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Völkermord an den Armeniern - „Es gab eine direkte deutsche Schuld”

Die Bundesregierung hat sich schwer getan mit dem Wort „Völkermord” in Bezug auf die Verbrechen an den Armeniern 1915. Der armenische Historiker Gerard Libaridian, dessen Großvater dank der Intervention eines deutschen Soldaten überlebte, sieht eine Mitverantwortung des Deutschen Reiches

Autoreninfo

Krisztian Simon ist ein ungarischer Journalist. Er war Stipendiat der Robert-Bosch-Stiftung in Berlin. Zurzeit ist er unterwegs in Zentralasien.

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Gerard Libaridian war bis 2012 Professor für moderne armenische Geschichte an der University of Michigan. In den neunziger Jahren arbeitete er als Berater des armenischen Präsidenten und war auch Mitglied des Nationalen Sicherheitsrates, wo er sich mit türkisch-armenischen Beziehungen befasste. Er ist Autor und Herausgeber mehrerer Bücher über das moderne Armenien.

 

Herr Libaridian, nach dem Ersten Weltkrieg hat der letzte Sultan des Osmanischen Reiches, Mehmed VI., ein Sondermilitärgericht  eingerichtet, um gegen die Täter zu verhandeln. Mehrere Leute wurden damals hingerichtet. Warum gab es nach diesem viel versprechenden Anfang keine wirkliche Aufarbeitung der Geschehnisse?
Das Sondergericht war wichtig und brachte sehr viele Informationen zutage. Aber das Gericht wurde nur auf Druck der Alliierten eingerichtet. Nach der Machtübernahme Mustafa Kemals wurde es wieder eingestellt. Kemal wusste natürlich, was mit den Armeniern passiert war, aber er wollte nicht, dass sein neuer Staat von der Vergangenheit gefangen gehalten wurde. In seinem Nationalstaat sollte die Geschichte erst mit dem Jahr 1919, also mit seiner Ankunft in Anatolien anfangen. Die Ideologie der neuen Türkei ließ es nicht zu, dass man über diese Geschehnisse sprach.
Das heutige Leugnen hat aber auch andere Gründe. Manche Leute wollen nicht mit der möglichen Schuld ihrer Väter oder Großväter konfrontiert werden. Dabei wissen sehr viele gar nicht, was passiert ist. Da ist einerseits der schlechte Unterricht Schuld. Aber man muss auch wissen, dass das Alphabet im Jahre 1928 geändert wurde. Die neuen Generationen konnten also die alten Texte, die sich mit diesen Geschehnissen befasst haben, gar nicht mehr verstehen. Und natürlich will die Politik auch nicht, dass man sich mit diesen Fragen beschäftigt. Der heutige Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan sagte noch in seiner Zeit als Ministerpräsident, ein Muslim könne per definitionem keinen Völkermord begehen. Das zeigt sehr klar, was seine Haltung zur Genozidfrage ist, obwohl man auch sehen kann, dass sich unter Erdoğan die Situation etwas verbessert hat. Zum Beispiel wird kein Strafverfahren mehr eingeleitet, wenn jemand das Wort „Völkermord” im Zusammenhang mit diesen Geschehnissen benutzt.

Warum hat sich unter Erdoğan die Situation verbessert?
Als er zur Macht kam, hatte er die Unterstützung der türkischen Liberalen, unter anderen von Intellektuellen und Journalisten, denn diese Leute dachten, dass Erdoğan das Land demokratisieren würde. Das bedeutete für sie unter anderem, dass er sich mit der Vergangenheit der Türkei auseinandersetzen würde. Erdoğan wollte sie wahrscheinlich nicht gleich enttäuschen. Andererseits ist er aber wahrscheinlich der Meinung, dass da wirklich kein Genozid stattgefunden habe, nur glaubte er wohl, dass das die Historiker anhand ihrer Recherche beweisen könnten. Andererseits gab es auch den Einfluss des neuen Ministerpräsidenten, Ahmet Davutoğlu und des vorherigen Staatspräsidenten Abdullah Gül, die beide etwas liberaler sind.

Wie hatten die Armenier sich während der Zeiten der Sowjetunion an den Völkermord erinnert?
In Armenien konnte man darüber nicht sprechen. Bis zum Ende der 60er Jahre war es verboten, über den Völkermord zu schreiben, denn man durfte sich mit der Geschichte nicht in einer „nationalistischen Weise” auseinandersetzen – und ein Genozid wurde natürlich als nationalistisches Thema verstanden. Auch über die armenischen Guerilla-Kämpfer durften die Historiker nicht recherchieren. Aber ab den 60er, 70er Jahren hat das sowjetische System etwas von seiner Legitimation verloren. Die Breschnew-Ära war eine Zeit der Stagnation und der Korruption. Es wurde immer schwerer, die Regierung mit der Oktoberrevolution zu legitimieren. Also besann man sich auf die nationale Geschichte. Im armenischen Fall hatte das wirklich die erwartete Wirkung: Man sprach über den mörderischen Türken – und man hatte das Gefühl, dass nur die Sowjetunion fähig wäre, sie vor dieser Gefahr zu schützen.

Und zur selben Zeit in der Diaspora?
Bis zu den 1960er Jahren war der Völkermord auch dort nicht das wichtigste Thema. Als ich in den 50er Jahren aufgewachsen bin, war die Erinnerung daran eine familiäre Angelegenheit. Die Frage war damals, ob man das sowjetische Armenien unterstützen, oder ob man ein unabhängiges Armenien anstreben sollte. Es gab sehr heftige Auseinandersetzungen zwischen diesen zwei Lagern. Das begann sich in meiner Generation zu ändern, und in den 70er Jahren schien es schon einen Konsens zu geben, dass es Armenien als Teil der Sowjetunion am besten gehen würde. Natürlich wusste man, dass es Menschenrechtsverletzungen gab, aber wenigstens gab es eine funktionierende Wirtschaft, und die Kultur konnte auch weiterleben, meinte man. Und man wurde vor den Türken beschützt, die ja das größte Übel an unserem Volk verübten.

Von der Diaspora hört man immer wieder, die Armenier hätten in früheren Zeiten auf einer Fläche von 300.000 Quadratkilometern gelebt. Die Fläche des heutigen Armenien beträgt nur knapp 30.000 Quadratkilometer. Kann es sein, dass die Armenier Land zurückbekommen, wenn eingestanden wird, dass da wirklich ein Völkermord stattfand?
Es gibt natürlich Gruppierungen, die gerne ein größeres Armenien sehen würden. Aber in der Politik wird das nicht als eine ernsthafte Frage behandelt. Während der Sowjetunion, in den 70er und 80er Jahren, dachte man noch, dass die Sowjets da helfen könnten, die Grenzen des Landes auszudehnen. Sie wussten auch, die würde Türkei es nie zulassen, dass Teile ihres Landes von Armenien annektiert würden – also müsste man die Gebiete mit Gewalt zurückgewinnen. Nur hatten die Russen und die Türken seit Jahrzehnten keine größeren Konflikte miteinander. Also wäre es eher unwahrscheinlich, dass Russland den Armeniern bei so einem Versuch zur Seite stehen würde. Und wie ich das schon betont habe, beschäftigen sich auch die meisten armenischen Parteien nicht mit der Frage. Als ich zum Beispiel in der Regierung war, haben wir nie über das Thema gesprochen.

Die Grenzen bleiben also unberührt. Aber über finanzielle Entschädigungen wird bestimmt gesprochen.
Das ist realistischer, und da gibt es Fortschritte. Einige kommunale Güter wurden den Armeniern bereits zurückgegeben und in der Türkei wurden einige armenische Kirchen restauriert. Finanzielle Entschädigungen wären möglich. Voraussetzung dafür ist, dass die Armenier den Türken sagen: „Wenn ihr auf unsere Forderungen eingeht, dann können wir auch die Frage des Völkermords ad acta legen.“ Das ist aber nicht so einfach, denn unter den Armeniern verstehen wir nicht nur den armenischen Staat, sondern auch eine sehr komplexe Diaspora. Es kann passieren, dass die Regierung eine Vereinbarung mit der Türkei unterzeichnet, aber die Diaspora das dennoch nicht akzeptiert. Als ich mich im letzten Monat mit türkischen Regierungsbeamten getroffen habe, habe ich ihnen gesagt, sie sollten alles für eine mögliche Lösung tun. Aber sie sollten keineswegs auf eine ultimative Entscheidung von den Armeniern warten. Denn in der Diaspora wird es immer Leute geben, die meinen, Gebiete sollten zurückgegeben werden.

Spielt die Anerkennung des Völkermordes auch in der armenischen Außenpolitik eine Rolle?
Als aus dem sowjetischen Armenien ein unabhängiges Land wurde, haben wir darüber debattiert, ob der Genozid die Hauptrichtung unserer Außenpolitik sein sollte. Ich habe das damals abgelehnt. Auch die türkisch-armenischen Beziehungen dürften nicht von der Anerkennung des Völkermordes abhängen. Ich persönlich habe den Genozid in den Verhandlungen mit der türkischen Regierung nie angesprochen, obwohl die Türken uns mehrmals dazu gefragt haben. Für uns waren damals die Unabhängigkeit und Sicherheit des Landes am wichtigsten, denn nur über den Weg der Normalisierung kann man diese Situation lösen. Im Februar 1993 waren wir auch ganz nah dran, ein Protokoll zu unterschreiben, das die Öffnung der Grenzen zwischen den zwei Ländern ermöglichen würde. Nur kam im April der Krieg mit Aserbaidschan und die türkische Regierung hat sich entschieden, mit den Verhandlungen so lange nicht fortzufahren, bis der Karabach-Konflikt gelöst ist.
Man könnte hier auch fragen, was bedeutet der Völkermord für eine armenische Regierung oder eine Partei? Für uns war es ein historisch kontextualisiertes Geschehen, das seine Gründe hatte. Diese Gründe müssen die Historiker erforschen. Persönlich interessiert es mich auch nicht, ob Merkel, Obama oder Hollande den Völkermord anerkennen. Als Historiker weiß ich, was passiert ist, und will nicht in der Position eines Bettlers auftreten. Ich bin viel mehr interessiert an der Frage, wie der Genozid unser Denken beeinflusst hat, und was wir Armenier daraus machen.

Sie sagen, es interessiert Sie nicht, ob Merkel oder Obama den Völkermord anerkennen. Aber ist es im Fall von Deutschland nicht etwas problematischer? Das Deutsche Reich hatte ja als Verbündeter des Osmanischen Reiches gewusst, was mit den Armeniern geschah.
Im Fall von Deutschland gab es eine Mitschuld an den Geschehnissen. Wenn man sich die Korrespondenz der deutschen Diplomaten ansieht, kann man sehen, dass – abgesehen von ein paar deutschen Generälen, zum Beispiel in Izmir – die Deutschen aktiv teilgenommen haben. Aber indirekt haben auch die damaligen Großmächte – Frankreich, Großbritannien und das Russische Kaiserreich – eine Verantwortung. Sie haben die Frage der verletzlichen Minderheiten nicht ernst genommen. In den 80er Jahren sprach ich darüber auch an einer Konferenz in Frankreich. Da habe ich gesagt: Die Großmächte benutzen die Minderheiten in anderen Ländern, um ihre eigenen Ziele zu erreichen. Aber diese Minderheiten sind auch am meisten von Repressionen im Heimatland bedroht. Zur Frage der Anerkennung man muss ergänzen, dass diese Länder nicht die Geschichte in Frage stellen wollen. Es ist ja längst bewiesen, dass das ein Völkermord war. Die Gründe sind politisch: Man betrachtet die Türkei als einen Verbündeten und will sie nicht verärgern. Im Fall von Deutschland ist es natürlich etwas problematischer als bei den anderen, da es eine direkte Schuld gab. Auch mein Großvater hatte damals eine Begegnung mit den Deutschen, davon möchte ich noch erzählen.

Erzählen Sie es.
Im Ersten Weltkrieg wurde mein Großvater in die osmanische Armee einberufen. Er ist dreimal aus dem Arbeitsbataillon geflohen. Das dritte Mal mussten die armenischen Soldaten, einer nach dem anderen, ihre Köpfe auf einen Baumstamm legen, damit man sie köpfen konnte. Er war schon fast beim Baumstamm, als er einen deutschen Soldaten entdeckte, der bei der Exekution zuschaute. Mein Großvater ist in einem deutschen Waisenhaus aufgewachsen, also konnte er etwas Deutsch und sprach den Soldaten an. Da der Soldat einen deutsch-armenischen Übersetzer brauchte, nahm er ihn daraufhin aus der Reihe. Mein Großvater verbrachte einen Tag mit dem Deutschen. Danach floh er nach Aleppo und trat den arabischen Truppen bei.

Noch einmal zurück zur Frage der Anerkennung. Sie sagen, die USA wollen den Völkermord nicht anerkennen, weil die Türkei ein Verbündeter ist. Aber in den Vereinigten Staaten leben auch ungefähr 1,5 Millionen Mitglieder der armenischen Diaspora. Haben die keinen Einfluss?
Wie schon gesagt, das ist Politik: Während des Wahlkampfes heißt es Völkermord, nachdem die Wahl gewonnen wurde, ist die ganze Frage schon vergessen. Andererseits ist das Thema sehr prominent in der Diaspora: Je lauter man die Anerkennung des Völkermordes fordert, desto respektierter ist man in der Gemeinde. So funktionieren auch die armenischen Lobbygruppen. Es ist schrecklich, das zu sagen, aber sie müssen nur laut sein. Sie müssen den Unterstützern nur zeigen, dass sie es versucht haben. Der Prozess ist hier wichtiger als das Ergebnis.

Welche Rolle spielt der Völkermord heute für die armenische Identität? Die armenisch-amerikanische Schriftstellerin Meline Toumani veröffentlichte vor ein paar Monaten einen Bestseller, in dem sie meinte, die Armenier seien besessen vom Völkermord.
Ich bin kein Psychologe. Somit kann ich nicht beurteilen, ob sie wirklich besessen sind. Aber Meline Toumani hat recht, wenn sie meint, dass wir uns zu sehr auf den Völkermord fokussieren. Das lenkt uns leider von sehr vielen anderen Angelegenheiten ab. Es gibt jetzt aber auch eine neue Generation, die sich den Geschehnissen ganz anders annähert. Sie meint, die Armenier hätten gewonnen, da sie immer noch da sind. Sie haben ein Land, eine Sprache und eine Kultur. Die Zeit ist gekommen, uns auf andere Fragen zu konzentrieren. Aber in den Gemeinden, in den Kirchen und in den Parteien ist der Genozid immer noch das Hauptthema. Das ist natürlich verständlich, und damit hat auch die Anerkennungspolitik zu tun: Wenn den Armeniern das Wort „Völkermord” weggenommen wird, bleibt ihnen nichts mehr, womit sie bezeichnen könnten, was ihnen passiert ist. Ich denke, das ist das Minimum, dass man diesen Leuten diese Bezeichnung erlaubt. Andererseits wird diese Frage aber auch instrumentalisiert in der Politik.

Wie sieht es gesellschaftlich aus? Gibt es Ressentiments zwischen Türken und Armeniern?
In den 60er Jahren wäre es noch unmöglich gewesen, dass ein Türke und ein Armenier sich treffen, ohne in einen Streit zu gelangen. Seit den 90ern und mit der Unabhängigkeit von Armenien haben aber beide Staaten gemerkt, dass sie Nachbarn geworden sind. Es ist in ihrem besten Interesse, gute nachbarschaftliche Beziehungen zu pflegen. Beide Gesellschaften haben sich einander angenähert. Als ich in den 90ern in die Türkei ging, um dort Verhandlungen zu führen, haben mich die armenischen Zeitungen noch als Verräter beschimpft. Sie meinten, man sollte mich erhängen oder erschießen. Heute hingegen schmeichelt es den armenischen Forschern, wenn sie in die Türkei eingeladen werden, um einen Vortrag zu halten, und die jungen Leute brüsten sich mit türkischen Freunden. Auch die Leute in der Diaspora, die die Türken nicht gerne haben, aber doch in die Türkei reisen, um die Dörfer ihrer Großeltern zu besuchen, merken nach einer Weile, dass die Türken gar nicht so schlecht sind, wie sie sich das vorgestellt hatten. Ich denke, dass das so weiter gehen wird. Die Konflikte spielen sich jetzt immer mehr auf der politischen Ebene ab.

Haben die Armenier noch Ressentiments gegenüber den Deutschen wegen deren Rolle im Völkermord? Und wegen der Zögerlichkeit, mit man das Wort „Völkermord” benutzt?
Ich denke nicht, dass viele Leute eine Linie vom Deutschen Reich zur heutigen Bundesrepublik ziehen würden. Aber natürlich kommt die deutsche Schuld immer wieder auf. Deshalb wäre es eine sehr wichtige symbolische Geste von Deutschland, wenn es den Völkermord anerkennen würde. Wichtig wäre auch, wenn Israel das tun würde, wegen der Erfahrung des Holocausts. Auch die Vereinigten Staaten, da 1,5 Millionen Mitglieder der armenischen Diaspora dort leben.
Es gibt also eine Erwartung, aber keine schlechten Gefühle. Man muss ja wissen, dass in der Sowjetzeit sehr viele armenische Intellektuelle in Deutschland studiert hatten. Zudem beschäftigen sich viele deutsche Wissenschaftler mit den Armeniern und dem Genozid, etwa Tessa Hoffmann in Berlin. Auch in meiner Familie gab es deutsche Verbindungen. Ich bin in Beirut geboren und besuchte dort eine Schule, die von einem in Deutschland ausgebildeten Armenier gegründet wurde. Mein Großvater ist, wie gesagt, in einem deutschen Waisenhaus aufgewachsen und hatte – mit ein bisschen Übertreibung – einem Deutschen sein Leben zu verdanken. Mit den Deutschen gab es also sehr viele Begegnungen, positive wie auch negative. Man kann ihre Beurteilung nicht einfach auf ihre Rolle im Völkermord reduzieren.

Fotos: picture alliance (Denkstätte), privat (Libaridian)

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