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(picture alliance) London brennt

Krawall in England - Aufstand der Vergessenen

Großbritannien ist im Aufruhr. Sind da Kriminelle aktiv, Banden, die Spaß an Gewalt und Chaos haben? Oder sind die Gewaltausbrüche nicht auch Hilfeschreie längst Vergessener? Spiegeln sie eine gesellschaftliche Realität wider, in der der soziale Ausgleich in Vergessenheit geraten ist?

Großbritannien brennt. Während in der Nacht zu Mittwoch 16.000 Polizisten in London versuchten das schlimmste zu verhindern, scheint der Aktionismus der Randalierer in vielen britischen Städten ungebrochen. Der Rest der Welt blickt ratlos und ohnmächtig auf die Insel.

Die Menschen sind schockiert vom Ausmaß scheinbar sinnloser Zerstörungswut. Am Fernsehschirm werden sie Zeuge, wie vermummte Gestalten Autos anzünden, wie Schaufenster bersten und ganze Häuserblocks in Flammen aufgehen. Es scheint, als hätten die Revolutionen in der arabischen Welt den alten Kontinent erreicht. Doch während in Ägypten, Libyen und anderswo Menschen für Demokratie auf die Straße gehen, wird in Großbritannien die Demokratie auf eine harte Probe gestellt.

Doch es sind nicht nur die Randalierer, die die Demokratie gefährden. Es sind vor allem auch die Eliten in Politik und Wirtschaft. Sie haben jene politische Strukturen und gesellschaftliche Verhältnisse geschaffen, in der eine Minderheit gedeihen konnte, die sich der Mehrheitsgesellschaft nicht mehr zugehörig fühlt.  Nicht erst seit der Wirtschaftskrise ist erkennbar, wie sehr die Eliten den demokratischen Staat als Selbstbedienungsladen für Privilegierte missverstanden haben.

Und die Politik? Sie ist überfordert und überträgt die Verantwortung zumindest vorübergehend auf die Polizei. Die sieht sich allerdings ebenfalls außerstande, die Gewalt in den Griff zu bekommen. Es klingt paradox, aber zumindest ist diese Überforderung beruhigend:  Denn wäre ein Rechtstaat auf derartige Eruptionen der Gewalt vorbereitet, hätte er seine Namen längst nicht mehr verdient.

So ist es dann irgendwie auch wieder eigentümlich, dass ausgerechnet in einer Stadt wie London, die bislang als eine der sichersten Städte der Welt galt, derartiges möglich ist. Die unzähligen Kameras, die die Stadt zu einer gläsernen machen, filmen nun ohnmächtig auf die Gewalt, die sie doch eigentlich verhindern sollten. All ihre Objektive sind dieser Tage stumme Zeugen, die ein bis dato unvorstellbares Szenario still dokumentieren.

Während der Mob die Straße beherrscht, ist der Premierminister David Cameron darum bemüht zumindest die rhetorische und mediale Hoheit über sein Land zurückzugewinnen. Er versucht, politisch in die Offensive zu gehen, spricht von der ganzen Härte des Gesetztes und heizt damit die Stimmung aber eher an. Gleichzeitig jedoch verliert der Konservative kein Wort über mögliche Motive der Randalierer. Eine solche Reaktion ist verständlich, aber strategisch nicht unbedingt von Vorteil. Cameron wirkt wie die gesamte politische Elite Großbritanniens: hilflos. Und er scheint zudem nichts aus den Fehlern des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy gelernt zu haben, der seinerzeit als Innenminister während der Unruhen in den Pariser Banlieues die Stimmungen mit unflätigen Drohgebärden zusätzlich anheizte.

Der Auslöser, der Tod eines Familienvaters in Tottenham, spielt bei den Unruhen längst keine Rolle mehr. Vier Nächte dauern die sogenannten Riots mittlerweile an. Die Unruhen beschränken sich nicht mehr nur auf das Londoner Problemviertel Tottenham. Der Funke des Hasses ist mittlerweile auch auf andere Viertel und Städte übergesprungen. So frisst sich der marodierende Mob längst auch durch  Bristol, Birmingham oder Leeds.

Dabei kann bislang niemand die eigentlich wichtigen Fragen überzeugend beantworten. Wer sind die Krawalleure und vor allem, was treibt sie an? Wer sind die jungen Leute, die das Vereinigte Königreich in den Ausnahmezustand versetzt?

Die üblichen Experten sind schnell mit den üblichen Erklärungen zur Hand. Wirtschaftliche, soziale und politische Ursachen werden genannt: 20 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, soziale Kürzungen, Jugendklubs, die reihenweise geschlossen werden. Hinzukommt eine allesumfassende Perspektivlosigkeit. Bis 2015 sollen 91 Milliarden Euro im Sozialbereich gekürzt werden: Das betrifft Kindergeld, Betreuungsgeld, Wohnzuschüsse, Steuererleichterungen für Familien und und und. Faktoren, die eine Stimmung erzeugen, in der sich Gewalt wohl fühlt.

All das rechtfertigt nicht die Gewalt und erklärt auch nur im Ansatz, was sich und vor allem warum sich dies alles jetzt und in dieser Form bahnbricht. Die Gewalt kam über Nacht, die Ursachen haben sich jedoch über Jahre aufgestaut. Die britische Gesellschaft ist tief gespalten. Es scheint, als zögen frustrierte Jugendliche, die sich von der Mehrheit ausgeschlossen fühlen, nun gegen diese in den Krieg. Es sind gerade in Großbritannien zu viele, die sich im Zuge einer Entindustrialisierung mit all ihren negativen Folgen von der Gesellschaft ausgeschlossen fühlen und auf der Strecke geblieben sind. Zu viele, die sich nun glauben bedienen zu müssen, weil sie nicht mehr bedient werden.

Die Ereignisse sollten eine Warnung sein. Eine Warnung für westliche Gesellschaften, die berühmte Schere zwischen Arm und Reich nicht zu weit auseinanderdriften zu lassen. Wenn die Ereignisse eines verdeutlichen, dann wie wichtig sozialer Frieden ist.  Eine Demokratie ohne soziale Gerechtigkeit ist ein fragiles Gebilde, das aus sich heraus nicht lebensfähig sein kann.

Und wer dem jetzt entgegnet, die Randalierer seien doch nur Kriminelle, weil sie keine politischen Motive verbalisierten und keine politische Stoßrichtung hätten, der denkt zu kurz. Der hat möglicherweise insofern Recht, was den Jetztzustand der Unruhen betrifft. Aber Revolutionen und gesellschaftliche Umwälzungen brechen sich am Anfang immer chaotisch bahn: ein Auslöser, ein Flächenbrand. Politische Forderungen kommen später. Bleibt abzuwarten, ob sich die Aufständischen noch zu einer politischen Masse mit konkreten Forderungen formieren werden. So lässt sich dann auch bei Karl Marx nachlesen, wie aus einer Klasse an sich, durch kollektive Kämpfe und kollektive Erfahrungen eine Klasse für sich wird.

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