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() Roger Kusch und die verstorbene Bettina S.
Stirb ökonomisch!

Deutschland hat einen neuen Sterbehelfer von eigenen Gnaden. Roger Kusch propagiert die Tötung auf Verlangen. Wohin deren Legalisierung führt, zeigt die Entwicklung in den Niederlanden. Dort ist eine Tötungsindustrie entstanden.

Mehr zum Thema: Alexander Görlach: Seliger Tod Julian Nida-Rümelin: Leben und töten lassen Robert Spaemann: Wider die Totmacher Es ist vollbracht“, seufzte Gesundheitsministerin Els Borst im Parlament von Den Haag mit bebender Stimme in die Mikrofone. Nach 25 Jahren hochkontroverser Debatte war das Gesetz für die „Tötung auf Verlangen“ unter Dach. Seitdem dürfen Ärzte in den Niederlanden töten, ohne sich dafür vor Gericht verantworten zu müssen. Die Niederländer ernteten überall in Europa Beifall für ihr mutiges Projekt. Die wache kleine Nation der Händler und Deichbauer hatte der Welt wieder mal gezeigt, wie man Vernunft mit Barmherzigkeit und christliche Moral mit einem zeitgemäßen Menschenbild in Einklang bringt. Nach sechs Jahren ist es Zeit zu bilanzieren. Das Resultat vorweg: Es ist kein gutes Gesetz. Der Medizinethiker Fuat Oduncu, Oberarzt an der Münchner Universitätsklinik und Autor des Buches „In Würde sterben“, der jahrelang die Handhabung der Sterbehilfe in holländischen Krankenhäusern beobachtet hat, sagt, der niederländische Staat könne und wolle die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften nicht überwachen. Deshalb würden sie massenhaft gebrochen. Trotzdem haben Belgien und Luxemburg den Haager Sterbehilfekodex im Wesentlichen übernommen. Der Europarat lehnte dagegen 2005 eine Variation des Modells mit 138 zu 26 Stimmen ab. Vor allem weil die Mehrheit meinte, dass es Werte zerstöre, ohne sie durch neue Werte zu ersetzen. Mitentscheidend für die Ablehnung war die Furcht vor der Ökonomisierung des Sterbens, also vor dem Zwang zum „sozialverträglichen Frühableben“, wie es Karsten Vilmar, der ehemalige Chef der Bundesärztekammer ironisch nannte. Der Mensch soll auch künftig abtreten, wenn seine Zeit gekommen ist, und nicht, wenn es wirtschaftlich sinnvoll erscheint, weil er für die Gesellschaft zur Ballastexistenz wird. Auch im Zeitalter bröckelnder Generationenverträge soll es kein staatlich dekretiertes Optimalsterbealter geben. Der Tod soll auch nicht an die Lebensqualität gekoppelt werden. Was offenbar nur wenigen Euthanasie-Befürwortern bewusst wird: Von dem Versuch, lebenswertes Leben zu definieren, ist es nur ein kleiner Schritt zur Nazi-Ideologie, die die Vernichtung von „nicht lebenswertem“ Leben rechtfertigte. Man dürfe sich „nicht vom Gesichtspunkt einer Mitleidsethik bestimmen lassen, sondern nur von der Verantwortung für die Folgen“, hat der jüdische Moralphilosoph Hans Jonas über die Euthanasie gesagt. Was sich da auftue, „an kumulativer Gewöhnung an den Gedanken und die Praxis des Tötens, das ist unabsehbar.“ In Holland ist es absehbar. Ja, doch, die ärztliche Lizenz zum Töten ist an strenge Bedingungen geknüpft. Das Leiden des Patienten muss unerträglich sein. Er darf keine Aussicht auf ein „gutes Leben“ mehr haben, und er muss seinen Todeswunsch bewusst und aus freiem Willen gefasst haben. Er braucht nicht sterbenskrank zu sein. „Lijden aan het leven“, das reicht als Begründung. Wer am Leben leidet, darf es legitim beenden. Vor dem Vollzug hat sich der ausführende Arzt mit einem Kollegen zu beraten. Für den Fall, dass bei der Abwicklung Unregelmäßigkeiten aufgetreten sind, soll er sich vor einem „ethischen Gericht“ verantworten. Nach dem Haager Sterbehilfegesetz müssen alle gemeldeten Euthanasiefälle von fünf Regionalkommissionen überprüft werden. Doch die Sterbekommissare haben nicht viel mehr als eine Alibifunktion. Es ist nicht bekannt geworden, dass sie auch nur an einem einzigen Fall ernsthaft Anstoß genommen hätten. Was nicht verwunderlich ist bei einer durchschnittlichen Prüfungsdauer von vier Minuten pro Fall. Die staatliche Aufsicht über die Sterbehilfe orientiert sich am Gedogen-Prinzip. Gedogen ist eine Art vorauseilende Amnestie für alle Lebenslagen. Es bedeutet so viel wie: geduldet, vergessen, Schwamm drüber. An Hauswände pinkeln, ohne Licht Rad fahren, harte Drogen nehmen, das ist alles verboten. Aber wenn man es nicht zu oft tut, drückt die Polizei beide Augen zu. Das Prinzip „gedogen“ gilt auch im Sterberecht. Die Toleranz fällt Vaderdje Staat hier besonders leicht, weil ihm Verstöße gar nicht zur Kenntnis gebracht werden. Die Ärzte sind zwar verpflichtet, jeden Fall von aktiver Sterbehilfe zu melden. Aber die meisten kommen ihrer Meldepflicht nicht nach. Nach ärzteamtlichen Angaben werden in den Niederlanden über 2000 Patienten jährlich durch Injektionen oder Überdosen von Medikamenten, also aktiv getötet. Die Dunkelziffer liegt vermutlich zwei- bis dreimal so hoch. Die nichtamtlichen Sterbeziffern, die bei anonymen Befragungen von Ärzten herauskommen, sagen mehr aus über die Lage der hippokratischen Ethik in den Niederlanden als die amtlichen. Sie stützen die Annahme, dass sich Teile der niederländischen Medizinerschaft auf den „slippery slope“ begeben haben, wie es im Medizinerjargon heißt, auf den rutschigen Abhang, der zwischen Euthanasie und Mord liegt. Selbstbestimmt leben, selbstbestimmt sterben. Ein guter Slogan. Viele Opfer sterben aber nicht auf eigenes Verlangen, sondern auf das ihrer Lieben. Hauptsächlich weil „die es nicht mehr ertragen“ konnten, wie es in einer Regierungsstudie heißt. Bisweilen natürlich auch, weil Opas Erbe dringend für die Tilgung der Wohnungshypothek benötigt wird. Rund tausend Schwerkranke werden in Holland jedes Jahr ohne ihre Einwilligung getötet. Der Rotterdamer Arzt Karel Gunning hat in dem Fachblatt Der Internist über einen krebskranken alten Mann berichtet, der nach dem Wunsch seiner Frau und seiner Kinder sterben sollte, weil sie ihren Urlaub nicht verschieben wollten. Der Arzt unterschätzte aber die zur Tötung erforderliche Betäubungsmitteldosis, denn als er kam, um den Totenschein auszustellen, saß der alte Herr fröhlich auf der Bettkante. Die Injektion hatte ihn erstmals richtig schmerzfrei gemacht. Was ihn an der Geschichte besonders befremdet habe, schrieb Gunning, sei der zynisch-humorige Ton, in dem der Kollege sie erzählt habe. Der Zynismus würde gut in den früheren Wertekatechismus der ostsibirischen Taiga passen, wo zu Zarenzeiten nutzlose Alte mit Kälberstricken erdrosselt oder im Winter mit Wodka abgefüllt und dann zum Sterben im Eis ausgesetzt wurden. Die Amerikaner nennen den analogen Vorgang in den USA auch „Granny dumping“, was mit „Opa auf den Müll“ nicht zu frei übersetzt ist. Alte Alzheimerkranke werden in einen Nachbarstaat geschafft und dort auf der Straße ausgesetzt, nachdem man ihnen die Ausweispapiere abgenommen und die Etiketten aus der Jacke herausgetrennt hat. Staatsanwälte zeigen kein Interesse an den brachialen Regelbrüchen der niederländischen Ärzte. In all den Jahren ist kein einziger Mediziner wegen Euthanasie angeklagt worden. Nur einer handelte sich eine Geldstrafe ein. Nicht wegen Mordes, sondern wegen Urkundenfälschung, weil er eine Patientin mit Phenobarbital umgebracht und dann „natürlicher Tod“ auf den Totenschein geschrieben hatte. Über Drei viertel der Niederländer stehen hinter der schleichenden Umwertung des fünften Gebotes. Das hindert viele von ihnen nicht daran, für alle Fälle eine „Credo Card“ im Portemonnaie bei sich zu tragen, in die der Spruch eingestanzt ist: „Maak mij niet dood, dokter.“ Die Vorsichtigen in den grenznahen Gebieten ziehen sich zum Lebensende in Altersheime nach Deutschland zurück, weil sie meinen, da vor unerwünschter Entsorgung sicher zu sein. Die „Niederländische Vereinigung für ein Freiwilliges Lebensende“ (NVVE), in der rund 100000 Holländer organisiert sind, will noch mehr: das Recht auf die freie Wahl des Lebensendes für alle erwachsenen Bürger, unabhängig von ihrem Alter und von ihrem Gesundheitszustand. Jeder soll selbst entscheiden dürfen, wann er Schluss machen will, weil er genug hat vom Leben. Dabei soll sich der Staat nicht einmischen. Also: Freier Tod für freie Bürger. Die NVVE fordert die Freigabe der „Pill van Drion“, die nach dem Amsterdamer Richter Huib van Drion benannt ist, dem prominentesten niederländischen Vorkämpfer für das Recht auf Sterben. Drion selbst brauchte keine Drion-Pille. Er starb im Alter von 86 Jahren ganz friedlich und unmissionarisch im Schlaf. Weil er etwas hatte, was den verzweifelten Menschen fehlt, die sich todkrank der eiskalten Nächstenliebe ihres Hausarztes ergeben müssen: menschliche Zuwendung. Menschen, die nicht allein sind und Schmerzen nicht fürchten müssen, sehnten sich nicht nach dem Gnadentod, sagt Fuat Oduncu. Er bezweifelt, dass zur totalen körperlichen und seelischen Autonomie das Recht auf Selbstmord gehört. Die moderne Palliativmedizin könne fast jeden Patienten von Schmerzen befreien. Seit Oduncu als Krebsarzt im Münchner Klinikum arbeitet, hat ihn niemals ein Tumorpatient um Sterbehilfe gebeten. Kein einziger in dreizehn Jahren. Foto: Picture Alliance

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