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Migrationspolitik - Armutszuwanderung droht die EU zu spalten

Der Kampf um die besten Köpfe hat in Europa längst begonnen. Doch das Prinzip, Einwanderer nach Leistung auszusuchen, ist in der EU hoch umstritten. Ein Vorstoß Großbritanniens hat das Potenzial, den Staatenbund zu sprengen

Gunnar Heinsohn

Autoreninfo

Gunnar Heinsohn lehrt Militärdemografie am NATO Defense College in Rom und Eigentumsökonomie am Management-Zentrum St. Gallen. 

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Vielleicht ist Großbritannien ja ein Vorreiter in der EU. In dieser Woche debattiert das britische Unterhaus über ein Gesetz, das Abschiebungen erleichtert und Einwanderern den Zugang zum Sozialsystem erschwert. Während die EU empört ist und auf geltendes europäisches Recht verweist, geht das Gesetz manchen Konservativen nicht weit genug. Der Streit hat das Potenzial, Europa zu spalten. Mit seiner restriktiven Einwanderungspolitik definiert London die Sollbruchstelle.

Der Kampf um die besten Köpfe hat in Europa längst begonnen. Bis 2020 kann allein die entwickelte Welt 35 Millionen Arbeitskräfte aufgrund ihrer Qualifikationsmängel nicht auf dem Arbeitsmarkt unterbringen. Aber auch diese Bürger haben nicht weniger Menschenwürde als die übrigen und müssen versorgt werden. Zugleich jedoch können die Länder der Ersten Welt einer McKinsey-Studie zufolge wahrscheinlich 18 Millionen Könner nicht finden, die sie benötigen, um in der globalen Spitzengruppe mitzuhalten.

Wettlauf unter Kannibalisierern


Diese Zwangslage erzeugt einen Wettlauf unter Kannibalisierern. Verlieren werden diesen Wettlauf jene Länder, die ihre Grenzen anderen überantwortet haben. Wenn heute die Schweiz und Kanada die höchsten Migrantenquoten der Ersten Welt aufweisen und zugleich in den globalen Schülerkonkurrenzen wie PISA und TIMSS gleich hinter den Ostasiaten rangieren, dann liegt das an ihrer Macht, Einwanderer nach Leistung auszuwählen. Niemand kann sie zwingen, mehr Unqualifizierte aufzunehmen, als versorgt werden können.

Natürlich wollen Konkurrenten wie etwa Großbritannien nicht abgehängt werden. Sie spüren, dass sie ohne Souveränität über ihre Grenzen mit den unabhängigen Staaten einwanderungspolitisch nicht mithalten können. Die EU hingegen nötigt London – wie alle anderen Mitgliedsländer auch – alle EU-Bürger, die kommen wollen, qua EU-Grundrecht der Freizügigkeit aufzunehmen. Doch am 14. Januar 2014 hielt Londons Schatzkanzler George Osborne dagegen: In Zukunft werde man über Zuwanderungskontrolle und Kürzungen bei der Sozialhilfe selbst entscheiden. Ein entsprechendes Gesetz ist in Arbeit.

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Und das besitzt aus einem Grund Sprengkraft: Ein halbes Jahrtausend lang (von 1484 bis circa 1970) konkurrierten Europas Staaten auch über ihre schieren Menschenmassen. Deshalb stand Geburtenkontrolle unter Strafe und deshalb musste der Staat aufgrund der Geburtenerzwingung in Krisenzeiten als zahlender Notfallvater einspringen. Notlagen bringen gewaltige Kinderscharen an den Rand der Existenz. Das gilt als der wichtigste Grund für Sozialhilfe – im Unterschied zu Schutzmaßnahmen bei Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter, die über Pflichtversicherungen finanziert werden können.

Noch bis in die 1960er/1970er Jahre kommt Europa bei seiner Vermehrungspolitik mit der Mengenorientierung passabel zurecht. Schließlich können über 50 Prozent aller Arbeitsplätze durch Un- oder Angelernte besetzt werden. Bis dahin durfte gewissermaßen blind darauf gesetzt werden, dass die benötigte Spitzenkompetenz beim Gesamtnachwuchs schon mit dabei ist.

Humankapital aktiv managen


Mittlerweile jedoch nähert sich die Erste Welt einer Situation, in der vielleicht nur noch 10 bis 15 Prozent Unqualifizierte Arbeit finden. Alle Übrigen ohne Ausbildungsreife benötigen ein Leben lang das Geld ihrer Mitbürger. Damit wird die überkommene Mengenorientierung bei der Bevölkerungspolitik selbstzerstörerisch.

Jede Regierung aus der Spitzengruppe von rund 50 Staaten muss also ihr Humankapital aktiv managen. Sie muss die Zahl dauerhaft Leistungsfähiger maximieren und den Anteil der lebenslang Hilflosen am Gesamtmix im Auge behalten. Staaten wie Australien, Kanada oder die Schweiz gewinnen durch schlichte Nicht-EU-Mitgliedschaft entscheidende Vorteile. Sie können aufgrund ihrer Souveränität Freizügigkeit für fremde Könner unabhängig von Religion, Hautfarbe und Gesichtsschnitt garantieren, gleichzeitig Schwerqualifizierbare abwehren. Längst führt dies zu einer globalen Konkurrenz um anwerbeoptimale Grenzsicherungen einerseits sowie zum Abschmelzen der Mittel für bildungsferne Großfamilien. Da Geburtenkontrolle legal ist, kann sich niemand mehr auf fremdverschuldeten Gebärzwang herausreden.

Großbritannien kündigt der EU nun an, sie auch gegen seine Gefühlslage verlassen zu müssen, wenn es durch Unterhaltspflichten für den Süden seine eigene Konkurrenzfähigkeit verliert. Die Optimierung heimischer Kompetenz werde unterlaufen, wenn es weiterhin für inkompetente Immigranten oder über Transfers an ihre Herkunftsgebiete jedes Jahr hohe Milliardenbeträge verliere. Andere Nationen können dieses Geld für ihr Vorankommen einsetzen.

Das EU-Paradox besteht ja darin, dass die Geberländer nur deshalb helfen können, weil sie global noch mitspielen. Werden die hiesigen Belastungen aber so groß, dass sie international abrutschen, können sie weder andere unterstützen noch sich selbst erhalten. Dann – wenn auch unter Tränen – obsiegt der Kampf fürs eigene Überleben.

Die Kontinentaleuropäer hören nur die Kränkung in Osbornes Aussage, dass der Finanzplatz London eben nicht mit Frankfurt oder Paris konkurriere, sondern den heißen Atem Singapurs und New Yorks im Nacken spüre. Die drohende Transaktionssteuer betrachte man deshalb als Fehdehandschuh: „Schützt die gemeinsamen Interessen von Nichtmitgliedern der Eurozone. (…) Es kann niemandes Interesse sein, Großbritannien vor die Wahl zu stellen, dem Euro beizutreten oder die EU zu verlassen.

Die EU-Führer sehen durchaus, dass der – aus globaler Kompetenzkonkurrenz geborene – Wettlauf um den Wiedergewinn der Grenzhoheit in vollem Gange ist. Mal drohen sie den Briten mit Rausschmiss, wie Viviane Reding, die Vizepräsidentin der Europäischen Kommission: „Wenn Großbritannien die EU verlassen möchte, soll es das sagen.“ Mal geben sie sich geschmeidig, damit nicht andere auf dieselben Gedanken kommen. Wollen sie Freizügigkeit auch für Kostgänger erzwingen, wird das die Briten näher zum Ausgang bringen und die Machtbasis unterminieren, die man doch gerade erhalten will. Geben sie nach, ist es mit einer tieferen Integration der EU vorbei.

Der bisher noch hypothetische Fall eines britischen Abschieds wird von anderen EU-Nettozahlern natürlich genau beobachtet. Sie haben schließlich dieselbe Sorge vor einem internationalen Leistungsabfall. Zum britischen Austritt kommt es bisher ja auch deshalb nicht, weil London Angst hat, alleine zu gehen, zumal obendrein auch noch die Trennung von Schottland droht. Erhält Großbritannien aber Signale, dass andere mitziehen könnten, käme es sehr schnell zu Neuzuschnitten in Europa (siehe Cicero 2/2011).

Brüssel würde potente Nettozahler verlieren


Viele bisher nur still grummelnde Bürger würden verstehen, dass es mehr gibt als die Alternative zwischen nationalem Chauvinismus und Brüsseler Kollektivismus. Obwohl ihnen das täglich nahegebracht wird, sähen sie nun, dass es nicht nur rückwärtsgewandte Optionen, sondern auch multinational-progressiven Fortschritt in der Alten Welt geben kann.

Eine bisher noch hoch spekulative, aber doch angedeutete Variante – Osborne lobt ausdrücklich Schweden – wäre ein EU-Ausstieg nicht nur Großbritanniens, sondern auch der vorzüglich Englisch sprechenden Skandinavier. Bei einer solchen Nordunion würde Brüssel potente Nettozahler verlieren. Deutschland stünde bei den Zusatzlasten für Osteuropa alleine da.

Eine Nordunion, die wegen zu geringer Geburten ja auf absehbare Zeit Immigranten benötigt, wäre für Spitzenkräfte attraktiv. Aus den demografisch unrettbaren Gebieten Europas würden viele der Besten dorthin abwandern. Anders als in der EU wäre man aber nicht mehr genötigt, durch Megabeträge für die süd- und osteuropäischen Gebiete die eigene Existenz aufs Spiel zu setzen. Auch ein Zerreißen der heimischen sozialen Netze durch Aufnahme zu vieler Hilfloser könnte herausgezögert werden. Dadurch gewänne eine solche Union eine echte Chance, die globale Noch-Prosperität ihrer Einzelmitglieder zu verteidigen. Militärisch wäre sie aufgrund der britischen Nuklearkapazität selbst jenseits der NATO weitgehend unanfechtbar und dadurch ein interessanter, weil nicht nur um Hilfe bettelnder Bündnispartner.

Eine Nordunion (siehe Grafik) hätte rund 83 Millionen Einwohner, müsste nur minimale Landgrenzen kontrollieren und könnte mit Londons Schlagkraft global einen Hort der Sicherheit bilden. Einem solchen Bündnis würden womöglich weitere Regionen wie etwa die Niederlande oder Flandern zustreben. Eine Rest-EU, die den innovationsfern-vergreisenden Südosten alimentieren müsste, hätte dem wenig entgegenzusetzen.

 

 

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