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() Wolfgang Ischinger
Das WikiLeaks-Paradox

Wer glaubt, die Veröffentlichungen von WikiLeaks führen zu mehr Öffentlichkeit, irrt – das Gegenteil ist der Fall.

Das „Leak“- also die Weitergabe von geheimen oder vertraulichen diplomatischen Dokumenten - ist so alt wie die Diplomatie selbst. Dabei macht es keinen Unterschied, ob dies per Brieftaube, klassisches Chiffrier-Telegramm oder verschlüsselte e-mail via Internet passiert. Manche „Leaks“ sind harmlos, manche tödlich – und einige haben sogar Kriege ausgelöst. Die wichtigste Währung der Diplomatie, das Vertrauen, hat mit der Veröffentlichung der amerikanischen Depeschen einen massiven Wertverlust erlitten. Herfried Münkler hat treffend argumentiert, dass Vertrauen immer an die Möglichkeit des Geheimnisses gebunden ist. In einer Gesellschaft ohne Geheimnisse, einer totalitären Vision, bräuchte man auch kein Vertrauen mehr. Ein verlässlich vertraulicher Informationsaustausch ist für eine erfolgreiche diplomatische Arbeit unabdingbar. So hätte ich beispielsweise während der Irakkrise die vielen Berichte, die aus unserer deutschen Botschaft in Washington nach Berlin gesandt wurden, niemals verantwortlich unterzeichnen können, wenn auf den Geheimstempel kein Verlass gewesen wäre. Natürlich haben meine Botschaftsräte und ich detailliert über Machtkämpfe im Weißen Haus berichtet, um Berlin ein möglichst präzises Bild zu geben, welche Kräfte in der amerikanischen Politik gerade an Einfluss gewannen oder verloren. Diese Berichte mögen nicht immer für alle Beteiligten schmeichelhaft gewesen sein, aber sie waren durchaus von Interesse für die Entscheidungsträger der Bundesregierung. In vielen Hauptstädten, auch in Berlin, weht amerikanischen Botschaften jetzt ein frostiger Wind entgegen. Abgesehen von gelegentlichen Fehleinschätzungen und einzelnen saloppen Persönlichkeitsbeschreibungen – was kann den US- Diplomaten denn konkret vorgeworfen werden? Dass sie sich ihrer Aufgabe umfassender Analyse und Berichterstattung gewidmet haben, und das gar nicht so schlecht? Das ist das WikiLeaks-Paradox: Weil die US-Regierungsressorts zu wenig untereinander kommunizierten und sich deshalb im Anti-Terrorkampf nach 9/11 gegenseitig im Weg standen, vernetzte man sie umfassend miteinander: das Ziel war Effektivität durch Transparenz. Damit schuf Washington aber selbst die technischen Voraussetzungen dafür, dass durch WikiLeaks regierungsinterne Transparenz zu globaler Öffentlichkeit umfunktioniert werden konnte: eine geradezu perverse Form von „public diplomacy“.Die Folge: das WikiLeaks-Ziel, eine Welt totaler und dauerhafter Öffentlichkeit, rückt damit in weite Ferne, weil weniger, nicht mehr Offenheit und mehr , nicht weniger Geheimhaltung in allen Hauptstädten die absehbare Folge sein wird. Quellen werden schweigen, Botschafter werden nur noch das zu hören bekommen, was man gerne in der Zeitung lesen möchte, hochwertige Informationen werden schwerer zu erlangen sein. Um undichte Stellen zu stopfen, wird der Informationsfluss innerhalb der Regierungsapparate reduziert werden. Auslandsvertretungen werden möglicherweise von bestimmten Netzwerken abgeschnitten, Botschafter von Besprechungen der politischen Führung ausgeschlossen. Manche Regierungen könnten in Zukunft eher auf persönliche Sondergesandte als auf den diplomatischen Apparat setzen, um den Kreis der Eingeweihten klein zu halten, und manche könnten sogar so weit gehen, keine Niederschriften bestimmter Gespräche mehr zu erlauben. „Leaks“ erschweren nicht nur den routinemäßigen diplomatischen Verkehr, sondern gefährden die Erfolgschancen bi- und multilateraler Krisen- und Krisenpräventionsdiplomatie. Wie etwa sollen Verhandlungen über das iranische Atomprogramm, die ohnehin schon genug belastet sind durch einen Mangel an gegenseitigem Vertrauen, erfolgreich sein, wenn das Damoklesschwert der Weitergabe geheimer Dokumente über den Diplomaten hängt?

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