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() Kosovos Premierminister Hashim Thaci auf einem Plakat in Pristina
Organhandel im Kosovo: Anatomie eines Gerüchts

Der Vorwurf stammt aus dem Europarat und ist schwerwiegend: Der heutige Regierungschef des Kosovo soll einen illegalen Organhandel betrieben haben. Viele Indizien aber sprechen dagegen.

Die Weltöffentlichkeit ist empört. Die Nachricht vom organisierten Organhandel im Kosovo bestimmt die Schlagzeilen der Zeitungen: „Regierungsboss und Mafiaboss“ heißt es in Österreich; in der Schweiz verdächtigt die Boulevardzeitung Blick Hashim Thaçi, den im vergangenen Dezember gewählten Premierminister des Kosovo, ein „Menschenschlachter“ zu sein, und sieht in der Anerkennung des Landes einen Fehler. Die weltweite Empörung ausgelöst hat Dick Marty, der Vorsitzende der Europarat-Menschenrechtskommission. Der Mann, der 2005 enthüllte, dass die CIA Terrorverdächtige aus Europa in Geheimgefängnisse entführte. Martys Vertrauensvorschuss ist daher sehr groß. Diesmal legt der Schweizer einen Bericht vor, in dem er schwere Vorwürfe gegen die kosovarische Befreiungsarmee UCK erhebt. Sie soll nach dem Ende des Krieges gegen Serbien im Juni 1999 Menschen in Folterlager nach Albanien entführt haben, manche von ihnen seien dort ermordet und ihre Nieren verkauft worden. In diesen Organhandel, behauptet Marty, sei sogar die höchste Staatsspitze der kosovarischen Regierung, namentlich der gerade gewählte Premier Hashim Thaçi, verwickelt, die bis heute enge Kontakte zur Organisierten Kriminalität unterhalte. Thaçi hat die massiven Anschuldigungen stets vehement zurückgewiesen, Dick Marty der Lüge bezichtigt, ihn mit Goebbels verglichen und juristische Schritte gegen den Sonderberichterstatter angedroht. In Thaçis wütender Reaktion sehen einige Beobachter bereits das Indiz für ein Schuldeingeständnis. Die meisten Kosovaren hingegen empören sich über Martys unbewiesene Anschuldigungen. Einiges deutet jedenfalls darauf hin, dass der ehemalige Mafia-Ermittler Marty auf dem Balkan einer politischen Intrige aufgesessen sein könnte. Martys Anschuldigungen sind nicht neu. Vor einigen Jahren hatten bereits die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch und Carla Del Ponte, die frühere Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs für die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien, ähnliche Vorwürfe erhoben. Das Szenario, das Del Ponte schilderte, ist gruselig: Etwa 300 entführte Serben seien in ein gelbes Haus im albanischen Dorf Rripe gebracht und dort ermordet worden. Anschließend hätte man ihnen die Organe entnommen. Das UN-Ermittlerteam, das dort 2004 nach ersten Untersuchungen durch Del Ponte zusammen mit zwei Journalisten recherchierte, fand einem BBC-Bericht zufolge im Abfallhaufen hinter dem Haus Spritzen, Medikamente sowie Blutspuren im Haus. Die albanische Familie erklärte das damit, dass der Arzt selten im abgelegenen Örtchen erscheine und der kranke Großvater daher von ihnen selbst verarztet werden müsse. Tatsächlich befanden die UN-Ermittler die Spurenlage für so dünn, dass sie die Ermittlungen wieder einstellten. Del Ponte hingegen behauptet, in Wirklichkeit seien die Ermittlungen von der internationalen Staatengemeinschaft erstickt worden, um das politische Konstrukt Kosovo stabil zu halten. Der serbische Sonderstaatsanwalt für Kriegsverbrechen, Vladimir Vukevi, stützt diese Behauptung. Die UN-Schutztruppe habe die Ermittlungen aus politischen Gründen vereitelt, sagt er – fehlende Seiten im Bericht sowie das aufgefundene Antibiotikum seien eindeutige Hinweise für Organhandel. Dick Marty hat nun Del Pontes Verdacht in seinem Bericht präzisiert. Darin heißt es, das gelbe Haus in Rripe sei nur eine Zwischenstation gewesen, eines von sechs Gefangenenlagern, in denen die UCK gefoltert habe. „Meine Quellen sagen mir, die Organentnahme hat im Ort Fushe-Kruje stattgefunden, nahe dem Flughafen Tirana.“ Und im Gegensatz zu Del Ponte spricht er „nur“ von wenigen Fällen. In Rripe seien zwar kosovarische Serben ermordet worden, gleichzeitig aber habe hier auch eine Selektion unter den kräftigsten und gesündesten Gefangenen stattgefunden. Sie seien relativ gut behandelt, nicht geschlagen worden und hätten ausreichend zu essen bekommen. Allerdings habe man ihnen in Rripe Blut- und Gewebeproben abgenommen und sie anschließend nach Fushe-Kruje gebracht. Dort habe man sie ermordet, ihnen die Nieren entnommen und diese über den Flughafen abtransportiert. „Unsinn“, sagt ein hoher Funktionär der albanischen Sozialisten empört. „Dazu muss man sich nur einmal überlegen, wie die Situation damals aussah!“ Im Juni 1999 waren über 600000 kosovarische Flüchtlinge im Land, der Flughafen war unter Kontrolle der Amerikaner, die Straßen unglaublich schlecht. Er breitet die Arme aus, zeigt auf die vollen Tische im Café Austria in Tirana. „Das ist unser Nationalsport: reden. Über alles, vom Sport über die Politik bis hin zu Waffenhandel. Glauben Sie, da ließe sich Organhandel geheim halten?“ Er zweifelt stark an Martys Vermutungen. Denn 1999 waren sieben Länder auf dem Balkan in Kriege verwickelt oder daraus hervorgegangen. Alles sei damals möglich gewesen, räumt er ein: Waffen-, Drogen- und Menschenhandel. Der Kosovo war eine der Haupttransitstrecken für all das. Doch Organhandel, und insbesonde die Version, die Marty schildert, hält er für unmöglich. Nicht zuletzt, weil das US-Militär den Zugang zum Flughafen Tirana mit Straßenkontrollpunkten sicherte. Während des Krieges war dort die „Task Force Hawk“ stationiert, eine Einheit aus Kampfhubschraubern, Artillerie, Instandsetzungseinheiten und Spezialisten für psychologische Kriegführung. Nach dem Krieg landeten fast im Stundentakt riesige C-130-Transporter, die humanitäre Hilfe der Nato für den Kosovo transportierten. Aus Angst vor Vergeltungsschlägen serbischer Extremisten sicherten Soldaten das Gelände weiträumig ab – wer immer etwas zum Flughafen bringen wollte, musste an ihnen vorbei. Das müsse nicht unbedingt ein Hinderungsgrund gewesen sein, erwidert Dick Marty. „Meine Quellen haben berichtet, wie UCK-Transporte an Nato-Checkpoints systematisch ohne Kontrolle durchgewunken wurden. Ich selbst bin in der Zeit als Mitglied einer schweizerischen Delegation auf dem Flughafen Tirana gelandet und von dort nach Inspektion schweizerischer Hilfsmaßnahmen vor Ort wieder abgeflogen. Kontrollen haben nicht stattgefunden. Dafür war das allgemeine Chaos mit den Händen zu greifen.“ Die einzige Möglichkeit, die Nieren ins Ausland zu schmuggeln, wäre der Flughafen gewesen. Doch die Nato-Einheit AFOR kontrollierte auch den Luftraum, um die humanitären Maßnahmen zu leiten. In ihrer Statistik tauchen nur 33 medizinische Rettungsflüge auf, mit denen Verletzte außer Landes gebracht wurden: Flüchtlinge, NGO-Mitarbeiter, albanische Soldaten und Zivilisten. Hätten sie einen Beutel mit Organen dabei gehabt, wäre das aufgefallen. Lesen Sie im nächsten Teil, wie schon während des Bosnienkrieges Gerüchte über Organhandel gestreut wurden.

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