- „Arm und Reich müssen zusammenleben“
Homogene Wohnviertel, ein ungerechtes Bildungssystem und eine fehlende Grundsicherung. Der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann analysiert im Interview mit CICERO ONLINE die Ursachen der sozialen Unruhen in Großbritannien und benennt die Schwachstellen der europäischen Stadtpolitik.
Herr Häußermann, waren Sie überrascht, von dem Ausmaß
der Krawalle in Großbritannien?
Überraschend ist es immer, weil man den Zeitpunkt von so einem
Ereignis nie vorhersagen kann. Aber es hat in den letzten Jahren
immer wieder Unruhen gegeben. Die Gründe dafür sind alles andere
als überraschend. Das Szenario dafür wird schon seit über 20 Jahren
gebaut.
Wie meinen sie das?
Großbritannien hat schon unter Thatcher einen radikalen Umbau des
Staates und der Gesellschaft, oder besser gesagt einen Abbau des
Staates unter neoliberalen Prinzipien durchgemacht. Die Spaltung
zwischen Arm und Reich ist stetig gewachsen. Nirgendwo in Europa
gibt es mittlerweile eine größere soziale Ungleichheit.
Hinzu kommt die sehr liberale Zuwanderungspolitik, die natürlich ihre Vorteile hat und von der das Land auch profitiert. Aber wie die Migranten in dem Land klarkommen, wird ihnen vollkommen selbst überlassen. Deswegen kommt es zu einer starken Segregation, zur Bildung von verfeindeten ethnischen Gruppen, die in bestimmten Stadteilen wohnen. Ich glaube, dass es da relativ geringe Anlässe braucht, damit eine Welle der Gewalt losbricht.
Was hätte die Politik tun können, um solchen Unruhen
vorzubeugen?
Vor zehn Jahren kam es bereits zu ähnlich Ausschreitungen im Norden
Englands. Tony Blair hatte dann eine Taskforce eingerichtet, die
sich um die Krise der Städte kümmern sollte. Ziel war es, die
Wettbewerbsfähigkeit der Städte zu erhöhen, also eine
Wachstumspolitik zu betreiben. Gleichzeitig sollten die
Nachbarschaften, in denen es Probleme gab, durch Fördermaßnahmen
gestärkt werden. Dass hat ganz offensichtlich nicht so gewirkt, wie
sich die Regierung das vorgestellt hat.
Warum ist Blair mit seiner Taskforce
gescheitert?
Tony Blair glaubte, man könne die Lage verbessern, wenn man
versucht die Handlungsfähigkeit der benachteiligten Menschen zu
stärken. Unter dem Motto: Wir schaffen von oben die Möglichkeiten
und die Leute im benachteiligten Quartier werden selber das Beste
daraus machen. Ein umfassendes stadtpolitisches Konzept gab es
nicht.
Was wären denn kluge Maßnahmen, um eine sichere und
sozial befriedete Stadt zu entwickeln?
Die Regierung muss erstmal das zentrale Problem begreifen. Wenn die
räumliche Segregation der Sozial Schwachen und diskriminierten
Gruppen zu stark ist, dann führt das zu weiteren
Benachteiligungseffekten, die man durch eine gut gemeinte
Community-Stärkung auch nicht mehr in den Griff bekommt. Dass hat
die englische Stadtpolitik noch nicht so recht kapiert.
Und wie die Unruhen jetzt gezeigt haben, ist die Jugend besonders von dieser Benachteiligung betroffen. Die ältere Generation geht schon irgendwie ihren Weg. Aber den Jugendlichen, die keinen Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt mehr finden, bleibt nicht mehr als ihrer Wut im Bauch.
Was wäre also zu tun?
Dort, wo die Probleme am größten sind, reicht es nicht zu sagen:
Ja, helft euch doch selbst. Die Regierung muss in der ganzen Stadt
eine soziale Wohnungspolitik und verschiedene Integrationsmaßnahmen
betreiben und nicht nur in den Stadtteilen, wo es buchstäblich
brennt. Ein Zusammenleben von Arm und Reich muss überall in der
Stadt möglich sein.
Die Bildungspolitik ist hier besonders gefragt: Die Mittelschicht schickt ihre Kinder auf die Privatschulen, während die Kinder aus den Problemvierteln geschlossen eine staatliche Schule in ihrem Quartier besuchen. Dort können sie keine Qualifikation erwerben, die ihnen nur eine minimale Chance auf dem Arbeitsmarkt sichert. Gegen diese Trennung muss etwas getan werden.
Eine verfehlte Bildungspolitik trägt auch Schuld daran, dass wir statt einem politischen Protest nur die blanke Frustration und eine sinnlose Randale erleben.
Umfragen zeigen, dass der Großteil der Bevölkerung kein
Verständnis für die Krawalle der Jugendlichen hat. Ist es nicht
illusorisch anzunehmen, man könne die Mittelschicht für eine
progressive Stadtteilpolitik gewinnen?
Das nehmen die Politiker ja immer an. Sie haben immer Angst vor der
Mittelschicht. Aber ich persönlich glaube das nicht. Die
Mittelschicht besteht in der Regel aus aufgeklärten Leuten mit
akademischer Bildung. Die wissen, was es bedeutet sozialen Frieden
zu haben. Wenn der nicht da ist, dann ist auch ihre Position
schnell gefährdet.
Allerdings fällt es den Menschen in einer geteilten Stadt leicht, bestimmte Teile gar nicht zur Kenntnis zu nehmen und die Probleme in den ärmlichen Stadtteilen zu ignorieren.
Kann man Deutschland angesichts der fatalen Situation
auf der Insel ein gutes Zeugnis ausstellen?
Grundsätzlich ja. Besonders deshalb, weil es bei uns eine bessere
soziale Unterfütterung der sozial schwachen Gruppen gibt. Es ist
nämlich nicht nur eine räumliche Frage, wie zu großes Elend
vermieden werden kann. Eine Grundsicherung muss überhaupt das
Überleben ermöglichen. In Deutschland gelingt das in den meisten
Fällen. In England nicht mehr. Die Löhne sind extrem niedrig und
schon dort angekommen, wo wir uns jetzt durch Leiharbeit und
Ausbreitung des Niedriglohnsektors in Deutschland hinbewegen.
Glauben sie eine ähnliche Entwicklung wie in
Großbritannien wäre auch für Deutschland nicht
ausgeschlossen?
In Deutschland sollten angesichts der britischen Unruhen die
Alarmglocken läuten. Wir haben die Politik, die bisher unsere
Stadteile stabilisiert hat, aufgegeben. Unter Schwarz-Gelb ist das
Programm „Soziale Stadt“, was von der rot-grünen Regierung
beschlossen wurde, beerdigt worden. Der staatlich geförderte
Wohnungsbau, der weniger betuchten Menschen ein Leben in der Stadt
garantieren konnte, gehört seit der Föderalismusreform der
Vergangenheit an.
Wird Europa dem Thema Stadtentwicklung nach den sozialen
Unruhen der letzten Woche nun mehr Beachtung
schenken?
Das war bisher immer der Fall. Wenn in Frankreich die Vorstädte
brannten, dann sind immer auch bei der EU die Lichter angegangen.
Und die Mitgliedstaaten haben sich nicht mehr gegen die Programme
für eine soziale Stadtentwicklung gestemmt. Das politische
Problembewusstsein ist mittlerweile da, aber politisch ist noch
nicht viel passiert.
Wo sehen sie europaweit den größten Handlungsbedarf für
die Stadtpolitik?
Die Umwandlung von bisher gut integrierten und durchmischten
Wohnquartieren muss gestoppt werden. Die Verteurung der Mietpreise
und Aufwertung der Wohnviertel darf nicht zu einer Homogenisierung
der Nachbarschaft führen.
Also soll der Prozess bekämpft werden, den die
Soziologen als Gentrifizierung bezeichnen?
Genau. Hier hat sich die politische Maxime in der europäischen
Union kaum verändert. Es gilt weiter die Devise: Der Markt soll das
regeln und der Staat soll sich zurückziehen.
Frankreich hat schon vor 10 Jahren ein beispielhaftes und weitreichendes Gesetz verabschiedet. 20% des Wohnungsbaus muss eine Gemeinde als sozialen Wohnungsbau betreiben. Dafür stehen der Gemeinde staatliche Mittel zur Verfügung. Der Haken: Die Gemeinden können sich freikaufen. Mit schlechtem Beispiel ging hier die Gemeinde des Präsidenten Sarkozy voran. Ob die Maßnahme langfristig Früchte tragen wird, kann man aber jetzt noch nicht sagen. Dafür ist es noch zu früh.
Das angestrebte Ziel ist aber in jedem Fall richtig: Lebensräume für Menschen mit verschiedenen finanziellen Spielräumen in allen Teilen der Stadt landesweit ermöglichen. Gleichzeitig die räumliche Isolierung benachteiligter Gruppen am Rand der Großstädte aufbrechen.
Das Interview führte Julius Jasso.
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