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() Frank A. Meyer
Welchen Kapitalismus wollen wir?

Der Fall der Wall Street ist auch das Ende der fatalen Wirtschaftsreligion mit dem Leitsatz "Alle Macht dem Markt". Diese Entwicklung kann für die Demokratie zu einer positiven Zeitenwende werden.

Bildergalerie: Chronik der Finanzkrise Lesen Sie auch: Dossier Die Demokratie-Debatte Ali Arbia: Erklärungen zur Finanzkrise: Häufig gestellte Fragen Werbeslogans und die Finanzkrise: Unfreiwillig komisches Fast zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer in Berlin fällt nun eine Mauer in New York: die Wall Street. Auch die Wall Street hielt Menschen gefangen: in einer Geldideologie, die sich in ein Glaubensbekenntnis verwandelt hat, ja in eine Wirtschaftsreligion. Wie ein Geschwür wucherte sie in den Köpfen von Managern, Politikern, Publizisten und Professoren. Das Konstrukt firmierte unter verschiedenen Begriffen wie Marktradikalismus, Neoliberalismus, Ultraliberalismus, hatte aber stets dieselbe Kernbotschaft: Alle Macht dem Markt. Dazu musste die Macht zunächst dem Staat entwunden werden: Denn der Staat ist des Teufels, im Markt dagegen haust Gott. Das angestrebte Ziel: Nachtwächterstaat statt Sozialstaat! Entsprechend klang das Vokabular: Die „unsichtbare Hand des Marktes“ waltet über dem Wirtschaftsgeschehen, „belohnt“ die Guten und „bestraft“ die Sünder. Im Markt liegen die Kraft und die Herrlichkeit – offenbar in Ewigkeit, denn auch jetzt, wo die Finanzkrise das Marktversagen offenkundig macht, murmeln die Fundamentalisten unablässig ihr Mantra von den „Selbstheilungskräften des Marktes“. Einst predigten die Marxisten den Glauben an die Allmacht des Staates. Die Analogie von Ultraliberalismus und Marxismus ist unverkennbar – nur die Vorzeichen sind umgekehrt: Marktismus statt Marxismus. Wie der Marxismus den klassenbewussten Proletarier, so propagiert auch der Marktismus einen neuen Menschen: den „homo œconomicus“, den ganz seinem wirtschaftlichen Wohlergehen verfallenen „Marktteilnehmer“. Die simple Lehre gipfelt in dem Paradox: Egoismus ist Altruismus – wenn jeder nur an sich denkt, ist an alle gedacht. Auf die Gesellschaft als Ganzes übertragen bedeutet das: Der Tisch der Wohlhabenden und Reichen und Superreichen ist üppig gedeckt; beim Verzehr ihres lukullischen Mahls fallen genügend Reste vom Tisch – für die einfachen Menschen, die unter dem Tisch hocken. Seit Reagan und Thatcher eroberte der Ultraliberalismus die westliche Zivilisation: in den USA und Großbritannien ökonomisch, was die angelsächsische Welt heute zum Epizen-trum der Finanzkatastrophe macht; auf dem europäischen Kontinent geistig, was sich in einem anhaltenden Abgesang auf den Staat ausdrückte. Die ultraliberale Staatsfeindschaft richtet sich nicht etwa gegen autoritäre Regime wie China oder die Pinochet-Diktatur der siebziger Jahre in Chile, die vom Markt-Papst Milton Friedman persönlich beraten wurde – sondern gegen den bürgerlich-demokratischen Staat.

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