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Wer schützt uns vor Pakistans Bomben?

Während islamische Terroristen versuchen, das Land zu destabilisieren, wächst im Westen die Angst, das Nukleararsenal des Landes könnte in die Hände von Extremisten gelangen. Wie sicher sind die atomaren Sprengköpfe noch? Eine Spurensuche.

Am 17. Oktober 2009 hat die pakistanische Armee ihre Großoffensive in den Stammesgebieten Süd-Waziristans begonnen. Kurz zuvor hatten pakistanische Taliban Ziele angegriffen, die eigentlich zu den Objekten gehören sollten, die am besten gesichert sind. Beim dreistesten Überfall gelang es zehn Talibankämpfern sogar, ins Armeehauptquartier in Rawalpindi einzudringen. Über 24 Stunden wogten die Kämpfe hin und her, forderten dreiundzwanzig Tote und brachten die Armee in schwere Verlegenheit. Immerhin trugen die Terroristen Armeeuniformen. Weitere Attacken galten Polizeirevieren in Peschawar und Lahore; und kaum hatte die Gegenoffensive begonnen, wurde ein Armeegeneral in den Straßen der Hauptstadt Islamabad von Schützen auf Motorrädern erschossen. Die Mörder müssen den Arbeitsweg des Generals gekannt haben, müssen also auch über Verbindungsleute innerhalb der Sicherheitskräfte verfügen. Seit zwei Jahrzehnten ist Pakistan Atommacht und besitzt achtzig, wenn nicht hundert nukleare Gefechtsköpfe, die über das ganze Land verstreut stationiert sind. Angesichts der jüngsten Angriffe auf Armee-Einrichtungen stellt sich die Frage: Sind die Atombomben wirklich sicher? Einen Tag nach dem Überfall in Rawalpindi wurde diese Frage US-Außenministerin Hillary Clinton gestellt, und sie antwortete: „Wir haben Vertrauen in die Regierung Pakistans und die Fähigkeit des Militärs, die Kontrolle über die Atomwaffen zu behalten.“ Clinton – deren Besuch in Pakistan zwei Wochen später von weiteren terroristischen Bombenanschlägen überschattet war – fügte hinzu, die US-Regierung habe trotz der Angriffe und Überfälle „keinen Hinweis darauf, dass die Taliban dabei sind, die Macht im Staat zu übernehmen“. Clintons Worte klangen beruhigend; auch einige amerikanische Beamte versicherten in Interviews, dass die pakistanische Armee die Atomarsenale im Griff habe. Dass die Taliban Islamabad überrennen könnten, ist allerdings nicht die einzige, nicht einmal die größte Sorge in Washington. Die gilt vielmehr einem möglichen Aufruhr in der Armee. Extremistische Offiziere könnten einen Staatsstreich anzetteln, die Atomwaffen in ihre Gewalt bringen und möglicherweise einen Gefechtskopf an Dritte weitergeben. Während einer Pressekonferenz am 29. April 2009 wurde US-Präsident Barack Obama gefragt, ob er dem amerikanischen Volk versichern könne, dass das pakistanische Atomwaffenarsenal vor den Terroristen geschützt werden kann. Seine Antwort ist die bündigste Zusammenfassung der öffentlichen Stellungnahmen der Regierung: Er sei „tief beunruhigt“ über die Verletzlichkeit der zivilen Regierung unter Präsident Asif Ali Zardari. „Die größte Gefahr droht ihr derzeit von innen. Es liegt im vordringlichen Interesse unserer nationalen Sicherheit sicherzustellen, dass Pakistan stabil bleibt und wir keinen atomar gerüsteten, militanten Staat bekommen.“ Die Vereinigten Staaten, so Obama weiter, könnten „sicherstellen, dass Pakistans Atomarsenal geschützt wird – vor allem und zunächst, weil sich die pakistanische Armee, wie ich denke, der Risiken bewusst ist, wenn diese Waffen in falsche Hände geraten“. Chuck Todd vom TV-Sender NBC, der die Frage gestellt hatte, hakte nach: Ob denn amerikanisches Militär notfalls einmarschieren und Pakistans Bomben schützen könne. Obama fiel Todd ins Wort. „Ich werde auf derart hypothetische Fragen nicht eingehen. Ich bin sicher, dass das Nukleararsenal nicht in militante Hände fallen wird. Genügt das?“ Nicht Obama selbst, doch ehemalige und gegenwärtige Mitarbeiter der Regierung, mit denen ich in Washington und Pakistan sprach, erklärten, dass sich die amerikanische Regierung in sehr heiklen Verhandlungen mit den pakistanischen Militärs geeinigt hätte. Diese Vereinbarungen erlaubten es speziell ausgebildeten US-Einheiten, im Fall einer Krise für zusätzlichen Schutz der pakistanischen Arsenale zu sorgen. Gleichzeitig werde das pakistanische Militär Finanzmittel erhalten, die der Ausrüstung und Ausbildung pakistanischer Soldaten, aber auch der Verbesserung ihrer Unterkünfte und Einrichtungen dienen sollten – Ziele, für die General Ashfaq Parvez Kayani, der Oberbefehlshaber der pakistanischen Armee, seit langem eingetreten sei. Im Juni 2009 bewilligte der US-Kongress tatsächlich vierhundert Millionen Dollar für einen Fonds, den die US-Regierung „Pakistan Counterinsurgency Capability Fund“ genannt hat. Gedacht sind die Mittel zur direkten Unterstützung der pakistanischen Armee: für Ausrüstung, Ausbildung, „Renovierung und Neubau“. Die Geheimhaltung rund um diese Übereinkunft war notwendig, nicht nur wegen einer Geschichte wechselseitigen Misstrauens, sondern weil derzeit die Antipathien gegen die Vereinigten Staaten in Pakistan wachsen. Viele Pakistanis glauben, Amerikas eigentliches Ziel sei nicht der Schutz der Waffen, sondern die Verringerung oder Zerstörung von Pakistans gesamtem Atomkomplex. Die „Arsenale“ sind für viele Pakistanis die Quelle eines großen Stolzes. Die Waffen gelten als nationale Statussymbole und wesentliches Mittel der Abschreckung gegen Indien. (Indien hat seine ersten Atomwaffentests 1974 durchgeführt, Pakistan 1998.) Ein führender pakistanischer Würdenträger mit engen Verbindungen zum Regierungschef Zardari explodierte vor Zorn, als während eines Interviews die Sprache auf die amerikanische Forderung kam, umfangreicher über das Waffenarsenal informiert zu werden. Nach den Angriffen vom 11. September 2001, so sagte er, hätten sich die Bush-Administration und der damalige pakistanische Präsident Pervez Musharraf darüber verständigt, „was Pakistan hatte und nicht hatte“. Heute dagegen „hättet ihr am liebsten die Kontrolle über die tagesaktuelle Aufstellung unserer Kräfte. Doch warum sollten wir euch das zugestehen? Selbst wenn es zu einem militärischen Staatsstreich in Pakistan kommen sollte – hier denkt niemand daran, die vollständige Kontrolle über unsere Atomwaffen aufzugeben. Niemals. Warum fürchtet ihr euch nicht vor den Atomwaffen Indiens? – Weil Indien euer Freund ist, und weil die langfristigen politischen Ziele Amerikas und Indiens konvergieren. Ihr und Indien, ihr werdet uns in jeder Weise bescheißen. Dabei hat die Obama-Regierung in Wahrheit weniger Probleme mit unseren Waffen als damit, einen Weg heraus aus Afghanistan zu finden.“ Die weiterhin fortgesetzten Konsultationen zwischen Washington und Islamabad über nukleare Sicherheit wurden nachdrücklicher geführt, nachdem Präsident Obama im März 2009 die sogenannte Af-Pak-Policy verkündet und in diesem Zusammenhang von der pakistanischen Armee ein aggressiveres Vorgehen gegen Talibanenklaven innerhalb des Landes verlangt hatte. Obwohl die CIA sowie die amerikanischen Verteidigungs-, Außen- und Energieministerien an den Gesprächen beteiligt waren, profitierten die Vereinbarungen zur nuklearen Zusammenarbeit vor allem von der immer engeren Beziehung zwischen Admiral Michael Mullen, dem Vorsitzenden der Joint Chiefs of Staff, und seinem Amtskollegen General Kayani. (Alle drei Ministerien verweigerten übrigens Stellungnahmen zu diesem Artikel. Der Nationale Sicherheitsrat und die CIA ließen wissen, es gebe überhaupt keine derartigen Vereinbarungen.) Admiral Mullen bestätigte, dass er und Kayani sich – so die Worte von Mullens Sprecher – „sehr nahestünden“. Wie der Sprecher ebenfalls erklärte, sei Mullen eingebunden in die täglichen Dispositionen der Pakistanis und „fast so etwas wie ein Generalbevollmächtigter für alle Angelegenheiten in Pakistan“. Er bestritt allerdings, das Mullen und Kayani beziehungsweise deren Stäbe Einverständnis erzielt hätten über die Einsatzmöglichkeiten amerikanischer Streitkräfte im Fall eines Militärputsches oder einer terroristischen Bedrohung atomarer Einrichtungen. Nach „meinem Wissen“, so ließ Mullen durch seinen Sprecher erklären, „haben wir keine militärischen Einheiten, Spezialkräfte oder Ähnliches, die für eine solche Aufgabe bestimmt wären“. Außerdem lägen Mullen keinerlei Hinweise darauf vor, dass fundamentalistische Strömungen innerhalb der pakistanischen Armee an Einfluss gewönnen. In einer Pressekonferenz am 4. Mai 2009 jedoch reagierte Mullen auf eine Anfrage zur wachsenden Radikalisierung in Pakistan mit der Bemerkung, das, „was in den (vergangenen) zwölf Monaten eindeutig geschehen ist“, sei „eine kontinuierliche, eine graduelle Verschlechterung der Sicherheitslage“. Offen sprach der Admiral über die verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Vereinigten Staaten und Pakistan in nuklearen Sicherheitsfragen: „Ich weiß, was wir die vergangenen drei Jahre getan haben, insbesondere in Sachen Investition und Unterstützung, und ich habe verfolgt, wie sie ihre Sicherheitsvorkehrungen enorm verbessert haben … Seien Sie versichert, dass ich gerade darauf seit einiger Zeit so sehr, wie mir das möglich war, geachtet habe.“ Siebzehn Tage später erklärte er vor dem Auswärtigen Ausschuss des US-Senats: „Wir haben in den vergangenen Jahren über das Energieministerium bedeutende Mittel investiert“ – um Pakistan zu helfen, die Sicherheitsvorkehrungen für das Arsenal zu verbessern. Allerdings müssten die Pakistanis „weiter daran arbeiten“. Meine Interviews in Pakistan bestätigten mir, dass die Gespräche über nukleare Sicherheitspläne mit den Vereinigten Staaten kontinuierlich geführt wurden –, und ich bekam Hinweise darauf, dass die pakistanische Führung weniger Gewicht darauf legte als die Amerikaner. Einige Male nannten pakistanische Regierungsvertreter diese Gespräche ein Mittel, um ängstliche amerikanische Politiker zu beruhigen. „Ihr habt das gebraucht“, sagte ein höherer pakistanischer Beamter sarkastisch, der, wie er erklärte, in die Atomfrage eingewiesen worden war. „Zwanzigtausend Menschen arbeiten in der pakistanischen Atomwaffenindustrie, und da meint man in Amerika, Pakistan müsse scheitern.“ Und er fügte hinzu: „Die Amerikaner sagen: ,Wir wollen euch helfen, die Waffen zu schützen.‘ Wir sagen: ‚Prima. Sagt uns, was ihr für uns tun könnt.‘ Es ist alles ein Geben und Nehmen. Ihr Amerikaner sagt uns auch: ‚Kommt klar mit eurem Atomprogramm, und wir werden sicherstellen, dass Indien keinen Druck darauf ausübt.‘ Also sagen wir: ‚Einverstanden.‘“ Doch der gleiche Pakistani sagt auch: „Beide Seiten belügen sich gegenseitig.“ Die Informationen, die die Pakistanis freigegeben hätten, seien nicht so vollständig, wie die Amerikaner glaubten: „Wir haben euch nichts gesagt, was ihr nicht schon wusstet.“ Die Amerikaner hätten nie begriffen, dass Pakistan die Verfügungsmacht über sein Arsenal niemals aufgeben würde. „Solltet ihr versuchen, uns die Waffen zu nehmen, werdet ihr damit scheitern.“ Die hochrangige Zusammenarbeit zwischen Islamabad und Washington in Sachen pakistanisches Atomwaffenarsenal hat vor mindestens acht Jahren begonnen. Der ehemalige pakistanische Präsident Musharraf, mit dem ich in London sprach, erklärte, seine Regierung habe nach den Angriffen vom 11. September ausführliche Diskussionen mit der Bush-Administration geführt. Sie hätten den Nichtverbreitungsexperten des Außenministeriums Einsicht gewährt in die Kommando- und Kontrollstrukturen des pakistanischen Arsenals, ebenso in Sicherheits- und Schutzvorkehrungen. Musharraf bestätigte auch, dass Pakistan ein riesiges Tunnelsystem für Transport und Lagerung der Atomwaffen angelegt habe. Die Stollen, sagte Musharraf mit sichtlichem Stolz, „sind so tief, dass ein Atomangriff sie nicht erreichen wird“. Außerdem machten es die Tunnelanlagen der United States Intelligence Community unmöglich, die Transporte von nuklearen Komponenten via Satellit zu verfolgen. In das System wurden Sicherheitsvorrichtungen eingebaut. So schreibt die pakistanische Atomdoktrin vor, dass Gefechtsköpfe (die einen Kern aus angereichertem Spaltmaterial enthalten) und Zünder (komplizierte Vorrichtungen wie hochexplosive Sprengstofflinsen, Sprengkapseln und Krytonen) getrennt voneinander und vom jeweiligen Transportvehikel (Raketen oder Flugzeuge) gelagert werden müssen. Das soll sicherstellen, dass niemand einen Gefechtskopf ohne die zur Montage notwendige Verzögerung abschießen kann. Die letzte Entscheidungsgewalt über einen Atomschlag liegt bei Pakistans zehnköpfiger nationaler National Command Authority, einem Gremium, dessen Vorsitzender – der Satzung nach der Präsident, derzeit also Zardari – die entscheidende Stimme hat. Die Sicherheitsvorkehrungen sind also darauf angelegt, eine zu schnelle Eskalation einer Konfrontation mit Indien zu verhindern. Möglicherweise aber wird das Arsenal gerade dadurch anfällig für terroristische Angriffe. Experten für atomare Sicherheit haben den Prozess unter Kriegsbedingungen durchgespielt und sind zu dem Schluss gelangt, dass Zünder und andere Bauteile gerade dann besonders ungeschützt seien, wenn sie transportiert und zusammengesetzt werden. Dann nämlich lägen weniger Barrieren zwischen einer von außen agierenden Gruppe und der Bombe. Nach einem der durchgespielten Kriegsszenarien könnte, so ein Berater der Geheimdienste, ein enttäuschtes Mitglied des pakistanischen Militärs einen Terrorangriff in Indien anzetteln, und die anschließende Krise würde ihm „Gelegenheit geben, sich der Bomben und Zünder zu bemächtigen – indem er sich darauf beruft, sie vor dem Zugriff von Extremisten zu schützen“. Die Zünder sind das Schlüsselelement in der amerikanischen Notfallplanung. Wie mir ein ehemaliges hochrangiges Mitglied der US-Geheimdienste sagte, wurde ein Team, das über Jahre trainiert habe, Teile des pakistanischen Arsenals zu entfernen oder zu zerlegen, inzwischen um eine Einheit des Joint Special Operations Command (JSOC), der Elitetruppe des Antiterrorkampfs, erweitert. Die Einheit, die zuvor auf den Nuklearkern der Gefechtsköpfe angesetzt war, konzentriere sich inzwischen auf die Zünder, die kein radioaktives Material enthielten und darum sehr viel leichter zu handhaben seien. Die Pakistanis, so sagte mir der ehemalige Geheimdienstmann weiter, „haben uns quasi einen Überblick über die Gefechtsköpfe, ihre Standorte und über ihre Kommando- und Sicherheitsstrukturen gegeben. Wir haben die Liste ihrer Ziele und ihre Mobilisierungspläne gesehen. Und wir hatten ihre Sicherheitspläne. Im Fall eines Einbruchs in ihr Sicherheitssystem hätten wir sie unterstützen können. Wir sind da, um die Pakistanis zu unterstützen, doch haben wir zugleich den Auftrag, unsere eigene Sicherheitsachse auf ihren nuklearen Vorrat auszudehnen.“ Während ihrer detaillierten Planungen hätten die Amerikaner sogar geschätzt, wie viele Zünder in einer C-17-Transportmaschine untergebracht werden könnten und wo man sie beschlagnahmen müsste. Admiral Mullen ließ, auf die Frage, ob die Erkenntnisse über das pakistanische Arsenal gewachsen seien, über seinen Sprecher erklären: „Ich weiß gar nicht, woher Sie solche Informationen erhalten haben.“ Und ein Sprecher des pakistanischen Militärs erklärte in einem offiziellen Dementi: „Weder braucht Pakistan eine amerikanische Einheit, um die Sicherheit seines Arsenals zu erhöhen, noch würde es eine solche akzeptieren.“ Pakistanisches Militär habe „den US-Truppen in einer Krisensituation Schutz geboten“ – eine Anspielung auf Pakistans Rolle im Krieg gegen den Terror –, also werde man wohl in der Lage sein, „mit jeder widrigen Situation fertig zu werden“. Im Frühsommer 2009 erklärte ein Berater des US-Verteidigungsministeriums, ein hochgeheimes Reaktionsteam aus Militärs und Zivilschutzleuten sei in Alarmbereitschaft versetzt worden, nachdem ein dringender Bericht amerikanischer Geheimdienste eingegangen sei, eine pakistanische Atomkomponente werde vermisst. Das Team, das verdeckt operiert und an dem Terrorismus- und Nichtverbreitungsexperten der Nachrichtendienste, das Pentagon, FBI und Energieministerium beteiligt sind, steht permanent bereit, sich im Alarmfall innerhalb von vier Stunden von der Andrews Air Force Base in Maryland aus in Marsch zu setzen. Der Bericht habe sich allerdings als falsch erwiesen und die Mission sei abgebrochen worden. Das Team, so fügte der Berater hinzu, sei, als es diese Nachricht erhielt, bereits in Dubai gewesen. Würden die Pakistanis im Fall einer tatsächlichen Krise einem amerikanischen Team Zugang zu ihren Arsenalen gewähren? Von einem Experten für die Bekämpfung von Aufständen, der das Pentagon berät, erfuhr ich, dass manche Analysten den Verdacht hegten, das pakistanische Militär könne Schritte unternommen haben, um Elemente des Atomarsenals „aus der Registrierung“ zu nehmen, sie also in einer Anlage unterzubringen, die nur wenigen bekannt ist – zum Schutz vor einer Meuterei oder vor amerikanischen beziehungsweise indischen Versuchen, sie in ihre Gewalt zu bringen. „Wenn Sie davon ausgingen, dass Ihr amerikanischer Verbündeter Ihrem Feind mitteilen würde, wo die Waffen sind, würden Sie das Gleiche tun“, sagte der Berater. Präsident Zardari habe ich gefragt, ob es kürzlich Vereinbarungen zwischen Pakistan und den Vereinigten Staaten gegeben habe; seine Antwort: „Lassen Sie mich etwas zu unserer atomaren Abschreckung sagen. Wir stehen uns gegenseitig bei, und das Niveau des Beistands ist gut, weil jeder des anderen Integrität respektiert. Wir sind alle schon groß.“ Ich habe mich zweimal mit Zardari getroffen, zuerst in seinem Büro, im weiträumigen, aber abgeriegelten Präsidentenpalast, danach, ein paar Tage später, allein zu einem Essen in seinen Privaträumen. Zardari, der nach der Ermordung seiner Ehefrau und charismatischen Premierministerin Benazir Bhutto (im Dezember 2007) zum Präsidenten gewählt wurde (im September 2008), hat fast elf Jahre – unter anderem wegen Korruptionsvorwürfen – in Haft verbracht. In Pakistan ist er auch als „Mr. Zehn Prozent“ bekannt, eine Anspielung auf Aufträge, die er während Bhuttos Regierungszeit vom Staat erhalten haben soll. Viele Pakistaner sehen in ihm nicht viel mehr als einen Gauner, der sich viel zu weit mit Amerika einlässt. Seine Umfragewerte liegen im Zwanzig-Prozent-Bereich. Er ist redselig, gleichwohl vorsichtig, stolz, doch defensiv, und wie viele seiner Landsleute davon überzeugt, dass die Vereinigten Staaten im Zweifelsfall stets Indien bevorzugen würden. Voller Spott äußerte er sich über das, was er Amerikas fixe Idee nannte: die Verletzlichkeit der Atomarsenale seines Landes. „In Ihrem Land denkt man, sie müssten die Festung für uns verteidigen. Die Amerikaner wollen eine Menge Antworten zu den Fehlern der Vergangenheit, und es ist ziemlich leicht, Furcht zu verbreiten. Unsere Armeeoffiziere sind nicht verrückt wie die Taliban. Sie sind britisch ausgebildet. Warum sollten sie einen Fehler machen mit der Atomsicherheit? Zu einer Meuterei wird es in Pakistan niemals kommen. Das ist eine Befürchtung, die die wenigen verbreiten, um die vielen einzuschüchtern.“ Er könne Barack Obama nur einen Rat geben: Dessen Regierung solle, statt sich Sorgen zu machen über die atomare Sicherheit in Pakistan, sich doch lieber mit dem militärischen Ungleichgewicht zwischen Pakistan und Indien befassen, das eine viel zu große Armee unterhalte. „Sie sollten uns helfen, konventionelle Waffen zu bekommen. Worum es wirklich geht, ist die Machtbalance.“ Von den Vereinigten Staaten gedrängt, genehmigte Zardari im Mai 2009 die Großoffensive gegen die Taliban. Dreißigtausend Soldaten wurden ins Swat-Tal entsandt, das etwa 160 Kilometer nordwestlich von Islamabad liegt. Dazu sagte Zardari: „Der Feind, gegen den wir im Swat kämpften, bestand zu zwanzig Prozent aus Dieben und Gangstern und zu achtzig Prozent aus Leuten, die genauso denken wie die Taliban.“ Er bezeichnete den Feldzug als vollen Erfolg, fügte allerdings hinzu, seine Regierung sei nicht „bereit“, alle Taliban zu töten. Seine Lösung sei langfristig angelegt, er wolle für neue Geschäftsmöglichkeiten im Swat sorgen und aus den Taliban Geschäftsleute machen: „Geld ist der beste Anreiz. Man kann sie anheuern.“ Zardaris Meinung zur Swat-Offensive ist erstaunlich, vor allem wenn man bedenkt, dass viele Pakistanis verärgert waren über den exzessiven Einsatz von Gewalt und die anschließende Flüchtlingskrise. Über zwei Millionen Menschen wurden aus ihrem normalen Leben gerissen, zu Hunderttausenden drängten sie sich in einem Sommer mit Temperaturen von weit über 40 Grad in Zeltstädten, die die Regierung verwaltete. Idris Khattak, als Student ein Radikaler und heute Mitarbeiter von Amnesty International, erklärte mir in Peschawar, die Menschen hätten ihm die Nächte der schweren wahllosen Luftangriffe und Bombardements beschrieben, denen am Morgen die Razzien der Armee gefolgt seien. Die Dorfbewohner und nicht die Taliban habe es am härtesten getroffen. „Die Menschen sagten uns, dass die Bombardements für die Taliban das Zeichen waren, sich zu verziehen.“ Zardari bestritt nicht, dass es Probleme gegeben habe in den Flüchtlingslagern – die Hitze und die schlechte Ausstattung. Er beharrte allerdings darauf, dass der Fehler bei den Zivilisten gelegen habe: Sie seien den Taliban gegenüber viel zu duldsam gewesen. Doch könnte das Leid auch sein Gutes gehabt haben: Nach einem Sommer in den Zelten hätten die Bewohner des Swat-Tals vielleicht etwas dazugelernt und würden die Taliban „nicht wieder in ihre Städte zurückkehren lassen“. Rahimullah Yusufzai, ein bedeutender pakistanischer Journalist, der Osama bin Laden zweimal interviewen konnte, hat eine andere Erklärung für die Umstände, die zur Offensive geführt haben. Die Taliban, sagte er, „haben zunächst versucht, öffentliche Unterstützung im Swat zu erlangen, indem sie für Frieden und Gerechtigkeit sorgten. Doch sobald sie an der Macht waren, sind sie übergeschnappt und wurden brutal. Viele von ihnen stammen aus den untersten Schichten der Bevölkerung, und die begannen dann, ihre Gegner zu terrorisieren und zu ermorden. Die Menschen bekamen Angst.“ Der Aufruhr sei mit dem Einmarsch der Armee nicht zu Ende gewesen. „Die meisten Menschen, die in den Flüchtlingslagern waren, sagten uns, dass die Armee sich nicht besser verhalten habe. Es gab so viele Morde“, sagte Yusufzai. Die Regierung hatte den Reportern, die während der Kämpfe ins Swat-Tal zu gelangen suchten, Grenzen gesetzt; anschließend jedoch konnten Yusufzai und seine Kollegen mit Offizieren sprechen. „Sie sagten uns, sie hätten gehasst, was sie tun mussten, sagten: ‚Wir sind ausgebildet, um gegen Inder zu kämpfen.‘“ Doch das habe sich geändert, als sie schwere Verluste erlitten, insbesondere unter jüngeren Offizieren: „Nachdem ihre Kameraden getötet worden waren, töteten auch sie unterschiedslos alle – so wie die Amerikaner mit ihren Predator-Drohnen. Was die Armee nicht versteht und was auch die Amerikaner nicht verstehen – man macht sich die ganze Familie zum Feind, wenn man das Haus eines Taliban oder ihrer Unterstützer zerstört.“ Dann könne sich, was als taktischer Sieg erschien, als strategischer Fehlschlag erweisen. Die Regierung Obama tat sich schwer zu verstehen, wie unzufrieden viele Pakistaner mit den Vereinigten Staaten sind. Außenministerin Clinton zeigte sich während ihrer dreitägigen Good-Will-Tour durch Pakistan verblüfft über den Ärger und die manchmal provozierende Kritik an der amerikanischen Politik, die ihr während der meisten ihrer öffentlichen Auftritte entgegenschlugen, und sie reagierte defensiv. Vergangenes Jahr brachte die Washington Times einen Artikel über das Pressler Amendment, ein Gesetz aus dem Jahr 1985, mit dem der größte Teil der Militärhilfe für Pakistan eingefroren wurde, solange das Land sein Atomprogramm fortsetzte. Das Programm hinderte Pakistan weder daran, die Bombe zu entwickeln, noch daran, bestimmte Waffen zu kaufen. Aber es verringerte die Zahl der pakistanischen Offiziere, die weiterhin ihre Ausbildung in amerikanischen Einheiten absolvieren durften. Der Artikel zitierte Generalmajor John Custer mit der Bemerkung: „Die älteren Militärführer lieben uns. Sie verstehen die amerikanische Kultur, und sie wissen, dass nicht wir der Feind sind.“ Damit löste der General ein Trommelfeuer von E-Mails aus, geschrieben von amerikanischen Offizieren mit Pakistan-Erfahrung. Ein ehemaliges Mitglied einer Einheit der Special Forces gab mir Kopien zu lesen. So schrieb ein hoher, in Pakistan stationierter Offizier: „Dass ein Zwei-Sterne-General eine solche Bemerkung macht … ist bestenfalls naiv, tatsächlich aber der reine Blödsinn. Ich habe den gesamten Generalstab, von General Kayani abwärts, Generalstäbler und Offiziere aus allen Einheiten, kennengelernt und mit ihnen zu tun gehabt, und ich habe nicht einen erlebt, der gesagt hätte, er ,liebe uns‘, was immer das bedeuten mag. Und ich habe die meisten der (geheimen) Lagebeurteilungen gelesen, es war nicht eine darunter, die auch nur in die Nähe dieses ,Sie lieben uns‘ käme. Sie halten uns zum Narren, wo immer sie etwas von uns zu bekommen hoffen, wir überschlagen uns und liefern ihnen, was sie verlangen und dann nicht bezahlen können.“ Einige Militärs, die Pakistan gut kennen, glauben, dass auf dessen Armee Verlass sei, was immer die persönlichen Ansichten des Offizierskorps sein mögen. „Man kann sie nicht ‚proamerikanisch‘ nennen, doch das heißt nicht, dass sie nicht wüssten, wo sie ihren Vorteil fänden.“ Brian Cloughley, der mir das sagte, war fünf Jahre als australischer Militärattaché in Pakistan. Er glaubt, dass „es zu einer Meuterei kommt“, fuhr er fort, „ist sehr unwahrscheinlich. Denn das zöge eine äußerst harte Reaktion nach sich“ – nämlich der Sicherheitskräfte der pakistanischen Armee. „Allerdings fördert Verdruss Irrationalität, und das könnte international fatale Folgen haben.“ Die Erinnerungen von Mitgliedern der Bush-Regierung, die mit Pakistan in der ersten Runde nach dem 11. September über Atomfragen verhandelt haben, stimmen nicht gerade zuversichtlich. Hauptgesprächspartner der Amerikaner war Generalleutnant Khalid Kidwai, der Chef der pakistanischen Strategic Plans Division, die verantwortlich ist für Strategie und Operationen sowie für die physische Sicherheit des Atomwaffenkomplexes. Zunächst, so berichtete mir ein hochrangiges Mitglied der Bush-Administration, sei der Kontakt zu Kidwai beruhigend gewesen; seine Professionalität habe das amerikanische Vertrauen in die Vernünftigkeit der pakistanischen Atomdoktrin und Störfallvorkehrungen verstärkt. In der Armee sei der Einfluss der Punjabis bestimmend gewesen, die wie die Amerikaner dachten und sich, wie es ein ehemaliger Mitarbeiter der Bush-Regierung formuliert hat, „von den Paschtunen nichts gefallen ließen“. (Die Taliban sind mehrheitlich Paschtunen.) Als dieser Mann zu Beginn der zweiten Amtszeit von George W. Bush Pakistan wieder verließ, war seine Einschätzung viel düsterer geworden: „Sie vertrauen uns nicht, und sie werden uns auch nicht die Wahrheit sagen.“ So habe kein Amerikaner direkten Kontakt zu Abdul Qadeer Khan aufnehmen dürfen, dem Metallurgen, der auch Vater der pakistanischen Atombombe genannt wird und der auf dem internationalen Schwarzmarkt mit wichtigen Bauteilen für Atomwaffen gehandelt hatte. Musharraf ließ ihn Anfang 2004 unter Hausarrest stellen – empört, wie er sagte, über die Nachricht von Khans Geschäften. Damals aber war weithin klar, dass diese Aktivitäten von Pakistans Geheimdienst Inter-Services Intelligence (ISI) geduldet worden waren. Im Februar vergangenen Jahres wurde Khans Hausarrest aufgehoben, allerdings blieb seine Reisefreiheit eingeschränkt. (Im vergangenen Jahr, als er für sein Buch „The Inheritance“ recherchierte, hörte der Autor David Sanger von Kidway, dass die pakistanischen Sicherheitssysteme dank technischer Überwachung „narrensicher“ seien. Mitglieder der Bush-Regierung, kommentiert Sanger, seien „in vertraulichen Gesprächen nicht so überzeugt wie in ihren öffentlichen Erklärungen“.) Ein ehemaliger Mitarbeiter des Außenministeriums, der nach dem 11. September mit der pakistanischen Atomfrage befasst war, sagte, ihm sei klar geworden, dass die Pakistanis „glauben, dass wir jede Information, die wir von ihnen erhalten, an andere weitergeben würden – möglicherweise sogar an die Inder. Die Befehls- und Sicherungsprozeduren zu kennen, ist eine Sache; zu wissen, wo die Waffen aktuell lagern, eine andere.“ Der Mann, der mir auch vom großen pakistanischen Luftwaffenstützpunkt vor Sargodha erzählte, westlich von Lahore, wo, wie anzunehmen ist, viele von Pakistans atomwaffenfähigen F-16-Bombern stationiert sind, hatte allerhand Fragen: „Gibt es auf Sargodha einsatzbereite Atomwaffen? Und wenn ja – der Stützpunkt ist so groß wie die Andrews Air Force Base in Maryland –, wüssten wir dann, wohin wir gehen müssten? Liegen die Gefechtsköpfe vielleicht in Bunker X?“ Das nicht zu wissen, sei riskant. „Wenn unsere Leute plötzlich auf dem Stützpunkt auftauchen und nicht wissen, wohin sie gehen müssen, dann wird es eine Menge Leute geben, die auf uns schießen. Und selbst wenn uns die Pakistanis gesagt hätten, die Zünder liegen in Bunker X – hätten sie uns die Wahrheit gesagt?“ Rolf Mowatt-Larssen, drei Jahre lang Leiter der Spionage- und Spionageabwehrabteilung des US-Energieministeriums, zuvor zwanzig Jahre bei der CIA und inzwischen pensioniert, schrieb in der Juli/August-Ausgabe von Arms Control Today sehr anschaulich über die „tödliche Nähe zwischen Terroristen, Extremisten und Atomwaffen-Insidern“ in Pakistan: „Insider haben terroristische Angriffe erleichtert. Auf Luftwaffenstützpunkten, die, wie zu hören war, als Atomwaffenlager dienen, hat es Selbstmordattentate gegeben. Es wäre problematisch, solche Entwicklungen nicht zu ernst zu nehmen. Allein nach Maßgabe der Wahrscheinlichkeit ist die Möglichkeit groß, dass schwarze Schafe im nuklearen Establishment bereit sind, mit Außenstehenden zu kooperieren, sei es zum persönlichen Vorteil, sei es aus Sympathie für deren Kampf. Nirgendwo auf der Welt ist diese Gefahr größer als in Pakistan … Alles, was die nukleare Sicherheit in Pakistan erhöht, ist eine Investition (in Amerikas Sicherheit).“ Leslie H. Gelb, ein emeritierter Vorsitzender des Council on Foreign Relations, sagte dazu: „Ich glaube nicht, dass es irgendeine Vereinbarung oder dergleichen gibt, auf die wir uns verlassen können. Die Pakistanis haben gelernt, wie sie mit uns umgehen müssen, und ihnen ist klar, dass Schluss ist mit den Wohltaten, wenn sie uns nicht sagen, was wir hören wollen. In all diesen Jahren hat die CIA keinerlei Aktivposten aufbauen können, doch die tun so, als hätten wir ‚Zugang‘. Ich weiß nicht, ob Obama klar ist, dass die Agency nicht weiß, wovon sie redet.“ Nicht weniger deutlich äußerte sich der ehemalige hochrangige Mitarbeiter der Bush-Regierung: „Wenn ein pakistanischer General mit uns über Atomfragen spricht, lügt er, sobald er seinen Mund aufmacht. Die Pakistanis werden ihre Geheimnisse mit niemandem teilen, und schon gar nicht mit einem Land, das sie, ihrer Meinung nach, wie einen Pappbecher benutzt und nach Gebrauch wegwirft.“ Sultan Amir Tarar, auch als „Colonel Imam“ bekannt, ist der Archetyp eines enttäuschten pakistanischen Offiziers. Achtzehn Jahre war er als Geheimdienstmann in Afghanistan aktiv, die meiste Zeit in verdeckten Operationen. Im Krieg der Mudschaheddin gegen die Sowjetunion, in den achtziger Jahren also, arbeitete er eng mit CIA-Agenten zusammen und machte dabei, wie er mir während eines Interviews in Rawalpindi sagte, gute Erfahrungen: „Sie waren ehrlich, agierten durchdacht und lieferten die beste Ausrüstung.“ Voller Stolz berichtete er, dass er 1985 in Afghanistan Robert Gates die Hand geschüttelt habe. Gates, heute Verteidigungsminister, war damals leitender Beamter der CIA. „Ich habe“, so sagte er damals zu Tarar, „viel von Ihnen gehört.“ – „Gutes oder Schlechtes“, habe dieser wissen wollen. – „Natürlich nur Gutes“, habe Gates geantwortet. Doch nach dem Rückzug der Sowjets hätten sich seine, Tarars, Ansichten geändert, denn damals „haben uns die Amerikaner im Stich gelassen“. Tarar, der 1995 aus dem Dienst schied, aber einen Sohn in der Armee hat, glaubt – wie viele pakistanische Militärs –, dass Amerikas Kampagne, Pakistan tiefer in den Krieg gegen die Taliban zu ziehen, nach hinten losgehen werde: „Die Amerikaner versuchen derzeit, uns für ihren Krieg anzuheuern.“ Wenn die Regierung ­Obama so weitermache, wird es hier zum Aufstand kommen und diese korrupte Regierung wird zusammenbrechen. Jeder Pakistani wird dann zu seiner eigenen Atombombe werden – zum Selbstmordbomber. Je länger dieser Krieg dauert, desto mehr wird er auf die Stammesgebiete übergreifen, und das wird zu einer revolutionären Situation führen. Die Menschen von dort werden in die großen Städte wie Lahore und Islamabad fliehen.“ Tarar ist überzeugt, dass die Regierung Obama mit den afghanischen Taliban verhandeln müsse, selbst wenn dies direkte Gespräche mit Mullah Omar, dem Führer der Taliban, erfordern würde. Tarar kennt Mullah Omar gut, denn der, so erzählte er mir, „war 1885 zur Ausbildung in meinem Lager. Er war körperlich fit und zielorientiert, ein sehr ehrlicher Mann und praktizierender Muslim. Aber nicht mehr. Er war ein Talib, ein Lernender, kein Mullah. Doch die Menschen achteten ihn. Heute hat er die größte Anhängerschaft von allen afghanischen Führern. Darum ist es an der Zeit, dass ihr mit ihm verhandelt.“ Die Gespräche mit Tarar und anderen Offizieren verschafften mir einen Eindruck davon, welche Verbitterung an der Spitze der pakistanischen Regierung herrscht. Das hat den Ausgleich in der Atomfrage erschwert. In bitterem Ton sprach Tarar über die Lage, in der sich General Kayani befinde, der die „unredliche“ Politik der Amerikaner und Zardaris umsetzen müsse, während „die pakistanischen Soldaten im Swat-Tal tapfer gegen das eigene Volk kämpfen“. Ein 7,5-Milliarden-Dollar-Hilfspaket, das der US-Kongress im September 2009 bewilligt hat, stieß, zur Überraschung vieler in Washington, in Pakistan selbst auf Kritik, denn es enthielt Maßnahmen, die als Stärkung Zardaris betrachtet werden – zulasten des Militärs. Shaheen Sehbai, ein leitender Redakteur der Zeitung International, nannte es Zardaris Problem, „dass er im Inland von allen Seiten belagert ist und nun glaubt, dass nur die Amerikaner ihn retten könnten. Und er wird für sie die Hosen runterlassen.“ Sehbai verweist darauf, dass Kayanis Zeit als Armeechef im Herbst 2010 endet. Sollte Zardari versuchen, ihn schon vorher auszutauschen, würden Kayanis Kollegen das nicht akzeptieren: Ein Coup der Offiziere wäre die Folge. Darum, sagt Sehbai, „sollte sich Amerika mehr um die Struktur und die Organisation der Armee kümmern – und diese intakt halten.“ Generalleutnant Hamid Gul war Ende der achtziger Jahre Generaldirektor von Pakistans militärischem Geheimdienst ISI und hat in dieser Funktion mit der CIA in Afghanistan zusammengearbeitet. Gul, inzwischen aus dem Dienst ausgeschieden, ist gläubiger Muslim und wurde von der Bush-Regierung beschuldigt, Verbindungen zu den Taliban und Al Qaida zu unterhalten. Gul hat das bestritten. Was, so überlegte er während unseres Treffens, „was würde geschehen, wenn ihr in einer Krise versuchen würdet, unsere Zünder zu bekommen – oder wenn ihr sie nicht bekommt? Ihr würdet uns zum Feind haben, und Chinesen und Russen würden hinter uns stehen.“ Wenn pakistanische Offiziere irgendwelche Zusicherungen in Bezug auf das Atomarsenal gegeben hätten, „dann haben sie euch getäuscht, und sie hatten recht, das zu tun. Wir sollten die Amerikaner nicht unterstützen oder begünstigen.“ Zu den Plänen der Obama-Regierung für die Region gehört als wesentliches Element, die pakistanische Armee davon zu überzeugen, dass sie nicht gegen Indien, sondern gegen die Taliban kämpfen müsse. Doch die Feindschaft zwischen Pakistan und Indien besteht seit 1947, als der britische Rückzug aus seiner Kolonie zur Teilung des Subkontinents führte. Der Staat Kaschmir, zu drei Vierteln muslimisch und doch zum hinduistischen Indien geschlagen, war Streitpunkt von Anfang an; zweimal haben Indien und Pakistan um dieses Territorium Krieg geführt. Über lange Jahre haben sich pakistanische Armee und ISI auf Dschihadisten gestützt, die von Pakistan aus operieren, auf Gruppen wie Lashkar-e-Taiba und Jaish-e-Mohammed. Sie vor allem haben in Kaschmir Guerillaaktionen gegen Indien durchgeführt. Viele pakistanische Militärs betrachten diese Gruppen als wichtige strategische Reserve. Ein hoher, inzwischen pensionierter pakistanischer Geheimdienstoffizier, der mit seinen CIA-Kollegen zusammenarbeitete, um Khalid Sheikh Mohammed aufzuspüren, erklärte mir, warum ihn die Vorstellung zutiefst beunruhige, dass Pakistan die Kontrolle über die nukleare Abschreckung aus der Hand geben könnte. „Nehmen Sie an, die Dschihadis schlagen in Indien erneut zu – ein weiteres Attentat auf das Parlament. Indien wird die Vereinigten Staaten auffordern, sich herauszuhalten: Wir werden das auf unsere Weise regeln. Es kommt also zu einem Bodenangriff auf Pakistan. Und sobald wir darauf antworten, werden die Amerikaner daran interessiert sein, unsere Nuklearanlagen zu schützen, und uns drängen, keine Atomwaffen einzusetzen: Lasst die Inder angreifen und reagiert nicht! Stattdessen würden sie uns drängen, die Verantwortlichen für die Anschläge in Indien aufzuspüren. Das Nukleararsenal sollte unser Schutz sein, schließlich aber wären wir diejenigen, die es schützen. Und nicht umgekehrt. Heute glaube ich, dass es besser ist, die Amerikaner zum Feind zu haben als zum Freund, denn wir können euch nicht trauen. Das einzig Gute, was die Vereinigten Staaten für uns getan haben, ist, dass sie die Atombombe ganz anders betrachtet haben, solange es ihnen nutzte.“ Pakistans Befürchtungen, die Vereinigten Staaten könnten mit Indien kooperieren, sind nicht irrational. 2008 hat der Kongress ein umstrittenes Abkommen gebilligt, das es Indien ermöglicht, nukleares Brennmaterial und Nukleartechnologie von den Vereinigten Staaten zu erwerben, ohne dem Atomwaffensperrvertrag beizutreten. Damit wurde Indien zum einzigen Staat, dem dies gestattet wird, ohne dem Vertrag beigetreten zu sein. Die Besorgnisse um das pakistanische Arsenal führten seither zu engerer Zusammenarbeit zwischen den Vereinigten Staaten und Indien, bei der Raketenabwehr, der Ausbildung der indischen Luftwaffe im Einsatz bunkerbrechender Bomben und bei „Sammlung von nachrichtendienstlichen Informationen über das pakistanische Nukleararsenal“ – sagt ein Berater der amerikanischen Intelligence Community. (Das Pentagon verweigerte eine Stellungnahme dazu.) Nach meinem Aufenthalt in Pakistan bin ich nach Neu-Delhi weitergeflogen und habe mich dort mit zwei hohen Beamten des indischen nationalen Geheimdienstes, dem Research and Analysis Wing, getroffen. (Nicht anders als in Pakistan kann auch hier keine Behauptung über die Gegenseite für bare Münze genommen werden.) „Unsere Besorgnisse“, so einer meiner Gesprächspartner, „gelten den Atomwaffen in Pakistan. Nicht, weil wir befürchten, dass die Mullahs die Macht in diesem Land übernehmen könnten; sie gelten vielmehr den hohen Offiziere in der pakistanischen Armee, die sich als Kalifen verstehen (als Anhänger eines fundamentalistischen panislamischen Staats). Wir kennen einige von ihnen, auch namentlich. Wir haben einige Obristen im Auge, die inzwischen zu Brigadiers wurden. Das sind Kerle, die die ganze Welt erpressen könnten (indem sie eine Atomwaffe in ihre Gewalt bringen). Wissen wir, ob auch die Amerikaner über solche Erkenntnisse verfügen? Das ist nicht die Art, in der ihr Amerikaner die Dinge betrachtet. Kayani ist ein prima Kerl. Lasst uns mit ihm und seinen Kameraden einen trinken und eine Zigarre rauchen. Einige der Männer, die wir im Blick haben, würden nur zu gerne eine islamistische Armee führen.“ Am Nachmittag darauf traf ich einen indischen Beamten, der seit Jahren mit Pakistan auf diplomatischer Ebene verhandelt hat. Er sagte mir: „Pakistan steckt in Schwierigkeiten. Und das beunruhigt uns, denn ein instabiles Pakistan ist das Schlimmste, was uns blühen kann.“ Er war sich unsicher, was Amerika tun könne. „In Pakistan lieben sie uns mehr als euch Amerikaner. Ich bin sicher, dass wir, Indien, euch in einer Meinungsumfrage schlagen würden.“ Indien und Pakistan stünden seit Jahren in inoffiziellen Verhandlungen, um den Zwist um Kaschmir beizulegen, doch „Pakistan will Verhandlungen um der Verhandlung willen, und es hält sich nicht an die Vereinbarungen, die bereits getroffen wurden.“ (Ende Oktober 2009 erneuerte der indische Premierminister Manmohan Singh das Gesprächsangebot öffentlich, verband dies allerdings mit der Bedingung, dass Pakistan den Terrorismus zerschlage; in einer offiziellen Antwort begrüßte Pakistan das Gesprächsangebot.) Wie seine pakistanischen Kollegen war auch der Inder überzeugt, dass die Amerikaner nicht zu schätzen wüssten, was seine Regierung für sie getan habe. „Warum haben die Pakistanis denn zwei Divisionen von der Grenze zu uns abgezogen?“ Seine Frage bezog sich auf pakistanische Truppenverlegungen, die auf amerikanisches Betreiben in Stellungen gegen die Taliban gebracht wurden. „Das heißt, sie vertrauen darauf, dass wir diese neue Lage nicht ausnutzen werden. Wir hätten verdient, dass man uns dafür auf die Schulter klopft. Aber, sagte er achselzuckend, ihr seid viel zu besorgt um eure Beziehung zu Pakistan.“ Der ehemalige pakistanische Präsident Pervez Musharraf lebt mit seiner Frau in einem bescheidenen Exil, in einer Wohnung nahe dem Hyde Park. Regierungsleute, die mit ihm zu tun hatten, warnten mich davor, dass er, von vielen Fehlern abgesehen, auch von entwaffnender Offenheit sei. Zu Beginn unseres Gesprächs fragte ich ihn, warum er sich im Januar 2009, während seines Besuchs in Washington, nicht auch mit höheren Vertretern der Obama-Regierung getroffen habe. Er antwortete: „Ich habe nicht um ein Treffen gebeten, weil ich fürchten musste, ein Nein zu hören.“ Später sagte Musharraf, der mich leger gekleidet, in Freizeithose und Sporthemd, empfing, ihn habe beunruhigt, dass von den Amerikanern gelenkte Predator-Drohnen Ziele innerhalb Pakistans angegriffen hätten; 2005 habe das begonnen. „Ich sagte den Amerikanern: Überlasst uns die Predators. Das wurde abgelehnt. Ich sagte den Amerikanern: Dann erklärt wenigstens öffentlich, dass ihr sie uns geben werdet. Ihr schießt sie weiter ab, verseht sie aber mit pakistanischen Hoheitszeichen. Auch das wurde abgelehnt.“ Musharraf, der im August 2008 unter Androhung einer förmlichen Amtsenthebung aus dem Amt gedrängt wurde, schonte seinen Nachfolger nicht. „Asif Zardari ist ein Verbrecher und Betrüger. Er wird alles tun, um seine Haut zu retten. Er ist kein Patriot und er empfindet keine Liebe für Pakistan. Er ist ein schlechter Mann.“ Wie Musharraf erklärte, stünden er und General Kayani, der sein Kandidat für den Posten des Armeechefs gewesen sei, noch immer in telefonischem Kontakt. Musharraf kam 1999 durch einen Militärputsch an die Macht, und er trug seine Uniform bis fast zum Schluss seiner Präsidentschaft. Wie er mir sagte, glaubt er nicht daran, dass die Armee zu einer Meuterei fähig wäre – jedenfalls nicht die Armee, die er kenne. „Es gibt in der Armee Männer mit fundamentalistischen Ideen, doch ich denke nicht, dass diese Leute in der Lage sind, sich zu organisieren und einen Aufstand zu beginnen. Diese ‚Fundis‘ waren unbeliebt und nicht populär.“ Außerdem hielten Muslime „viel von Obama, und er sollte nutzen, dass er akzeptiert wird. Auch die Taliban sollte er einbeziehen und politisch mit ihnen verhandeln.“ Musharraf erzählte von zwei früheren Versuchen, eine fundamentalistische Erhebung in der Armee zu organisieren. In beiden Fällen seien die beteiligten Offiziere verhaftet und vor Gericht gestellt worden. „Ich habe die strategische Truppe aufgebaut, die alle strategischen Trümpfe überwacht – zwischen achtzehn- und zwanzigtausend Mann. Sie wurden auf charakterliche Eignung und fundamentalistische Neigungen überprüft.“ Natürlich hätten die Dinge sich verändert, seit er aus dem Amt geschieden sei. Heute hätten die Menschen Angst „wegen der Taliban und dem, was sie getan haben. Alle sind nun beunruhigt.“ Die wachsende Militanz ist ein heikles Thema, und viele Pakistaner halten die Ängste der Amerikaner und die von ihnen unterstellte Bedrohung des Atomarsenals für überzogen. Amélie Blom, Politikwissenschaftlerin und Soziologin an der University of Management Sciences in Lahore, hält es für bemerkenswert, dass die Armee einen unbeliebten Präsidenten wie Zardari noch immer unterstützt. In einer E-Mail schreibt sie: „Wenn die Koalitionsregierung Bestand hat, zeigt dies, dass die gegenwärtige Armeeführung Interesse daran hat, dass sie funktionsfähig bleibt.“ Andere beruhigt das nicht. „Atomwaffen sind nur so sicher wie die Menschen, die sie handhaben.“ Das sagte Pervez Hoodbhoy, ein in Pakistan bekannter Atomphysiker, während eines Forums zur Atompolitik, im vergangenen Sommer in Washington. Seit über zwei Jahrzehnten, führte Hoodbhoy aus, „hat die pakistanische Armee auf Grundlage der Treue zum Islam rekrutiert. Infolgedessen gibt es nun unter den Armeeoffizieren und einfachen Soldaten einen anderen Charakter. Es gibt ein halbes Dutzend Szenarien, die man sich vorstellen kann.“ Doch dafür, dass das unheilvollste Szenario realisiert wird, gebe es keinen Beweis, so wenig wie dafür, dass das Arsenal sicher ist. Die gegenwärtige Offensive in Süd-Waziristan ist ein bedeutsamer Erfolg der Regierung Obama: Sie hat Zardari gedrängt, die Kontrolle über die Stammesgebiete auszudehnen. Das war nicht ohne Risiko – die Kämpfe könnten zur weiteren Radikalisierung Pakistans führen. Seit die Offensive in Waziristan angekündigt wurde, wurden in einem Dutzend Terrorüberfällen über dreihundert Menschen ermordet. „Wenn wir den Druck dort zu sehr erhöhen“, so der Sicherheitsberater, „können wir eine soziale Revolution auslösen. Wir kommen dort in Al Qaidas Revier. Wenn wir es bombardieren, könnten sie kommen und sich ein, zwei Bomben holen. Die pakistanischen Militärs wissen, dass jede Art von Instabilität zu einem Chaos führen wird, das sie ihre Atombomben kosten kann.“ Jede weitere Eskalation in Pakistan „bringt uns an den Rand des Abgrunds“. Während meines Aufenthalts in Pakistan – dem ersten seit fünf Jahren – gab es unübersehbar Zeichen dafür, wie Militanz und Einfluss des fundamentalistischen Islam gewachsen sind. Früher stellten Offiziere, Politiker und Journalisten einen Johnnie Walker Black Label auf den Tisch und tranken auch selbst mit. Diesmal haben mir auch höchstrangige pensionierte Armeegeneräle allenfalls Saft oder Tee angeboten, selbst wenn wir uns in ihrer Wohnung trafen. Von Regierungsmitarbeitern und Journalisten hörte ich, dass Soldaten und Offiziere der mittleren Ränge zunehmend angezogen würden von den Predigten eines Zaid Hamid – eines Mannes, der sich den Mudschaheddin angeschlossen und neun Jahre in Afghanistan gekämpft hat. Auf CDs und im Fernsehen mahnt Hamid die Soldaten, sich als Muslime zu betrachten und erst in zweiter Linie als Pakistanis. Er behauptet, die Terroranschläge in Mumbai 2008 seien das Werk von Indern und westlichen Zionisten, unterstützt vom Mossad. Dr. Israr Ahmed, ebenfalls ein Proselytenmacher, hat eine regelmäßige Kolumne in der Urdu-Presse, in der er den Holocaust als „göttliches Strafgericht“ hinstellt und die Auslöschung der Juden befürwortet. Auch er soll im Offizierskorps beliebt sein. Ein leitender Mitarbeiter der Regierung Obama brachte die Rede auf Hizb ut-Tahrir, eine sunnitische Organisation, deren Ziel die Gründung eines Kalifats ist. Diese Gruppe habe „das pakistanische Militär durchsetzt und unterhält Zellen in der Armee“. (Deren Führung bestreitet das.) In einem Fall, so dieser Beamte, habe Hizb ut-Tahrir an der hochelitären pakistanischen Militärakademie eine Gruppe jüngerer Offiziere, die zu ihrer weiteren Ausbildung nach England geschickt worden war, für sich gewonnen. „Wo werden diese Kerle sozialisiert, wo der Heilslehre des Islam und der fundamentalistischen Botschaft ausgesetzt? In den Freitagsgottesdiensten für Armeeoffiziere, im Korps und auf Treffen ihrer Einheiten, wo sie von höheren Offizieren und Geistlichen angesprochen werden.“ Übersetzung: Klaus Binder

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