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() Hamid Karzai
Wie korrupt ist Hamid Karzai?

Einst war er der Liebling des Westens und der vermeintliche Garant für eine neue Stabilität in Afghanistan. Inzwischen wächst die Unzufriedenheit über Präsident Hamid Karzai. Ihm werden Schwäche und Korruption vorgeworfen.

In München war das entfremdete Verhältnis aus der Nähe zu betrachten. Bei der internationalen Sicherheitskonferenz schritt Hamid Karzai durch den großen Konferenzsaal, um den Sicherheitsberater des US-Präsidenten, General James Jones, zu begrüßen. 600 Menschen blickten gespannt auf die beiden. Karzai streckte dem General seine Hand entgegen, der General nahm sie – und schaute demonstrativ in die andere Ecke des Saales. Das nennt mal wohl das mimische Äquivalent einer Ohrfeige. Ab dem 21. Mai ist Hamid Karzai nicht mehr Präsident von Afghanistan; seine Amtszeit läuft ab. Ob er nach den Wahlen im August erneut Präsident sein wird, ist fraglich. Die Amerikaner zumindest scheinen ihn bereits abgeschrieben zu haben. In den vergangenen Monaten hat es eine Menge Ärger gegeben zwischen dem ehemaligen Lieblingsmärchenprinzen des Westens und seinen alten Förderern, denn die Lage in Afghanistan ist weniger denn je unter Kontrolle. Die Taliban bomben nahezu ungehindert, die Bevölkerung hungert, und die Korruption blüht. Als nach der Vertreibung der Taliban die Stelle des Staatspräsidenten 2001 zum ersten Mal zu besetzen war, hatte es geheißen, das werde einer der schwersten Jobs der Welt. Heute ist vielfach zu hören: Hamid Karzai sei der Falsche auf diesem Posten gewesen. Die Liste der Vorwürfe ist lang, und die Klagen klingen bitter. Seit Monaten wird der Ton immer schriller. Karzai solle gefälligst mal „aus seinem Bunker“ krabbeln und handeln, hatte Barack Obama schon im vergangenen Jahr gefordert. Dieser Tage nennt US-Vize-Präsident Joe Biden Afghanistan „ein einziges Durcheinander“. In Amerika heißt es, Karzai habe der Korruption freien Lauf gelassen – auch bei den krummen Geschäften der Männer, die am Kabinettstisch direkt neben ihm sitzen. Und dann soll auch noch sein eigener Bruder im Süden des Landes mit Rohopium handeln. Das will Karzai nicht auf sich sitzen lassen und schlägt zurück. Höflich und eisig lässt er Amerika wissen, dass es gewiss nicht allein auf das Unvermögen der Afghanen zurückzuführen sei, dass der Krieg nicht zu Ende gehe und die vertriebenen Taliban zurückkehren. Im Gegenteil: „Unsere Verbündeten haben sich nicht rechtzeitig um die Rückzugsgebiete jenseits der Grenzen gekümmert.“ Und die Vorwürfe gegen seinen Bruder? „Ich werde jetzt nichts dazu sagen, wer ein Interesse daran hat, so ein Spiel der Schuldzuweisung zu spielen. Aber die Vorwürfe tauchen immer dann in amerikanischen oder britischen Zeitungen auf, wenn ich mich kurz zuvor kritisch über die Verbündeten geäußert habe. Wir verstehen das als eine Taktik, uns unter Druck zu setzen.“ Realität ist, dass es Karzai nicht gelungen ist, gegen die Warlords durchzugreifen. Bis heute sind deren Milizen nicht entwaffnet, und sie schaffen sich in den Provinzen ihre eigenen kleinen Reiche. Und was tut Karzai? Er belohnt sie auch noch mit Kabinettsposten. Der afghanische Präsident also ein Schwächling? Zu weich sei er, sagen heute viele über ihn. Ein Träumer. Einer, der auf seiner Webseite schreibt, er reite gerne und liebe es, philosophische Schriften zu studieren. Einer, der über sich selber sagt, es gehe ihm schlecht, wenn er sehe, dass es anderen schlecht geht. Ein gebildeter, freundlicher, gläubiger Muslim mit dem Traum, dass Kabul eines Tages so sein möge wie Paris: weltgewandt und prosperierend. Im Dezember 2001 hatte man noch ein anderes Bild von Hamid Karzai. Damals – die Anschläge vom 11. September lagen gerade erst dreieinhalb Monate zurück, und in Afghanistan waren noch die letzten Schlachten gegen die Taliban im Gange – fand auf dem Petersberg bei Bonn die internationale Afghanistankonferenz statt. Händeringend hatte man vorher nach einem Mann gesucht, dem man die Übergangsregierung für dieses fragile Land anvertrauen könnte. Nach 20 Jahren Krieg und Vertreibung erst durch die Russen, dann durch die Mudschaheddin und schließlich durch die Taliban gab es keine Politiker mehr, sondern fast nur noch grausame Krieger. Oder Opfer. Ein Kandidat für die Führungsaufgabe – einige sagen der Lieblingskandidat des Westens –, ein aufrechter Kämpfer gegen die Taliban namens Abdul Haq, war gerade zwei Monate zuvor ermordet worden. So kam es, dass eine andere kraftvolle Stimme als Haqs auf dem Petersberg zu hören war, zugeschaltet vom Schlachtfeld gegen die Taliban: Hamid Karzai meldete sich per Videobotschaft. Von diesem Augenblick an war eigentlich klar, wer der neue Staatsführer Afghanistans sein würde. Da war einer, der die perfekte Brücke zwischen dem Sicherheitsbedürfnis des Westens und den höchst unterschiedlichen Wünschen im Vielvölkerstaat Afghanistan zu sein schien. Karzai sprach fließend Englisch, hatte in Indien Politikwissenschaften studiert, und viele seiner sieben Geschwister lebten vertrauenerweckenderweise in Amerika, wo sie solide Restaurants betrieben, auf deren Speisekarten sie so gängige Gerichte wie Kürbissuppe hatten. Außerdem war der Mann Paschtune und damit Mitglied der Mehrheitsbevölkerung im Land. Und dann die Aura dieses Kahlkopfs mit dem markanten Gesicht! Wie elegant in seinem lila-grün gestreiften Mantel und der schicken Lammfellkappe … Nur die, die ihn kannten, waren ein wenig verblüfft. Bisher hatten sie Karzai eher der „Gucci Guerilla“ zugeordnet – jenen Afghanen, die während des vom Westen subventionierten Krieges gegen die Russen nicht selber gekämpft, sondern von Pakistan aus den Nachschub organisiert hatten. Diese „Gucci Guerillas“ hatten die Kontakte zu den internationalen Geldgebern gepflegt und sich auf Botschaftsempfängen und Geheimdienstsitzungen herumgetrieben. Dass Hamid Karzai im Dezember 2001 plötzlich auf dem Schlachtfeld erschien, die Geschichte, wie er mit dem Motorrad über die Grenzen Pakistans weit hinein nach Afghanistan gefahren war, um ein paar Clans zum Widerstand gegen die Taliban aufzufordern – das alles klingt, als sei damals schon die Legendenbildung am Werk gewesen. Und stets gibt es neue Versionen der Geschichte, in einer Variante heißt es sogar, Karzai sei für seinen Auftritt auf dem Schlachtfeld von einem amerikanischen Hubschrauber abgesetzt worden. Das Entzücken über diesen Mann hat sich heute weitgehend gelegt. Es dominiert der Vorwurf, Karzai regiere falsch. Er selbst gilt bis heute zwar nicht als korrupt, aber er will alle – ungeachtet ihres Hintergrundes – in seine Politik einbinden: die Drogendealer, die Warlords, die religiösen Fanatiker. Für feige hält er das nicht – im Gegenteil. „Mir wurde die Verantwortung übertragen, dieses Land zusammenzuführen. Deshalb habe ich mich entschlossen, allen eine Chance zu geben, sie alle ins Boot zu holen“, rechtfertigt er sein Handeln. Wer dem afghanischen Präsidenten wohlgesonnen ist, hält ihm immerhin zugute, dass er integrieren könne. Das sei auch wichtig, denn die Afghanen hätten eine große Abneigung gegen einen Zentralstaat, der ihnen vorschreibe, was sie zu lassen hätten. Andere hingegen sprechen von „vormoderner Patronagepolitik“ oder „klientelistischer Mauschelei“. Vor kurzem war zu lesen, Karzai sei eben ein Präsident, der aus dem sozialen Chaos erwachsen sei. Das klang wie: Na ja, was will man von so einem auch anderes erwarten … Damit aber tut man Hamid Karzai Unrecht. Der heute 52-Jährige hat die letzte friedvolle Zeit in Afghanistan noch gut in Erinnerung. Und seine Kindheit hat nicht nur ihn geprägt, sondern auch seine Art, Politik zu machen. Aufgewachsen ist er im Dorf Karz, 20 Minuten außerhalb der Provinzhauptstadt Kandahar im Süden Afghanistans. „Wir waren eine gebildete Familie“, hat Hamid Karzai einmal erzählt, „aber konservativ und traditionell.“ Das prägt ihn heute noch. Vielleicht ist das der Grund, warum man seine Frau Zeenat Quraischi, eine Ärztin, mit der er einen kleinen Sohn hat, kaum in der Öffentlichkeit sieht. Vom Stammhaus der Karzais in Karz stehen nur noch lehmige Ruinen, aber der Präsident hat es noch gut in Erinnerung: Groß sei es gewesen, mit viel Grund, umfriedet von einer hohen Mauer, und im Garten sei er oft ausgeritten. Karzais Vater war damals der Führer des Popalzai-Clans. Der ist nicht nur einer der größten Stämme – es heißt, ihm gehören mehr als 500 000 Menschen an –, sondern auch etwas Besonderes, denn es war einer ihrer Ahnen gewesen, Ahmad Schah Baba, der 1747 das große Durrani-Reich gegründet hatte, das als Vorläufer des afghanischen Staates gilt. Seitdem bekleideten die Karzais am Hof immer einflussreiche Posten. Als Hamid Karzai älter wurde, zog die Familie nach Kabul; Karzais Vater war ins Parlament gewählt worden. Er wurde aber auch weiterhin oft aufs Land gerufen, um Streitigkeiten zu schlichten. Dass er Parlamentarier war, war den Dörflern allerdings herzlich egal. Erfolg hatte der alte Karzai wegen seiner Autorität als Stammesführer. Er hörte sich beide Seiten an. Er fällte ein Urteil, das keine der beiden Parteien völlig vernichtete – „fertig, kein Papierkram, keine Unterschriften – und trotzdem galt sein Wort“; so hat es Hamid Karzai einmal erzählt. Aus seinen Worten könnte man Sehnsucht heraushören, denn ihn selbst nennen sie nur „Bürgermeister von Kabul“, weil seine Macht über die Hauptstadt nicht hinausreicht. Tatsächlich haben außerhalb von Kabul andere die Macht. Zum einen die Amerikaner, zum Zweiten die afghanischen Taliban, unterstützt von den Foreign Fighters der Al Qaida. Zum Dritten die alten Warlords, die zuerst die Russen und dann die Taliban bekämpft haben und sich nun in wechselnden Allianzen mal gegen den Westen verbünden, mal mit ihm, mal gegen die Regierung, mal mit ihr. Übrigens – gegen Geld – auch mit westlichen Armeen. Das Gewaltmonopol des Staates, das der Westen so energisch von Karzai einfordert, wird nicht selten von eben diesem korrumpiert. Auf diesem machtpolitischen Flickenteppich sind alle stärker als der Präsident. Angesichts solcher Machtverhältnisse, sagen Afghanistankenner, sei es unfair, dass in Medien plötzlich nur noch von Karzais Versagen die Rede sei. Dazu beigetragen habe durchaus auch der Westen, der wirr und fahrig an Afghanistan herangehe, sich zu wenig Zeit lasse und zu sehr durch die eigene Wertebrille schaue. Das mache blind für die afghanische Realität. Die sieht im Fall von Hamid Karzai so aus: Er spricht sechs Sprachen, vier davon – Dari, Paschto, Urdu und Englisch – fließend, und schlägt sich wunderbar in Talkshows. Er wirkt so westlich, dass man versucht ist, ihn allein an diesen Maßstäben zu messen. Doch dieser Mann ist Afghane, sozialisiert in den uralten sozialen Strukturen einer Stammesgesellschaft. Das bedeutet, dass Loyalität ganz oben steht im Wertekanon, Loyalität zur „Familie“, und damit sind nicht nur Blutsbande gemeint. Auch die Sippe. Der übergeordnete Clan. Alte Verbündete. Wer sich dem widersetzt, steht schnell alleine da. Verliert Ehre, Einfluss, Schutz, was im wahrsten Sinn mörderisch sein kann. In Afghanistan, sagt der Experte Conrad Schetter, sei die eigentliche Aufgabe der Politik wie der Kriegsführung immer schon gewesen, sich selbst und den eigenen Solidarverband möglichst günstig zu positionieren. Das rechtfertigt zwar Karzais Passivität nicht. Aber es erklärt, dass die Zwänge, denen er unterliegt, die Kräfte, die an ihm zerren, stärker sind als das aus dem Ausland oft wahrgenommen wird. So betrachtet ist es ein Zeichen von Stärke, dass Karzai noch nicht zerrieben wurde. Ist er nun der starke oder doch der schwache Präsident? Die Antwort könnte vielleicht lauten: Karzai ist ein Mann mit Stärken, die in diesem Land zu dieser Zeit nicht zum Tragen gekommen sind. Das aber ist eine Schwäche. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn Hamid Karzai nicht der erste Präsident seit dem Neuanfang, sondern der zweite oder dritte geworden wäre – der Mann, der nach dem großen Aufräumen die Macht übernimmt, der die Moral hebt, Visionen formuliert. Möglicherweise wäre Karzai, wenn er die Wahl verlöre, ein guter „Vater der Nation“. Eine Art afghanischer Johannes Rau, der mit gütigem Blick auf seine Landsleute von Versöhnung spricht. Aber nun ist Wahlkampf. Und Karzai, der bei der letzten Wahl 2004 noch mit mehr als 55 Prozent gewonnen hat, muss sich diesmal auf ernsthafte Konkurrenz gefasst machen. Diese Männer sind nicht nur Paschtunen wie Karzai, also potenziell wählbar für die größte afghanische Bevölkerungsgruppe, sondern auch westlich geprägt, also akzeptabel für die Amerikaner. Aschraf Ghani zum Beispiel, Angehöriger des einflussreichen Achmadzai-Stammes, Wirtschaftswissenschaftler mit Diplomen aus Stanford und Harvard. Er hat für die Weltbank gearbeitet. Oder Ahmed Dschalali. Er war lange bei einem großen amerikanischen Radiosender und hat an der Pentagon-nahen Defense University gelehrt. Ihn, heißt es, hat Amerika immer mal wieder mit Geld im Wahlkampf unterstützt. Das ist natürlich von Hamid Karzai nicht unbemerkt geblieben. Auch wenn man ihn zu sanft nennen mag für sein Amt – so unvorbereitet und machtlos wie er in den internationalen Medien zurzeit wirkt, ist er nicht. Karzai verfolgt seine eigene Strategie. Dazu gehört, dass er sich seinerseits von den Amerikanern distanziert. Damit will er dem Eindruck entgegentreten, er sei ihre Marionette. Zunehmend scharf kritisiert er militärische Einsätze der USA, bei denen immer wieder Zivilisten sterben. Und er hat begonnen, mit hohen Taliban zu verhandeln. Eigenständig. Die Amerikaner hatten das lange ausgeschlossen, aber Karzai versandte plötzlich Nachrichten wie diese an den afghanischen Taliban-Chef Mullah Omar: „Mein teurer Bruder, komme zurück in deine Heimat, komme, arbeite für den Frieden und höre auf, deine Brüder zu töten.“ Ende September 2008 hatte es in Mekka tatsächlich erste Gespräche gegeben. Und erst vor kurzem hat Hamid Karzai vor Absolventen der Kabuler Militärakademie eine Rede gehalten und gesagt: Wenn die westlichen Staaten die Aufrüstung der afghanischen Streitkräfte nicht beschleunigten, würden das höchstwahrscheinlich „andere Staaten übernehmen“. Kurz darauf veröffentlichte sein Pressedienst einen Brief, in dem der russische Staatschef Dmitri Medwedew der afghanischen Armee Hilfe anbietet. Was – in Antwort auf General James Jones’ mimische Ohrfeige während der Münchner Sicherheitskonferenz – wohl als verbales Äquivalent einer langen Nase zu verstehen ist.

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