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Armenier in der Türkei - Im Land der geraubten Mütter

Die Türkei leugnet den Völkermord an den Armeniern durch das Osmanische Reich, die armenische Bevölkerung ist in der Türkei weitgehend unsichtbar. Dabei tragen viele Familien ein armenisches Geheimnis in sich

Autoreninfo

Christian H. Meier ist Chefredakteur der zenith, Zeitschrift für den Orient / Middle Eastern Review. Er ist Mitherausgeber des Nahost-Magazins zenith.

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Es ist ein kaltes Weihnachtsfest, und dabei ist genau genommen noch nicht einmal Weihnachten. Vor der Sankt-Giragos-Kathedrale von Diyarbakir sitzen etwa ein Dutzend Menschen in einem wohnzimmergroßen, zugigen Pavillonzelt und suchen die wärmende Nähe des kleinen Holzofens, auf dem Tee und Kaffee bereitet werden. Die nächsten Tage werden Anatolien den schwersten Wintereinbruch seit einem halben Jahrhundert bescheren. Es ist der 6. Januar 2015; armenische Christen feiern an diesem Tag das Kirchenfest der Epiphanie, der „Erscheinung des Herrn“. Zugleich gedenken sie an diesem Tag der Geburt Jesu – die armenische Kirche kennt kein eigenes Weihnachtsfest.

Nur dass dieses Jahr kein Priester vom Patriarchat aus Istanbul in die ostanatolische Stadt gesandt wurde. Dabei ist die Sankt-Giragos-Kathedrale das größte armenische Gotteshaus im gesamten Nahen Osten, sie wurde erst vor kurzem aufwendig restauriert, nachdem sie jahrelang brach lag. Aber einen eigenen Priester haben sie in Diyarbakir nicht, und das Patriarchat verfügt nicht über genügend Personal, um am 6. Januar in all den wenigen Städten des Landes Gottesdienste abzuhalten, in denen es armenische Kirchen gibt.

„Eine Menge Leute haben mich angerufen und gefragt, ob etwas stattfindet“, erzählt Dikran Türkay, einer der Küster der Kirche. „Es ist so schade, dass wir diesen besonderen Tag nicht angemessen feiern können.“ Die meisten armenischen Gläubigen in Diyarbakir, erklärt er, hätten daher bereits am 25. Dezember gemeinsam mit den syrisch-orthodoxen Christen Weihnachten gefeiert. Die wenigen, die heute in die Kirche kommen, trinken ein paar Gläser Tee im Zelt und verziehen sich dann wieder. Das armenische Leben in der Türkei – es existiert, aber es ist ein zartes Pflänzchen.

Armen Demircian ist nichtsdestotrotz fröhlich gestimmt. „All das hier wegen mir“, sagt er mit einem Grinsen, das zwischen Begeisterung und Unglauben schwankt. Ein Team von „Al-Jazeera Türkei“ hat seine Kamera vor der mächtigen Kirche aufgebaut, um ihn zu interviewen. Demircian ist einer der bekanntesten Armenier von Diyarbakir. In einer Minute dreißig darf er gleich erklären, welche Bedeutung dieser Tag für ihn hat. Und welche ungewöhnliche Geschichte dazu geführt hat, dass er heute hier ist – und dass er überhaupt Armen Demircian heißt.

Denn geboren wurde der 54-Jährige als ein ganz anderer: Abdulrahim Zoraslan, Sohn einer kurdischen Familie aus Lice, einer Kleinstadt etwa 80 Kilometer nordöstlich von Diyarbakir. Zoraslans Leben verlief lange Zeit in geregelten Bahnen: Fast die Hälfte seines Lebens arbeitete er als Fahrer für die Gemeindeverwaltung. Bis er 1981 etwas herausfand, das sein ganzes Dasein umkrempeln sollte. Abdulrahim erfuhr: Er ist gar kein Kurde – sondern Armenier.

Menschen wie Abdulrahim Zoraslan sind das dunkelste Vermächtnis des osmanischen Völkermords an den Armeniern, der vor hundert Jahren, am 24. April 1915, mit einer Verhaftungswelle in Istanbul begann und viele blutige Monate später mit – nach stark umstrittenen Schätzungen – bis zu 1,5 Millionen ermordeten Armeniern endete. In Anatolien, das kurze Zeit später zur Republik Türkei werden sollte, war danach nichts mehr von der einst blühenden armenischen Kultur übrig: Die Überlebenden der Deportationsmärsche hatten sich ins Ausland gerettet, alle anderen waren tot. So glaubte man zumindest. Es dauerte Jahrzehnte, bis ans Tageslicht kam, was in den Dörfern und Bergen Anatoliens hinter vorgehaltener Hand immer schon geflüstert worden war: Viele armenische Kinder hatten den Völkermord überlebt: indem sie von türkischen oder kurdischen Familien gerettet worden waren – oder geraubt, aus der Perspektive vieler Armenier.

Zum ersten Mal öffentlich ausgesprochen wurde dies 2004, als die türkische Anwältin Fethiye Çetin ihr Buch „Anneannem“ („Meine Großmutter“) veröffentlichte. Darin erzählt sie die Lebensgeschichte ihrer Großmutter Seher, die – so hatte Çetin Ende der 1970er Jahre erfahren – in Wahrheit gar keine Türkin, sondern Armenierin war: Ihr wirklicher, jahrzehntelang verborgener Name lautete Heranuş. Als kleines Mädchen war Heranuş dem Tod entronnen, als ein türkischer Gendarm sie auf einem Deportationsmarsch ihrer Familie entriss. Er zog sie als seine Adoptivtochter auf, sie bekam einen neuen Namen und eine muslimische Identität verpasst.

Çetins Buch brachte eine kleine Lawine ins Rollen, denn wie sich rasch zeigte, war die Geschichte ihrer Großmutter kein Einzelfall: „Auf einmal begannen mir junge Türken zu schreiben, die sich die Frage stellten: ‚Auch meine Großmutter hatte keine Verwandten – warum eigentlich?’“, erzählt die heute 64-Jährige. In Van, in Muş, in Diyarbakir: Überall meldeten sich Personen, die herausgefunden hatten, dass es in ihrer Familie Armenier gab – meist in der Generation der Eltern oder Großeltern. Sie waren während der Deportationen ihren Familien weggenommen worden oder aber auf der Flucht durch Wälder und Dörfer umhergeirrt, bis sie schließlich bei irgendeiner Familie ein neues Zuhause fanden. In der Mehrzahl der Fälle waren es Mädchen und junge Frauen, die auf diese Weise überlebten – Bräute, zusammengeraubt während des Völkermords.

Ihre Kinder und Enkel leben mit diesem Erbe in der Türkei – dem Land, das die Existenz des Völkermords bis heute kategorisch bestreitet und sein ganzes politisches Gewicht in die Waagschale wirft, um die von den Armeniern betriebene Anerkennung des Genozids durch Drittstaaten zu verhindern. Dabei sind Armenien und die Türkei Nachbarn – die Grenze zwischen beiden Ländern ist jedoch seit 1993 geschlossen, die Beziehungen sind frostig. Das liegt auch an einem zweiten emotional besetzten Thema: dem Konflikt um Berg-Karabach – einer in Aserbaidschan gelegenen Enklave, die seit rund 20 Jahren de facto von Armenien besetzt ist. Da Aserbaidschan ein enger Verbündeter der Türkei ist, vergiftet der Streit um dieses Stückchen Land auch das türkisch-armenische Verhältnis. Das Jahr 2015, in dem sich der Völkermord zum hundertsten Mal jährt, treibt diese Konfrontation noch einmal auf die Spitze.

Was bedeutet es vor diesem Hintergrund für ein Land, wenn sich herausstellt, dass Tausende, ja womöglich Millionen seiner Bürger das reine türkische Blut, das zu propagieren der Staat nicht müde wird, gar nicht in sich tragen? Aber vor allem: Was bedeutet es für diese Menschen selbst?

Gewiss mehr, als man in einer Minute dreißig erzählen kann.

Armen Demircian ist ein schmaler Mann, eine zurückhaltende, leise Figur. Zur Begrüßung sagt er „Bonjour“. Aber in seinen Augen flackert es immer wieder unruhig. Demircian ist auf der Suche: nach Geschichten, nach Verwandten, nach Erinnerungen.

Als Demircian – damals noch Abdulrahim Zoraslan – seine armenische Herkunft 1981 entdeckte, konnte er seinen Vater nicht mehr fragen: Er erfuhr bei dessen Begräbnis davon. „Beim Tod meines Vaters wurden beim Begräbnis die Namen seiner Eltern nicht genannt – das war absolut unüblich“, erinnert er sich. Zoraslan wusste zwar, dass sein Vater ein Adoptivkind war; dennoch wunderte er sich. Er ging zu seinen Onkeln und fragte sie: Wer sind wir eigentlich? Eigentlich, lautete die Antwort, war dein Vater Armenier.

Allzu viel ist nicht bekannt von der Geschichte des Vaters: Während des Völkermords 1915 wurde er von einem kurdischen Stamm aufgenommen; da war er fünf. Die beiden Brüder und die Eltern waren wohl in der Nähe von Lice ums Leben gekommen.

„Das Wort hatte ich schon mal gehört, aber um ehrlich zu sein: Ich wusste gar nicht genau, was das heißt, Armenier“, erzählt Demircian. Aber offenbar hat es etwas in ihm ausgelöst. Er zählt heute zu den Wenigen in Diyarbakir – einst ein bedeutendes Zentrum armenischer Kultur –, die offen zu ihrer armenischen Herkunft stehen.

Viele andere, die von der Existenz armenischer Eltern oder Großeltern erfahren, schweigen: aus Angst vor Vorurteilen und vor Diskriminierung. Und aus Scham: Armenier zu sein, ist in der Türkei nichts Ehrenhaftes. Ganz im Gegenteil, das türkische Wort für Armenier, „ermeni“, gilt bis heute als Schimpfwort. Noch vergangenen Sommer benutzte der damalige Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan es in diesem Sinn, als er bei einer Wahlkampfveranstaltung wetterte: Er sei von seinen Gegnern schon als vieles bezeichnet worden: als Georgier etwa – ja, noch schlimmer: als Armenier. „Aber ich bin Türke.“

Erdoğans Worte zeigen das Dilemma deutlich auf: Mit der Gründung der Republik Türkei im Jahr 1923 aus den Ruinen des Osmanischen Reichs wurde ein Nationalismus etabliert, der Minderheiten nur in eng begrenztem Rahmen anerkennt und akzeptiert. Die Kurden beispielsweise figurierten in der offiziellen Ideologie jahrzehntelang als „Bergtürken“, die angeblich ihre ursprüngliche (mit dem Türkischen verwandte) Sprache im Laufe der Zeit vergessen hätten. Armenier gab es in der Türkei zwar noch einige – hauptsächlich in Istanbul –, aber da der Völkermord nach Auffassung des Staates nicht stattgefunden hatte, sprach man auch dementsprechend wenig über sie: Die Armenier wurden im wahrsten Sinne des Wortes totgeschwiegen.

Der gleiche Nationalismus war es gewesen, der den zentral geplanten und gelenkten Massenmord überhaupt erst möglich gemacht hatte. Dabei kamen verschiedene Faktoren zusammen: Die Idee, dass man den Zerfall des Osmanischen Vielvölkerstaats zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur mit der Schaffung eines Nationalheims für die Türken überleben könne. Die Angst, dass die christlichen Volksgruppen gemeinsam mit den europäischen Mächten gegen das Osmanenreich konspirieren. Die Entstehung einer kleinen militanten Unabhängigkeitsbewegung unter den osmanischen Armeniern, deren Großteil gleichwohl dem Osmanischen Staat gegenüber loyal blieb. Schließlich der katastrophale Kaukasusfeldzug gegen das russische Zarenreich gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs, im Winter 1914/1915, als zwischen 50.000 und 80.000 osmanische Soldaten im Schnee erfroren und verhungerten. Um die dilettantische Planung dieses Feldzugs zu vertuschen, brachten führende Politiker eine türkische Variante der Dolchstoßlegende in Umlauf: Der zufolge waren die Armenier zu den Russen übergelaufen und der Nation in den Rücken gefallen.

Kurz darauf, am Abend des 24. April 1915, begann mit der Verhaftung von mehr als 200 Armeniern in der Hauptstadt Istanbul die planmäßige Deportation und Ermordung der armenischen Staatsbürger. In „Verschickungen“ genannten Todesmärschen wurden sie in Richtung der syrischen Wüste vertrieben und waren unterwegs praktisch vogelfrei. Vielerorts in Anatolien waren es vor allem kurdische Stämme, die das grausame Morden übernahmen. Sie wurden dabei gleichermaßen von diesseitiger wie jenseitiger Habgier angetrieben: Neben dem Gold der flüchtenden Armenier hatte man ihnen versprochen, dass sie für sieben getötete Armenier nach dem Tod direkt ins Paradies kommen würden. Was bei alledem nicht vergessen werden sollte: Die deutschen Kriegspartner, die den Osmanen militärisch und politisch eng verbunden waren, unterstützten den Völkermord teils ausdrücklich.

All dies schwingt, in verschiedenen Bewusstseinsstufen, mit bei dem stolzen Satz: „Ich bin Türke.“ Der Türkei-Experte Günter Seufert von der Stiftung Wissenschaft und Politik glaubt, dass die Erinnerung an die Armenier, auch wenn diese im öffentlichen Diskurs in der Türkei praktisch nicht vorkamen, unter der Oberfläche lange Zeit präsent geblieben sei: „Das Bild des Armeniers als des besiegten Feindes war zentral für das Selbstbild der türkischen Nation.“ Gleichzeitig, legt Seufert nahe, musste dieses Bild jedoch vergessen und durch ein positives Geschichts- und Identitätskonstrukt ersetzt werden – schließlich wollte Atatürks junge Republik vor der Weltöffentlichkeit nicht als Volk von Massenmördern dastehen.

Womöglich rührt die außerordentliche Empfindlichkeit mancher Türken, was den Völkermord betrifft, daher: dass die Erinnerung daran unterbewusst den Kern ihrer nationalen Identität in Frage stellt. Das gleiche gilt für die Existenz der Armenier, die den Völkermord als Kinder überlebt haben. Für die Anwältin und Autorin Fethiye Çetin haben auch sie zentral mit dem Selbstverständnis des Landes zu tun: „Die so genannte ‚armenische Frage’ geht nicht nur die Armenier an, sondern uns alle. Denn die offizielle Geschichtserzählung in der Türkei stimmt nicht. Eigentlich gilt für uns alle eine ganz andere Geschichte, die aber verschwiegen wird.“

Bereist man heute den Südosten der Türkei, begegnen einem allenthalben Erzählungen über diese Überlebenden – „muslimisierte Armenier“, wie sie hier genannt werden. Manche von ihnen berichteten ihren Kindern und Enkeln, was sie selbst als Kinder erlebt hatten – wie Fethiye Çetins Großmutter. Andere, traumatisiert und verängstigt, schwiegen ihr ganzes weiteres Leben lang. Ihre Nachfahren müssen die eigene Familiengeschichte daher oft mühsam rekonstruieren.

Wenige legen dabei einen solchen Eifer an den Tag wie Armen Demircian. Er scheint fast besessen davon, mehr herauszufinden. Auf dem Standesamt suchte er nach Unterlagen über seinen Vater; dabei entdeckte er, dass der türkische Staat sehr genau Buch darüber führte, welche seiner Bürger armenischstämmig waren. Seine Großeltern, stellte Demircian fest, sind im Familienregister als Christen eingetragen, das Todesdatum lautet 1915. Sein Vater hingegen ist bereits als Muslim verzeichnet, Name: Abdullah. Sein ursprünglicher, armenischer Name, das weiß Demircian inzwischen, lautete Habok.

Mit der Zeit machte Demircian Verwandte ausfindig, in Istanbul, New York und den Niederlanden. Er führte armenische Besucher aus der Diaspora durch die Sankt-Giragos-Kathedrale. Er begann, Armenisch zu lernen, und reiste nach Eriwan. Er sagt: „Ich bin Armenier und Kurde zugleich, aber jetzt möchte ich als Armenier leben – so wie mein Vater es nicht konnte.“ Dass dieser ungewöhnliche Umgang mit dem Familienerbe zahlreiche türkische Medien auf ihn aufmerksam werden ließ, störe ihn nicht, sagt er. Denn: „Ich möchte, dass das Thema auf die Agenda kommt. Die Türkei muss sich endlich zum Völkermord bekennen. Und auch die Armenier sollen wissen, dass es uns hier gibt.“

Sogar seinen Namen hat er schon geändert: Vor acht Jahren wurde Abdulrahim Zoraslan zu Armen Demircian. Ein solcher Namenswechsel ist in der Türkei noch immer eine recht aufwendige Prozedur. Generell aber hat sich die Situation der etwa 80.000 Armenier im Land – und auch der zahllosen „wiederentdeckten Armenier“ – in den letzten Jahren verbessert. Der Mord an Hrant Dink, dem armenisch-türkischen Journalisten und Herausgeber der Wochenzeitung „Agos“, Anfang 2007 war ein Weckruf für das Land. Hinzu kam die lange Zeit moderate Minderheiten- und Religionspolitik der Regierungspartei AKP im Zuge des EU-Beitrittsprozesses. „Noch vor zehn Jahren konnten Armenier und Kurden sich in diesem Land nicht offen artikulieren“, sagt Demircian. „Das ist heute anders.“ Man kann die Türkei im Jahr 2015 nicht auf ein Land von Genozid-Leugnern reduzieren, auch wenn dies unzweifelhaft die Haltung des Staates ist.

Gleichzeitig bestehen Vorurteile und Stereotypen einer konservativen Gesellschaft fort, vor allem auf dem Land. Und ein Religionswechsel ist in islamischen Gesellschaften sehr problematisch. Auch angesichts dessen irritiert die Manie, mit der Armen Demircian daran arbeitet, zum Armenier zu werden. Angst vor negativen Konsequenzen habe er nicht, sagt er – auch wenn seine Familie seine Entwicklung nicht unbedingt gutheiße, wie er stoisch lächelnd erklärt.

Zwei Tage später: Unterwegs nach Lice, dem Geburtsort Demircians. Angesichts der Aussicht, Gäste zu seinen Brüdern zu bringen, ist er stiller als sonst. Ein Besuch bei seiner Frau, das hatte er zuvor klargemacht, sei völlig ausgeschlossen – sie ist strenggläubige Muslimin. Was sie von seiner Idee hält, sich taufen zu lassen und nach Armenien zu ziehen? Demircian zieht die Augenbrauen hoch und macht eine Geste, die besagt: Die würde mir die Kehle durchschneiden.

Lice liegt im Herzen des türkischen Teils Kurdistans, es ist PKK-Land. Hier fand 1978 der erste Kongress der „Arbeiterpartei Kurdistans“ statt, erzählt die junge Bürgermeisterin Rezan Zuğurlı, selbst eine prokurdische Politikerin, die bis kurz vor ihrer Wahl zum Stadtoberhaupt 2014 im Gefängnis saß – sie hatte an einer illegalen Demonstration teilgenommen. Seit einem schweren Erdbeben 1975 besteht ein Teil der Stadt aus Containerhäusern. Auch die Familie Zoraslan wohnt in einem solchen Containerhaus. Talhat, einer der vier älteren Brüder Armen Demircians, lebt seit dem Tod des Vaters hier mit seiner Familie; auch der Bruder Akif ist da. Als wir eintreten, scherzt er: „Sind das armenische Verwandte, die du da mitgebracht hast?“

Demircian verteilt zur Begrüßung armenische Magnetsticker, die er aus der Kirche mitgebracht hat; seine Brüder nehmen sie eher unbewegt entgegen. Ansonsten ist die Atmosphäre entspannt. „Für uns wird er immer Abdulrahim bleiben“, erzählt der 63-jährige Talhat Zoraslan. „Aber seine Konversion ist kein Problem für uns.“ Manchmal, berichtet er, würden die Brüder auch mit Armen in die Kirche gehen; und manchmal – alle beginnen zu lachen – „versucht er, uns auch dranzukriegen mit dem Christentum“.

Die älteren Brüder Zoraslan ahnten schon als Kinder, dass sie „anders“ waren – sie wurden auf der Straße mitunter „Ungläubige“ genannt. Und das, obwohl ihr Vater Abdullah in seiner muslimischen Identität völlig aufging: „Er betete, er fastete, er ist sogar nach Mekka gepilgert“, erinnert sich Akif Zoraslan. Über Familiengeschichten habe er hingegen nie sprechen wollen. Talhat glaubt: „Unser Vater wusste ganz genau, was seiner Familie zugestoßen war, aber er hatte Angst, darüber zu reden.“ Viele muslimisierte Armenier reagierten so: indem sie um so entschiedener dem islamischen Glauben folgten und ansonsten die Vergangenheit begruben.

Es ist offenkundig, Talhat und Akif Zoraslan bedeutet ihre armenische Herkunft wenig – anders als ihrem kleinen Bruder Abdulrahim alias Armen. Aber als Talhat sagt: „Ich bin Kurde“, fällt sein Sohn Çiya ihm ins Wort: „Bei Gott, ich sage: Ich bin Armenier!“ Seit er von seiner armenischen Herkunft erfahren habe, wolle er mehr über seine Vorfahren herausfinden, erklärt der 22-Jährige ernst. „Probleme mit meinen Freunden hatte ich deswegen nie.“ Çiya ist viel auf sozialen Foren im Internet unterwegs, um mit anderen Armeniern ins Gespräch zu kommen – dabei begegne er zahlreichen jungen Türken, die ebenso wie er offiziell Muslime sind, sich aber als Armenier empfinden. Sein Onkel Armen schätzt, dass es in der Türkei heute rund fünf Millionen Nachkommen muslimisierter Armenier gebe.

Geschichten wie die von Armen Demircian und seiner Familie werfen Fragen nach Identität und Zugehörigkeit auf. Sind sie Kurden oder Armenier? Oder kurdische Armenier? Ist es eine Frage der Herkunft und ethnischen Zugehörigkeit oder eine persönliche Wahl? Viele, vor allem jüngere Menschen in der Türkei interessieren sich für die damaligen Geschehnisse, und viele fragen nach dem verdrängten armenischen Erbe – das sie teilweise in sich selbst entdecken. Wenn sich nun herausstellt, dass viele Türken auch ein bisschen Armenier sind, wäre das vielleicht nicht die schlechteste Nachricht für das Land.

Eine ganz andere Frage ist, wie jeder Einzelne mit seinem Erbe umgeht. Armen Demircian grübelt noch, ob er sich taufen lassen soll. „Vielleicht tue ich es heimlich, in Armenien“, sagt er nachdenklich; er wolle sich seiner Frau und ihrer Familie nicht noch weiter entfremden. Einen Moment später grinst er wieder und zeigt stolz auf den Aufkleber der Sankt-Giragos-Kathedrale, der auf seinem Mobiltelefon klebt.

Die Recherchen von Christian H. Meier und Andy Spyra wurden durch das Grenzgänger-Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung unterstützt.

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