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(picture alliance) Die Taliban haben sich nicht in die Berge verzogen, sie bringen den Kampf in die Städte

Kämpfe in Afghanistan - Welchen Rückhalt haben die Taliban?

Mit der größten Offensive seit Monaten signalisieren die Taliban in Afghanistan: Wir sind nicht besiegt. Dabei will die Mehrheit der Afghanen endlich Frieden nach mehr als drei Jahrzehnten Krieg

Mit gleichzeitigen Angriffen in Kabul und drei Provinzhauptstädten haben die radikalislamischen Taliban eine deutliche Botschaft gesandt: Wir sind da, mit uns ist zu rechnen, wir können immer und überall zuschlagen. Das hat die Debatte über die Machtverhältnisse im Land und den Einsatz der internationalen Schutztruppe erneut angeheizt.

Was sagt die Aktion über die Stärke der Taliban aus?

In den westlichen Truppenstellernationen wurde sehr genau registriert, mit welch technischer und logistischer Professionalität die Anschläge koordiniert wurden und wo das Sicherheitsarrangement der Nato und einheimischer Kräfte Lücken aufweist.

„Die Taliban stehen nicht vor den Mauern Kabuls, bereit und willens, die Macht zu übernehmen“, sagt Conrad Schetter vom Bonner Zentrum für Entwicklungsforschung, „aber dass sie mittlerweile mit solcher Wucht zuschlagen können, sogar mitten in der Hauptstadt, das hat ihnen keiner zugetraut.“

Niemand kann sagen, wie viele Taliban es eigentlich gibt. Die Schätzungen schwanken zwischen 5000 und 50 000. Neben einem harten Kern gut ausgebildeter Kämpfer schließen sich im Falle eines Falles lokale Milizen an, beteiligen sich Unzufriedene, Bedrängte, Bedrohte und Bestochene an Einzelaktionen vor Ort. Aber klar ist seit diesem Wochenende: Die Taliban haben sich nicht in die Berge Pakistans zurückgezogen. Sie sind vielmehr gerade dabei, den Kampf aus den Dörfern, wo sie mit Minen und Sprengfallen arbeiten, in die Städte zu tragen, wo sie Persönlichkeiten und Institutionen der Regierung und ihrer ausländischen Helfer angreifen. Und sie sind, allen nächtlichen Kommandoaktionen und Spezialoperationen zum Trotz, bei denen gezielt Aufständische getötet wurden, nicht geschwächt. Vielmehr bestätigen sie, was der inzwischen verstorbene US-Sondergesandte Richard Holbrooke einst feststellte: „Jedes Jahr töten wir mehr Taliban, und jedes Jahr gibt es mehr von ihnen.“ Immer mehr Aufständische, die zudem über immer mehr und immer besseres militärisches Kampfgerät verfügen. Waffen, die sie aus den unterschiedlichsten Quellen beziehen: vom pakistanischen Geheimdienst ISI, aus alten Sowjetbeständen, von Angehörigen der regulären Streitkräfte, die Neuanschaffungen zum Teil weitergeben. Hinzu kommen Waffen, die sie bei Überfällen auf US-Stützpunkte erbeuten.

Was wollen die Taliban erreichen?

Mittel- und langfristig geht es den Radikalislamisten um die Vereinigung von islamischer Religion und Politik: die Errichtung eines Gottesstaates. Kurzfristig wollen sie in den derzeit ausgesetzten Geheimgesprächen mit den USA ihre Verhandlungsposition stärken.

Haben sie Rückhalt in der Bevölkerung?

Die Mehrheit der Afghanen will vor allem eines: endlich Frieden nach mehr als drei Jahrzehnten Krieg. Die Ruhe und Ordnung allerdings, die die Taliban während ihrer Zeit an der Macht, 1996 bis 2001, dem Land verordneten, war in den Augen vieler Afghanen durch zu viele kulturelle und lebensweltliche Unfreiheiten erkauft. Hinzu kommt, dass in den Auseinandersetzungen am Hindukusch drei von vier zivilen Todesopfern auf das Konto der Taliban gehen. Und manch ein Nato-Kritiker plädiert angesichts der Sicherheitslage inzwischen doch für einen längeren Verbleib der Isaf-Truppen.

Dennoch erfahren die Taliban in jüngster Zeit wachsenden Zuspruch. Der speist sich nach Einschätzung von Conrad Schetter vor allem aus drei Quellen: der Ablehnung der als Besatzer wahrgenommenen ausländischen Soldaten, einer Überschneidung in der gemeinsam empfundenen traditionell bestimmten, religiös geprägten Verwurzelung – und der schieren Angst, im Falle einer Rückkehr der Taliban an die Macht auf der falschen Seite zu stehen. „Das ist eine Frage des Überlebens: mehr ein strategisch als eine ideologisch begründeter Zulauf“, sagt Schetter.

Wie stark sind die afghanischen Sicherheitskräfte schon?

Zahlenmäßig sind sie auf einem guten Weg: Die Afghanische Nationalarmee (Ana) umfasst mehr als 170 000 Soldaten, die Afghanische Polizei (ANP) mehr als 120 000 Polizisten. Sie werden allerdings, was ihren Ausbildungsstand angeht, sehr unterschiedlich wahrgenommen. Die Armee hat ein vergleichsweise gutes Image, sie gilt als professionell und zuverlässig, die Polizei hingegen lasse sich, vor allem auf dem Lande, kaum von Banditen unterscheiden, wie Schetter sagt.

Der afghanische Präsident Hamid Karsai lobte die afghanischen Sicherheitskräfte. Sie hätten dem Volk das „Vertrauen gegeben, dass sie ihr Territorium erfolgreich verteidigen können“. Auch von der Nato gab es Lob. Armee und Polizei hätten „ziemlich schnell und effizient“ die Offensive niedergeschlagen, sagte Bündnissprecherin Oana Lungescu am Montag in Brüssel. Deshalb gebe es auch keinen Anlass, über den für 2014 geplanten Abzug der westlichen Truppen neu nachzudenken. Nach Auffassung von Thomas Ruttig allerdings, Kodirektor des Afghanistan Analysts Network, sollte die internationale Gemeinschaft die Zeit bis dahin besser nutzen – und zum Beispiel die afghanische Regierung zu Reformen zwingen, um politische Institutionen zu stärken und die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen.

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