Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
() Klick!
Die Macht der Inszenierung

Zeitungsfotos und Nachrichtenfilme sind immer häufiger mit Symbolik aufgeladene Inszenierungen.

Die Palästinensergebiete bewohnen exklusiv alte Frauen und kleine Kinder. Beide stehen regelmäßig unter Schock. Die Kinder schreien wegen der Kriegsverletzungen, die sie eben erlitten haben oder denen sie nur knapp entgangen sind; den alten Frauen bleibt nur Weinen und Klagen und der Ausdruck von Ohnmacht angesichts der Kriegsereignisse, die sie schon ihr Leben lang verfolgen. So lief es auch im Südlibanon, als Israel die Hisbollah aus ihren Stellungen zu verjagen versuchte, die gut für Attacken auf Nordisrael taugen. Israel, hat man gesagt, verlor hier zum ersten Mal einen Krieg, und zwar wegen der Bilder, jener Bilder von klagenden alten Frauen und weinenden Kindern inmitten der Kriegsruinen, Bilder, die der Öffentlichkeit in der Ersten Welt so zusetzten, dass sie auf Nachgeben und Waffenstillstand drängte. Klar, man sah auch die Fighter von Hisbollah und Hamas, dramatisch uniformiert und entschlossen in Kolonnen marschierend – aber dann sah man die überlegenen Waffensysteme der Israelis, Panzer, Kampfjets, Raketen, und wusste, wie die Rollen von David und Goliath verteilt sind. Kamen die Kämpfer deutlicher ins Bild, so waren es Jünglinge, womöglich Knaben, die zornig Steine auf die Panzer warfen und Fotos nachzustellen schienen, die der 17. Juni 1953 in Ostberlin oder der Ungarnaufstand 1956 der kollektiven Imagination eingeprägt hat. 1966 stammte das World Press Foto von Kyoichi Sawada. Es zeigt einen kolossalen amerikanischen Panzer, der einen toten Vietcong, an den Füßen mit Seilen festgebunden, hinter sich her schleift. Zur Zeit des Fotos war noch unbekannt, wer den Krieg gewinnt. Der gebildete Bürger erkannte ein anderes berühmtes Motiv aus der Kunstgeschichte (statt des Steine schleudernden David): Achill hat den toten Hektor an seinen Streitwagen gebunden und schleift ihn um Trojas Mauern. Aber zurück zu den Palästinensern. Der zornige junge David eignet sich auch zur Darstellung der sogenannten „arabischen Straße“, ein anderes festes Bildmotiv. Zuweilen ortet ihn die Kamera als vereinzelten Performer, der vor einer Fotografenhorde seinen Akt aufführt, die Palästinenserflagge schwingt, als wäre sie ein magisches Schwert, gegen das kein Kraut gewachsen ist. Dann verhärtet sich der Verdacht, dass uns hier gestellte Fotografien verkauft werden sollen, keine spontanen Abdrücke einer tragischen Wirklichkeit. Als Inbegriff eines solchen Abdrucks gilt Robert Capas Foto aus dem spanischen Bürgerkrieg 1936, auf dem einen Kämpfer für die Republik in dem Augenblick eine Kugel erwischt, da der Fotograf auf den Auslöser drückt; eine Ikone der Kriegsfotografie. Das Foto von dem Knaben, der sich vergeblich mit seinem Vater an einer Mauer vor dem israelischen Kugelhagel zu schützen versucht, brachte es ebenso zum Ikonenstatus. In der arabischen Welt wurde dieses Motiv auf Briefmarken gedruckt. Den Namen des Jungen, Mohammed al-Durrah, tragen Straßen und Plätze. Wie von selbst tritt der verzweifelte Knabe in dieselbe Bilderreihe ein wie das schreiende vietnamesische Mädchen, das splitternackt vor dem amerikanischen Napalmangriff auf sein Dorf flüchtet, schwer verbrannt. Das Foto sagte, was unterdessen alle diese Bilder aus Kriegsgebieten mitteilen: dass unter den Kampfhandlungen vor allem die Zivilbevölkerung leidet, insbesondere die Kinder. Mehr braucht die Öffentlichkeit nicht zu bedenken. Was Mohammed al-Durrah betrifft, so entwickelten sich unterdessen anhaltende Zweifel, ob das Bild tatsächlich zeigt, was nach der ursprünglichen Kommentierung – durch das französische Fernsehen – angeblich auf ihnen zu sehen sei. Keineswegs erschießen die israelischen Streitkräfte in voller Absicht einen kleinen Jungen und demütigen tödlich seinen Vater, weil er sein Kind nicht beschützen kann, eine nicht nur in der arabischen Welt grauenhafte Verletzung des männlichen Selbstbildes. Seit diese Zweifel sich ausbreiten, ob tatsächlich die israelischen Streitkräfte Mohammed al-Durrah erschossen haben, berühren sie auch die anderen Bilder aus diesem Kriegsgebiet. Was ist mit dem großväterlichen Helfer im grünen Helm, der im Libanon gesichtet wurde, wie er, erschöpft von der Suche in den Kriegstrümmern – die israelische Bomber hinterlassen hatten –, tote Kinder in die Kameras hält? Findige Blogger fanden etliche Indizien, dass es womöglich gestellte Szenen sind – nicht spontane Verzweiflungsgesten, sondern kalkulierte Posen für die Fotografen. Allerdings sind solche Bilder längst versendet, bevor ihre Authentizität geprüft werden konnte. Stets vermittelt die Kamera den Eindruck, man stecke mitten im Geschehen, das sich spontan vollzieht; erst eine Beobachtung zweiter Ordnung – wenn beispielsweise der Blogger Einzelbilder zusammensetzt – macht die Inszenierung erkennbar. Man kennt gefälschte Fotos mit historischer Tragweite. Insbesondere im Sowjetblock gab es diese notorischen Retuschen, wie Trotzki auf Bildern verschwindet, weil Stalin den Rivalen spurlos entfernen wollte. Diese stalinistischen Retuschetechniken applizierte man noch 1968 auf den Prager Frühling, als der Reformkommunist Alexander Dubcek plötzlich aus dem feierlichen Gruppenfoto mit dem Staatspräsidenten Svoboda und den anderen Repräsentanten verschwand. So stellte sich George Orwell in seinem schwarzen Zukunftsroman „1984“ die Fälschung der Vergangenheit durch einen allmächtigen Staatsapparat vor, der permanent die Quellen verändern lässt. Der Held des Romans, Winston Smith, hat in diesem Sinne alte Zeitungen zu manipulieren, Tag für Tag. Aber wo kommen Tag für Tag die Vorlagen für diese Fälschungen, die unmanipulierten Zeitungen her? fragte ein scharfsinniger Kritiker des Romans, der Schriftsteller Anthony Burgess („Clockwork Orange“), wo werden sie verwahrt, wer hat darauf Zugriff? Im Westen waren die Originale zu den stalinistischen Fälschungen stets präsent und wurden regelmäßig mit ihnen zusammen gezeigt. Die Fälschungen dokumentieren eine im Grunde ohnmächtige und ineffektive Bildpolitik. Der erschöpfte Großvater mit dem toten Kind ist keine plumpe stalinistische Retusche. Die Szene wird mit Einverständnis des Fotografierten inszeniert. Man folgt damit traditionellen Verfahren der bildenden Kunst, der Historienmalerei. Kein Betrachter des entsprechenden Ölbildes nimmt an, dass der tote Revolutionär Marat so in seiner Badewanne gelegen, die Krönung des preußischen Königs -Wilhelm zum deutschen Kaiser sich so abgespielt habe, wie die Maler -Piloty, David, Menzel es zeigen. Ein Gemälde, eine Zeichnung muss zuallererst den Regeln folgen, nach denen man Bilder anfertigt. Aber dann kam die Fotografie, dann das Fernsehen, die uns unverfälscht zeigen, was draußen zu sehen war. Seitdem gibt es keine Schlachtengemälde mehr und pompös inszenierte Marschälle auf Feldherrenhügeln; jedenfalls nicht in der journalistischen Berichterstattung. Das Zeitungsfoto (und der Nachrichtenfilm) suggerieren, „Snapshot“ zu sein. Die berühmte Fotoagentur Magnum machte dies zu ihrem Konzept und hat damit unsere Vorstellungen vom korrekten Pressefoto tief geprägt. Der Fotograf, der Kameramann nehmen als Zeugen an einem Geschehen teil, das spontan und unbeeinflussbar und unwiderstehlich um sie herum abrollt. Der Fotograf in der -Magnum-Tradition achtet darauf, dass er sich dabei stets an den Brennpunkten befindet – Robert Capa trat 1954 im Indochinakrieg beim Fotografieren auf eine Mine. Was die Wahrheitsansprüche dieser Art von Kriegsberichterstattung in alle Ewigkeit zu bekräftigen schien. Zwei der berühmtesten Fotos aus dem Zweiten Weltkrieg sind keine Snapshots in diesem Sinn. Obwohl sie so aussehen und daraus ihre Überzeugungskraft gewannen. Es gibt ein nicht inszeniertes Foto von den Marines, die im Februar 1945 die US-Flagge auf der japanischen Insel Iwo Jima hissten. Es sieht ganz anders aus, als das berühmt gewordene ikonische Foto von Joe Rosenthal, das von dem Denkmal auf dem Washingtoner Friedhof Arlington in Stein und Bronze nachgestellt wird. Ebenso inszeniert ist Jewgenij Chaldejs berühmtes Foto, wie die Sowjetfahne 1945 auf dem Berliner Reichstag aufgepflanzt wird. Das offiziell verbreitete Foto ist darüber hinaus retuschiert: Einer der beiden Helden trug an beiden Handgelenken Armbanduhren – auf keinen Fall aber sollte gezeigt werden, dass die Rote Armee plünderte. Nun steht fest, dass die US-Army Iwo Jima eroberte und ohne Zweifel eroberte die Rote Armee im April 1945 Berlin. Und bei den Angriffen der israelischen Armee auf die Stellungen der Hisbollah kamen kleine Kinder ums Leben. Wenn die Fotos und Fernsehbilder, die diese Nachrichten illustrieren, nicht den Regeln des Snapshot entsprechen, sondern inszeniert sind – was macht das? Tadellos gelingt ihnen ihre Aussage: Soldaten pflanzen unter Todesgefahr ihre Nationalflagge im feindlichen Gebiet auf und dokumentieren so den Sieg. Ebenso sagen die Bilder von Großvater und den Kinderleichen, was sie sagen sollen – wobei uns ein Kunsthistoriker darüber aufklären könnte, welche Pathosformel hier vermutlich im Spiel ist: die Flucht nach Ägypten. Das Jesuskind wurde doch noch Opfer der Schergen des Herodes (die den bethlehemitischen Kindermord verüben), wie die Leiche zeigt, die sein Adoptivvater Joseph fassungslos herzeigt, während Mutter Maria unter den Trümmern liegt. Solche Pathosformeln aus der Kunstgeschichte sind es, die den scheinbar spontanen Fotos und Fernsehbildern der aktuellen Berichterstattung ihre Überzeugungskraft verleihen, wie wir schon an David und Goliath, Hektor und Achilles gesehen haben. Bei allen Bildern von Kindern, die aus politischen Gründen starben, wirkt der bethlehemitische Kindermord mit, Herodes, eine verbrecherische Staatsgewalt. Und die alte Frau, die ohnmächtig die Zerstörung ihrer Stadt beweint, das ist Hekuba, die Frau des Königs Priamus, nachdem die Griechen Troja gestürmt haben und ein Blutbad anrichten. Solche Bildformeln sind unwiderstehlich. Und viele für Bildauswahl zuständige Redakteure sind kunstgeschichtlich gebildet. Die Ikonen geben Halt im endlosen Fluss der Nachrichtenbilder. Dass die Pathosformeln der Kunstgeschichte in die aktuelle politische Berichterstattung hineinregieren, ist vermutlich gar nicht das Problem. Das Problem stellt der dokumentarische Snapshot dar, auf dem sich der Steine schleudernde David, die klagende Hekuba, der Großvater Joseph mit dem toten Jesuskind abbildet. Wenn die Akteure vor der Kamera sich wie Schauspieler oder Models aufführen, entsteht eine neue Situation, die den Snapshot um seinen Wahrheitsgehalt bringt. Das macht eine Beobachtung zweiter Ordnung nötig, die das Inszenierte der Kamerabilder herausarbeitet. Hier leisten die misstrauischen Blogger, wenn sie bei Hamas und Hisbollah und der sogenannten arabischen Straße Hekuba und Väterchen Joseph und den ewig zornigen David entdecken, vorbildliche Arbeit. Dafür zu loben sind ebenso die Fotografen und Kameraleute, die ein wenig zurücktreten und uns den Pulk der Fotografen und Kameraleute zeigen, der Hekuba belagert respektive sich von dem jungen David die Gesten des Zorns vorführen lässt. Unverkennbar hat Hekuba sich dort extra aufgestellt, und David performt wie auf einer Bühne. Die arabische Straße erweist sich, sucht die Kamera einen weiter entfernten Blickpunkt auf, als eine Handvoll fanatisierte Jungmänner. Eben dies wird eine neue Aufgabe für die Kameraarbeit: den Blickpunkt zu finden, der die Beobachtung zweiter Ordnung, die Einsicht in die Inszenierung ermöglicht. Die geschieht immer noch viel zu selten. Besonders auf einem anderen „Kriegsschauplatz“: die tapferen Kämpfer gegen den sogenannten Genmais, die sich in Ganzkörperschutzanzüge geworfen haben, als wirkten sie in einem Hollywoodfilm über das Ebolavirus mit. Die Inszenierung bricht zusammen, sieht man Fotos, die die gesamte Szene zeigen: Fotografen, Polizisten und Schaulustige in normaler Kleidung, ohne jeden Schutz gegen die Kontamination durch den Genmais, die ohnedies nicht droht. Wenn Fotos keinen spontanen Abdruck des entscheidenden Augenblicks liefern, wird die Beschriftung besonders wichtig. Sie kann den Betrachter darüber informieren, dass die Botschaft des Bildes nicht so eindeutig ist wie es scheint. Unser listiger Blogger hat die Texte versammelt, die Großväterchen mit dem grünen Helm und dem toten Jesuskind mehrfach begleiteten: Sie verschwiegen die Inszenierung. Nirgendwo wurde erwähnt, dass das Kind womöglich schon länger tot war, dass es aus dem Krankenwagen wieder herausgeholt wurde zwecks Vorzeigen, dass es plötzlich ein anderes Kind war. Vielleicht war es so, vielleicht war es anders. Eine Bildunterschrift (oder ein Off-Kommentar im Fernsehen), die das Großväterchen als Exemplar der ohnmächtigen Zivilbevölkerung ausweist – statt als Akteur –, führt in die Irre. Snapshots des entscheidenden Augenblicks, der anschaulich die Wahrheit über ein historisches Geschehen enthüllt, gibt es nicht (mehr). Allüberall findet die Kamera Schauspieler, Models und Regisseure. Sie müssen kenntlich gemacht werden. Michael Rutschky ist Soziologe und Essayist. Der Träger des Heinrich-Mann-Preises veröffentlichte zuletzt das Buch „Wie wir Amerikaner wurden“ (Ullstein) (Foto: Picture Alliance)

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.