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Islamgelehrter über den Terror - „Der Koran ändert sich nicht“

Ahmad Mohammad al Tayyeb gilt als höchste religiöse Instanz im sunnitischen Islam. Was denkt er über den „Islamischen Staat“, über die Reform seiner Religion und die Schiiten?

Autoreninfo

Elisabeth Lehmann ist freie Journalistin in Kairo.

So erreichen Sie Elisabeth Lehmann:

Herr Großimam, wie viel Autorität hat Ihre Al-Azhar-Universität noch?
Ahmad Mohammad al Tayyeb: Al Azhar ist die Referenz für alle Sunniten weltweit. Und diese machen 90 Prozent der Muslime aus. Daraus entsteht die Stärke der Al Azhar. Wir versuchen immer, Versöhnung zwischen den Religionen zu schaffen. Zwischen Christen, Sunniten und Schiiten. Das ist ein Glied für den sozialen Frieden auf regionaler Ebene. Wir versuchen auch, den sozialen Frieden in der Welt zu etablieren.

Der „Islamische Staat“ stellt eine Herausforderung für die muslimische Gemeinschaft dar, aber auch ideologisch für den Islam. Wie geht Al Azhar damit um?
Ich bevorzuge die Bezeichnung „Islamischer Staat im Irak und Syrien“ statt „Islamischer Staat“, weil es zurzeit keinen islamischen Staat in diesem Sinne gibt. Es gibt islamische Staaten, und Al Azhar erkennt die neue Teilung der Welt auf der Grundlage internationaler Konventionen an. Sie besteht aus vielen Staaten, und jeder Staat hat seine Grenzen. Der Isis hingegen behauptet, ein weltumfassendes islamisches Kalifat durch Krieg errichten zu wollen. Das ist falsch.

Lehren Sie das auch an Ihrer Universität?
Al Azhar als Institution lehrt seine Studenten, dass der Islam sich nicht mittels Waffen verbreiten kann. Sondern durch Argumente, Logik und Überzeugung. Und dass die Kriege, die in Zeiten des Propheten stattgefunden haben, allesamt Verteidigungskriege waren. Sie hatten auch nicht das Ziel, andere Länder zu erobern und Menschen den Islam aufzuzwingen, wie es jetzt der Isis und andere islamistische bewaffnete Bewegungen tun. Es gibt nur eine Ausnahme, wann Muslime Krieg führen müssen: wenn ein anderer Waffen gegen sie richtet.

Ägyptens Präsident al Sisi hat zu einem neuen religiösen Diskurs aufgerufen. Glaubt Al Azhar, dass der Islam eine fundamentale Erneuerung braucht?
Das Wort fundamental bedeutet, den Koran und die Fundamente der Religion anzutasten. So ist es nicht gemeint. Der Präsident hat einmal gesagt, dass er weder eine grundlegende Erneuerung meint noch eine neue Interpretation der Schriften, sondern dass wir heute neue Probleme haben, die es früher nicht gab. Wir haben bald ein Treffen mit den Ministerien, die für Bildung zuständig sind. Es wird ein allgemeines Fach an allen Universitäten eingeführt, das die Ursprünge des Terrors behandelt und wie diese Leute die Schriften falsch interpretieren.

Welche Maßnahmen gibt es noch?
Unter anderem bauen wir gerade ein Beobachtungszentrum in verschiedenen Sprachen auf. Es soll verfolgen, was Isis und die anderen bewaffneten Bewegungen in der Welt verbreiten. All das wird einer Kommission von Al-Azhar-Gelehrten vorgelegt. Es werden dann die passenden Antworten formuliert, übersetzt und auf der Internetseite von Al Azhar veröffentlicht.

Und das soll helfen?
Diese Maßnahme ist wichtig, um die falschen Begriffe, auf die diese Bewegungen zugreifen, richtigzustellen. Wir haben auch unsere Lehrpläne überarbeitet, um diese Begriffe richtig zu erklären. Das wird jetzt an mehr als 2,5 Millionen Schüler und Schülerinnen vermittelt, damit sie lernen, auf die Argumente dieser Bewegungen zu antworten, und damit sie verstehen, dass diese Bewegungen nichts mit dem Islam zu tun haben.

Denken Sie, es reicht, Lehrpläne zu ändern, um die Weltanschauung der Jugendlichen zu beeinflussen?
Auf der theoretischen Ebene ja. Aber praktisch brauchen wir reale Veränderungen. Das heißt, wir brauchen eine Belebung der Wirtschaft, so wie es Ägypten gerade macht. Arbeitsplätze müssen entstehen. Denn solange es Armut gibt, gibt es Unwissenheit. Dabei muss auch der Westen seine Verantwortung übernehmen und den Ländern der Region helfen, sich von der Bestie Terror zu befreien. Das kann zum Beispiel über wirtschaftliche Zusammenarbeit geschehen. Und durch politische Unterstützung. Der Westen muss den arabischen Ländern einen Schutzwall garantieren und verhindern, dass diese Gruppen mit unserer Sicherheit spielen. Denn sollte der Terror hierbleiben, wäre es vollkommen falsch zu denken, dass der Westen verschont bleibt.

Die Maßnahmen von Al Azhar sind lediglich Reaktionen. Hätten Sie nicht viel früher das Bild des Islam verändern müssen?
Es ist erforderlich, den Islam so zu präsentieren, wie er ist: dass er den anderen respektiert, an den anderen glaubt und ihm die Glaubensfreiheit gewährt. Erneuerung ist im Islam vorgeschrieben. Aber die heutige Situation ist neu für uns. Wir hatten diese Probleme vor 20 Jahren nicht. Im Gegenteil, wir waren überrascht von dieser satanischen Pflanze, die aus der Erde herausgekrochen ist.

Was tun Sie dagegen?
Wir haben angefangen, uns damit auseinanderzusetzen. Es funktioniert nicht so, wie manche es fordern: Ändert euer kulturelles Erbe, ändert den Koran. Nein, der Koran ändert sich nicht. So wie ihr nicht fordert, dass sich die Bibel ändern muss, fordert bitte auch nicht, dass sich der Koran ändern muss. Was wir jetzt brauchen, ist eine Rückbesinnung auf den Koran. Und nicht eine Fehlinterpretation oder seinen Missbrauch für große politische Vorhaben. Wir müssen zurück zum barmherzigen Islam. Und in diesem werden keine Christen enthauptet, nur weil sie Christen sind.

Sie sprechen die Enthauptungen an. Diese schrecklichen Bilder …
Der Islam verbietet so etwas absolut. Er erkennt diese Praktiken nicht an. Zeigen Sie mir einen einzigen Menschen, den der Prophet enthauptet haben soll.

Trotzdem beruht die ideologische Grundlage von Isis auf dem Islam. Außerdem führen die Isis-Anhänger an, sie seien in einem Verteidigungskrieg.
Das ist ein schwerwiegender Fehler. Das ist eine Verunstaltung der Philosophie des Islam in Bezug auf Krieg und Selbstverteidigung. Dschihad wird im Koran als Kampf zur Selbstverteidigung verstanden. Aber es gibt dort auch den Dschihad mit der Vernunft, dem besseren Argument, mit dem aufrichtigen Verhalten. Diese Gruppen interpretieren feste islamische Lehren falsch. Sie bezeichnen Muslime und deren Regierende als Ungläubige, um den eigenen Dschihad rechtfertigen zu können.

Hat Al Azhar dazu beigetragen?
Al Azhar und der Islam tragen keine Schuld an dieser Auffassung. Al Azhar erklärt keinen Moslem als ungläubig, und der Islam erkennt an, dass es Menschen gibt, die nicht an ihn glauben. Er zwingt niemanden, zum Islam überzutreten – mit Waffen schon mal gar nicht. Das ist unmöglich. Man kann ein bestimmtes Verhalten mit Waffen erzwingen, aber niemals den Glauben.

Dennoch schafft es der „Islamische Staat“, viele von der Idee zu begeistern, den Islam durch Waffengewalt zu verbreiten.
Der größte Beweis, dass sie lügen, ist, dass sie den Islam in islamischen Ländern verbreiten wollen. Wer kommt auf so einen Blödsinn? Diese Bewegungen sind Phänomene, die entstanden sind unter anderem aufgrund der vielen Rückschläge für die Jugendlichen. Aufgrund der wirtschaftlichen Rückständigkeit unserer Länder. Der hohen Arbeitslosigkeit. Aber auch wegen der Herrschaft Israels über die Palästinenser über sehr, sehr lange Zeit. Diese Gruppen gewinnen an Stärke, weil hinter ihnen, ob Isis oder andere, große internationale Mächte stehen, die den Nahen Osten destabilisieren wollen. Weil es gerade erwünscht ist, hier Chaos zu stiften, die Grenzen zu verschieben, das Gleichgewicht zu verändern. Da ist es am einfachsten, die Religion zu missbrauchen.

Wer soll hinter diesen Plänen stecken?
Die Weltordnung, die das Ziel hat, einen neuen Nahen Osten zu kreieren, die wurde schon aufgeschrieben, gelesen, übersetzt. Sie wissen bestimmt, wie Millionen andere auch, dass es so etwas gibt wie kreatives Chaos. Das soll in der ganzen Welt verbreitet werden. Vor allem in Ländern des Nahen Ostens. So ist es zu den gewaltigen Erschütterungen in Syrien oder im Irak gekommen. Warum sollte sich der Irak spalten? Warum sollte es dort einen Krieg zwischen Sunniten und Schiiten geben? Ein Krieg zwischen den Kindern derselben Religion. Schauen Sie sich Jemen an, schauen Sie sich Libyen an. Sie haben es innerhalb von Stunden zerstört, damit sie von den Libyern verlangen können, was sie wollen.

Werfen Sie konkreten Ländern vor, sie würden hinter diesem Chaos stehen?
Ich werfe das großen internationalen Regimen vor. Eigentlich ist das kein Vorwurf mehr. Es gibt Bücher, die offen dazu aufrufen. Schauen Sie sich die Veränderungen im Kräftegleichgewicht an. Dahinter steckt eine bestimmte Kraft, die wiederum von weiteren internationalen Kräften unterstützt wird und das Ziel hat, über die Region zu herrschen. Und sie sagt bereits: „Hier ist mein Imperium, hier ist meine Hauptstadt.“ Dabei geht es um eine arabische Stadt.

Über wen reden wir hier? Über welche Stadt?
Aber entschuldigen Sie bitte. Es wurde doch gesagt: „Wir holen uns jetzt unser Imperium zurück und die Stadt X ist unsere Hauptstadt.“ Das weiß doch jeder.

Sie sagen, der Islam wird immer wieder diffamiert, wenn er im Zusammenhang mit Politik genutzt wird. Wäre es dann nicht das Beste, Religion und Politik zu trennen?
Nein, die Frage ist nicht die Trennung von Islam und Politik. Die Väter der christlichen Kirche haben in ihren Kreuzzügen auch die Religion als Stütze genutzt. Diese Kriege haben uns getötet, und unser Blut ist 200 Jahre lang geflossen. Haben wir deshalb das Christentum verurteilt? Nein. Wenn ihr den Islam auf Grundlage der Praktiken von Isis verurteilt, dann sei es mir auch gestattet, das Christentum auf Grundlage der Kreuzzüge zu bewerten. Oder können Sie zum Beispiel Israel sagen: „Du, Israel, du jüdischer Staat, lass’ die Finger von der Politik?“ Dass die Muslime früher andere bekämpft haben, ja, das stimmt. Wie jedes andere Volk auch, das seine Aggressoren bekämpft. Dabei gibt es bis heute einen Krieg gegen den Islam. Der wird von Israel geführt, im Namen der Religion. Es ist Israel, das Palästinenser und Araber tötet und ihr Land besetzt. Wenn man die religiöse Decke abnimmt, welche Berechtigung hätte denn Israel in dieser Region?

Aber es gab den Holocaust …
Haben wir die Leute in die Gaskammern geführt? Wir waren es nicht. Die, die es waren, sind im Westen. Dann hat Israel diejenigen angegriffen, die an seine Religion glauben. An Moses, Gott segne ihn, an die Thora. Ist das logisch?

Lassen Sie uns über die Einigung in der arabischen Welt im Kampf gegen den Terror reden. Wie soll sie jetzt zustande kommen?
Die arabischen Staaten haben endlich angefangen, sich zu einigen. Vor allem in der Jemen-Frage. Was gerade in Jemen passiert, wird auch im Kampf gegen die islamistischen bewaffneten Bewegungen in Zukunft passieren. Im Prinzip haben wir bei diesem Schritt wieder auf die Stimme des Islam gehört, die uns zum Bündnis und zur Einigung auffordert. Hätten wir das 1948 gemacht, als die Arabische Liga gegründet wurde, wäre unsere Situation eine ganz andere und unsere Haltung auch.

Es scheint, als sei der Krieg in Jemen ein Krieg zwischen Schiiten und Sunniten. Und Sie sagen, die arabische Welt habe sich geeinigt? Gegen die Schiiten, weil der Iran die Huthis, die Jemens Parlament mit Waffengewalt aufgelöst haben, unterstützt?
Nein, nein, nein. Diese Frage ist sehr gefährlich. Die Araber haben nie Waffen gegen Schiiten getragen. Das ist falsch. Sie richten Waffen gegen die Abtrünnigen, die sich mit Waffengewalt gegen die Legitimität des jemenitischen Staates stellen. Das sind an erster Stelle Araber, Jemeniten [und nicht Schiiten, Anmerkung der Redaktion]. Der Jemen hat die arabische Welt um Hilfe gebeten, und die arabische Welt ist Jemen zu Hilfe geeilt. Das ist die eine Sache. Dass nun gesagt wird, dass die Araber sich vereint haben, um Waffen gegen die Schiiten zu richten, ist etwas ganz anderes. Das ist definitiv nicht passiert.

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