis, dass die Gesetzmäßigkeiten von Ursache und Wirkung immer dann außer Kraft gesetzt werden, wenn die deutsche Öffentlichkeit auf Nahost blickt.

Auf die Spitze trieb es Spiegel-Online-Kolumnist Jakob Augstein: „Warum hat Israel Ahmed al-Dschaabari, den Militärchef der Hamas, gerade jetzt getötet?“ fragte er rhetorisch, um zugleich die Antwort zu liefern: „Weil die Wahlen in den USA gelaufen sind und die Wahlen in Israel bevorstehen. ... Jetzt führt Netanjahu den kleinen Krieg gegen die Hamas. Ein Stellvertreterkrieg, ein Funktionskrieg.“ Und: „Diese Leute sind aus dem gleichen Holz geschnitzt wie ihre islamistischen Gegner. Sie folgen dem Gesetz der Rache.“

Sicher gibt es Radikale auch in Israel, wie in jeder anderen Demokratie. Abgesehen von der Impertinenz der Gleichsetzung vergisst Augstein aber, dass die Radikalen in Israel nicht in der Mehrheit sind. Die Hamas in Gaza aber hat sie – Legitimation und Mehrheit. Und: Ein Blick in die Charta der Hamas würde genügen, um den antisemitischen Charakter dieser Organisation zu erkennen.

So erzählen sich hierzulande die Intellektuellen ihre ganz eigene Geschichte über den Nahostkonflikt. Verraten dabei wenig über die tatsächliche Situation, aber vieles über sich selbst. Und dilettieren zwangsläufig in dem Bemühen das Nie-wieder-Krieg-Pathos, das wir Deutschen doch so verinnerlicht haben, auf die Welt zu projizieren. Schließen haben wir es doch vorgemacht. Wann lernen die Israelis endlich aus unserer Geschichte? 

So wird aus Besserwisserei dann leicht gefährliche Rhetorik. Die Absurdität der Argumentation offenbart sich spätestens, wenn aus den Israelis, den Opfern von einst, die Täter von heute werden. Wenn die einzige Demokratie in Nahost mit Maßstäben gemessen wird, die an keiner anderen Demokratie der Welt angelegt werden.

Von „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ ist dann selbst bei Günther Jauch die Rede. Ein biblischer Vers, den bereits der nationalsozialistische „Stürmer“ zu instrumentalisieren wusste, um das Judentum als Vergeltungsreligion zu stigmatisieren. Eine Metapher, die spätestens seit der zweiten Intifada 2000 in deutschen Leitmedien Verwendung findet.

Seite 2: Warum der arabische Frühling auf Kosten der einzigen Demokratie in Nahost geht

Warum die Geschichte nicht einmal anders erzählen? Ganz nüchtern und ohne linkssozialisierte Befangenheit? Es ließe sich so anfangen:

Seit elf Jahren fliegen Raketen auf israelisches Staatsgebiet. (Und die Frage muss erlaubt sein: Wo stünde Deutschland heute, würde es über Jahrzehnte von seinen Nachbarn beschossen? Der Ruf nach Führung, nach Autorität, ist ja bekanntlich schon im Zuge der Eurokrise verbalisiert.)

Der arabische Frühling hat die Sicherheitsarchitektur in Nahost aus israelischer Perspektive vom Kopf auf die Füße gestellt, hat die ohnehin instabile Region noch unberechenbarer gemacht. In den letzten Monaten hat sich Drohkulisse um Israel herum konkretisiert:

Im Norden: Im Verlauf des syrischen Bürgerkrieges schlugen erstmals Artilleriegeschosse auf den von Israel besetzten Golanhöhen ein. Die Hisbollah fürchtet die Niederlage ihres engsten Verbündeten Baschar al-Assad. Nebenbei wurden Raketen, Granaten und Gewehren aus dem libyschen Bürgerkrieg gegen Gaddafi über Ägypten auf den Sinai und den Gazastreifen geschmuggelt.

Im Süden: In Teilen des Sinai herrscht Anarchie durch radikale Dschihadisten aus dem Gaza-Streifen, die mittlerweile auch mit Raketen in Richtung Israel operieren. Mursis Muslimbrüder in Ägypten stehen der Hamas ideologisch nahe. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas hat längst nichts mehr zu sagen, spielte bei den jüngsten Verhandlungen keine Rolle. Auch die Abkehr der Hamas von Assad und vom Iran kann die Terrororganisation gut verkraften, denn sie findet verstärkt Unterstützung aus Ägypten und Katar.

Iran: Die größte Bedrohung sieht Israel nach wie vor in Iran. Es greift nach der Atombombe, droht offen mit der Vernichtung Israels.

Im Norden wird auch die Türkei immer israelfeindlicher. Erdogan spricht von „ethnischen Säuberungen“ die Israel durchführe. Die Palästinensergruppen im Gazastreifen würden Gebrauch von ihrem Recht zur "legitimen Verteidigung" machen, indem sie sich mit ihren Raketen gegen die "wahllosen und illegalen Angriffe" Israels wehren.

Mehr als 1.000 Raketen und Granaten wurden vom Gazastreifen in diesem Jahr auf Israel abgeschossen. Im Süden Israels fühlen sich die Bewohner verlassen von ihrer Regierung und vergessen von der Welt, die nichts hören will von den wöchentlichen Raketenbeschüssen.

Und nun? Erstmals seit 21 Jahren, seit dem Golfkrieg von 1991, als der Irak Israel mit Scud-Raketen beschoss, gab es wieder Luftalarm im Herzen Israels, in Tel Aviv und Jerusalem.

Und da wundert es, dass sich Israel in seiner Existenz bedroht fühlt?

Frieden ist weit mehr als die bloße Abwesenheit von Krieg. Doch für Israel ist es genau das. Die größte Annäherung an die Normalität. Israel ist umringt von Staaten, die es am liebsten von der Landkarte tilgen würden. Jede verlorene kriegerische Auseinandersetzung birgt eine unmittelbare Gefahr der Existenz Israels. Trotz permanenter Bedrohung ist das Land ein demokratischer, multiethnischer Staat geblieben, ein bunter Staat mit Parteien im Parlament, die sogar den eigenen Staat ablehnen.

Vergessen wir also nicht: Hier kämpft ein Land um seine Existenz. Die Hamas wird Israel weiter hassen, die arabische Welt Israel als Aggressor verunglimpfen. Befreiung der Palästinenser heißt, sie von Hamas und Hisbollah zu befreien. Bisher entfaltet sich der arabische Frühling aber (mit dem sich so viel Hoffnung und Demokratisierungwünsche verbanden) längst auf Kosten der einzigen Demokratie in Nahost.

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