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() Wie nah sind sich Europa und die USA noch?
Amerika und Europa: Der nächste Clash of Civilizations?

Amerika und Europa streiten nicht nur über den Krieg im Irak. Die gegenseitige Entfremdung reicht tiefer. Ob Religion, Recht, Tod oder Sex – die gesellschaftlichen Grundfragen werden unterschiedlich betrachtet. Eine Analyse

Lesen Sie auch: Alexander Gauland: Wir sind keine Atlantiker mehr Niall Ferguson: Nicht Bush, Europa ist schuld Kein Zweifel, der Atlantik ist seit dem Krieg im Irak ein erhebliches Stück breiter geworden. Think Tanks und Gruppentherapeuten beugen sich über die transatlantische Familie und überlegen, wie sie zu retten sei. Manche fragen sogar, ob es sich überhaupt noch lohne, sie zu retten. Trotz aller Alarmrufe glaube ich nicht, dass es der Streit um den Irak-Krieg und die Folgen ist, der Europa und die USA auf längere Sicht auseinander bringen wird. Richtiger erscheint mir die Annahme, dass der Irak-Krieg wie ein Vergrößerungsglas gewirkt hat, unter dem ältere und grundsätzlichere Gegensätze zwischen den transatlantischen Partnern sichtbar geworden sind. Aktuelle Stichworte dazu sind: Präventiver Krieg, internationales Recht, Sozialstaat, Kyoto-Protokoll und Umweltschutz, Guantanamo, Todesstrafe, Folter. Aber in der Debatte über diese sozusagen offiziellen „Meinungsverschiedenheiten“ wirken unausgesprochen kulturelle Differenzen mit, die weniger leicht zu fassen sind. Sie betreffen unterschiedliche Einstellungen zu Krieg und Frieden, zur Religion, zum Sex, zum Leben und zum Tod. In der Summe laufen diese Differenzen auf einen Grundsatz-Streit über den gemeinsamen Ausgangspunkt der europäischen und der amerikanischen Zivilisation hinaus. Die USA und Eu­ropa, beide Kinder der Aufklärung, sind offensichtlich uneins darüber, was dieses Erbe im 21. Jahrhundert bedeutet und wer es besser verwaltet. Beginnen wir mit dem Sex: Lassen wir einmal beiseite, dass die Entblößung einer weiblichen Brust in den USA inzwischen mehr Aufregung erzeugt als die Close-ups von einem kunstvoll inszenierten Massaker im Nachmittagsfernsehen, bei dem abgemähte Beine, Arme und Köpfe über den Fernsehschirm fliegen. In Europa schüttelt man den Kopf und versteht diese Art der Freizügigkeit einfach nicht. Schwamm drüber, vive la Difference. Aber spätestens, wenn Sex politisch wird, beginnt der Schlagabtausch. Für einen Europäer ist es unverständlich, dass der sexuelle Fehltritt eines amerikanischen Präsidenten mit einer Praktikantin eine vierzig Millionen Dollar teure Untersuchungskommission auslöst, die fast zum Sturz des Präsidenten führt, während ein anderer Präsident, der die Nation mit erwiesenermaßen falschen Gründen in einen Krieg treibt, ziemlich unbehelligt sagen darf: Es war trotzdem richtig. In einer Demokratie, möchte man denken, sollte eine Fehlansage, die zu einem womöglich überflüssigen Krieg mit Zehntausenden von Toten führt, weit heftigere Folgen haben als eine Lüge über einen sexuellen Fehltritt. Zusammenfassend darf man vielleicht formulieren, dass Sex, wie Religion, für Europäer inzwischen Privatsachen geworden sind, für Amerikaner sind es öffentliche Angelegenheiten. Zur Religion. Die USA sind heute die am tiefsten durch Religion geprägte Gesellschaft unter den westlichen Demokratien. 52 Prozent der Amerikaner geben an, regelmäßig in die Kirche zu gehen, in England sind es etwas über 2 Prozent; in Frankreich, Deutschland und Italien liegt der Prozentsatz unter 10 Prozent. In den USA bekennen 70 Prozent der Befragten, dass sie an Engel glauben, in Europa hält man diese Frage offensichtlich für so absurd, dass man sie nicht einmal stellt. Wichtiger jedoch als die aktuellen Angaben über die Pro­zentzahlen ist die Tendenz der Entwicklung. In den USA ist offensichtlich eine Rechristianisierung, ja eine Remissionierung des zivilen Lebens und auch des Staates im Gange, in Europa schreitet der Prozess der Säkularisierung weiter fort. In den Staaten des so genannten „Bible Belt“, im amerikanischen Midwest und im Süden, kämpfen christliche Sekten mit Erfolg darum, die Evolutionstheorie Darwins an den Schulen durch die christliche Schöpfungsgeschichte zu ersetzen. Die wichtigste Errungenschaft der Aufklärung – die Trennung zwischen Religion und Staat – ist in den USA in Gefahr, in vielen Bereichen des zivilen und staatlichen Lebens außer Kraft gesetzt zu werden. Europa weigert sich dagegen, die Verpflichtung auf das christliche Erbe in die neue Europäische Verfassung zu schreiben. Kommen wir zum Offensichtlichen. Es ist kein Vorurteil, sondern eine durch Umfragen und durch die Erfahrungen der letzten 50 Jahre bestätigte Tatsache, dass Amerikaner eher zum Krieg bereit sind als Europäer. Aber die Trennlinie verläuft keineswegs so klar, wie uns die Vereinfacher auf beiden Seiten des Atlantiks glauben machen. Denn auch in Europa bestreitet nur eine pazifistische Minderheit, dass es notwendige, unausweichliche, gerechtfertigte Kriege gibt – tatsächlich wurden die Interventionen in Bosnien, im Kosovo und in Afghanistan, wenn auch teilweise erst nach langem Zögern, von den Europäern mitgetragen. Das Misstrauen der Europäer gilt der neuen Doktrin eines präventiven und gerechten Krieges. Denn diese Doktrin führt in ein vordemokratisches Denken zurück. Wer behauptet, einen Krieg im Namen der Gerechtigkeit zu führen, ist in Gefahr, ein nationales oder bloß parteipolitisches Interesse mit dem Interesse der ganzen Menschheit zu verwechseln beziehungsweise es als solches auszugeben. Damit ist er auf bestem Wege, eine Grunderkenntnis der Aufklärung in den Wind zu schlagen: Menschliche Urteile und Entscheidungen unterliegen dem Zweifel und sind grundsätzlich fehlbar; diese Fehlbarkeit kann durch keine staatliche, juristische oder religiöse Autorität aufgehoben werden. Das Prinzip der Gewaltenteilung, das dem Egoismus und der Gefahr des Machtmissbrauchs entgegenwirkt, wird durch die Doktrin vom „gerechten“ Krieg praktisch aufgehoben. Der selbst proklamierte Kriegsherr eines „gerechten Krieges“ maßt sich an, gleichzeitig Kriegsherr und Weltenrichter zu sein. Mit entsprechender Empfindlichkeit hat man in Europa auf die Wortwahl reagiert, in der Bush seine Kriegsansage vorgetragen hat. Begriffe wie „Crusade“, „Infinite Justice“, Ansagen eines Kampfes gegen „die Achse des Bösen“, mani­chäische Ausgrenzungen wie „Wer in diesem Kampf nicht auf unserer Seite steht, steht auf der Seite der Terroristen“ – markieren die religiöse Selbsterhöhung einer weltlichen Macht, die im säkularen Europa undenkbar geworden ist. Und war es nicht eben diese Selbsterhöhung, die die Administration Bush / Cheyney / Rumsfeld dazu verführt hat, ihr Land und ihre Alliierten mithilfe von Informationen über Massenvernichtungswaffen, die sich als falsch beziehungsweise als plumpe Fälschungen herausstellten, in den Krieg mit dem Irak zu führen? War es nicht diese Anmaßung, die die Bush-Administration zu der grotesken Fehleinschätzung führte, die irakische Bevölkerung würde „ihre Befreier“ mit Blumen in den Händen begrüßen? Nicht von ungefähr hat diese missionarische Überheblichkeit ein altes Misstrauen der nichtamerikanischen westlichen Welt reaktiviert: gegen die auch in den USA heftig umstrittene Todesstrafe. Wer für die Todesstrafe eintritt, schließt im Prinzip die Möglichkeit des Irrtums aus. Ein irrtümlich Hingerichteter kann bestenfalls posthum rehabilitiert werden. Da es in den USA nachweislich Dutzende von irrtümlich vollstreckten Todesstrafen gibt, bleiben den Anhängern der Todesstrafe nur zwei Fluchtwege übrig: Entweder müssen sie diese Tatsache leugnen, oder sie müssen behaupten, dass solche Irrtümer im Namen einer für die Gemeinschaft lebensnotwendigen Abschreckung in Kauf zu nehmen sind. Die Europäer haben sich in dieser Sache inzwischen eindeutig für das Prinzip des Zweifels und die Anerkennung der Fehlbarkeit menschlicher Entscheidungen entschieden. Für viele Europäer ist die amerikanische Haltung zur Todesstrafe und zur Behandlung von Gefangenen eine einzige Irritation. Das sichtbarste Beispiel ist der Umgang mit den afghanischen Kriegsgefangenen in Guantanamo. Vor den Folter-Fotos aus Abu Ghraib hat wohl nichts dem Image der USA in der nichtamerikanischen Welt so geschadet wie die Bilder der Gefangenen in Guantanamo. Man kann unterstellen, dass kaum ein Europäer Sympathien für Leute hegt, denen man zutrauen muss, bei der nächstbesten sich bietenden Gelegenheit eine möglichst große Anzahl von Zivilisten in die Luft zu sprengen. Aber wie man die Gefangenen dort, in der amerikanischen Basis auf Kuba, gehalten sah, nur durch Drahtgitter gegen Sonne und Regen geschützt, mit Kapuzen über dem Kopf, an Händen und Füßen gefesselt im Trippelschritt oder auf Bahren zum Verhör geführt, sprang das Gefühl um. Vor allem die Tatsache, dass die Vormacht der westlichen Demokratien ihren Gefangenen das Recht auf rechtliches Gehör verweigert, dass der bloße Verdacht genügt, sie jahrelang in Käfigen festzuhalten, hat das Rechtsempfinden der nichtamerikanischen Welt aufgestört. Sah man hier nicht das hässliche Gesicht einer Rache-Gesellschaft, die zweierlei Recht gelten lässt? Und diesen rechtsfreien Status ihrer Gefangenen mithilfe von juristischen Kniffen, die nicht einmal den von Bush eingesetzten Richtern des Supreme Court einleuchten, auch noch triumphierend ausstellt? Denn das Merkwürdige war ja, dass die amerikanischen Kriegsherren die Bilder ihrer gedemütigten Feinde sichtlich voller Stolz der Weltöffentlichkeit präsentierten – und sich die katastrophale Wirkung offenbar gar nicht vorstellen konnten. Ganz so, als stimme die Welt längst mit ihnen im Prinzip überein: Es gibt zweierlei Recht: eines, das „für die Sterblichen“ – die internationale Gemeinschaft – verbindlich ist, ein anderes und höheres Recht, das die einzig verbliebene Supermacht für sich in Anspruch nimmt. Für die schleichende Legitimierung der Folter und die Einführung rechtlicher Doppelstandards trägt die Bush-Administration die Verantwortung. Alles, was in Abu Ghraib geschah, hat in Guantanamo begonnen. Mit der amtlichen Erklärung der Rechtlosigkeit der Gefangenen in Guantanamo war moralisch und auch bürokratisch der Weg zur Folter in den irakischen Gefängnissen freigegeben. Aber es wäre eine Illusion zu glauben, die Legitimierung der Folter sei auf eine späte und heimliche Entscheidung der Fanatiker in der Bush-Administration zurückzuführen. Ich erinnere mich, dass ich vor drei oder vier Jahren einen zweiseitigen Artikel in der New York Times fand. Er wies nach, dass in einem amerikanischen Ausbildungslager im Süden der Vereinigten Staaten Spezialkräfte der US-Armee Offiziere aus El Salvador, Guatemala, Kolumbien und anderen „befreundeten“ Staaten in den Techniken des Folterns und Tötens von Feinden unterrichteten. Aufgeregt wartete ich auf irgendein Nachspiel dieser vermeintlichen „Bombe“ in der wichtigsten Zeitung der Welt. Es gab kein Nachspiel, die amerikanischen Institutionen und das Publikum blätterten zur nächsten Seite um. Donald Rumsfeld und die Seinen haben nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie ihre hochrangigen Gefangenen der Al Qaida in Ländern verhören ließen, in denen die Folter praktiziert wurde. Während der Kriegsmonate, die ich in Washington verbrachte, wurde in den amerikanischen Nachrichten-Medien, besonders in den Fox-News, offen und mit Wonne diskutiert, ob die Exposition solcher Gefangener zu Schlaflosigkeit, extremen Temperaturen oder „Schütteln“ wirklich als Folter zu bezeichnen sei. Und ich habe lange Diskussionen zwischen zivilisierten Herren in Anzug und Krawatte gehört, die ihr Publikum vor folgende Frage stellten: Angenommen, Sie haben einen Terroristen vor sich, der im Verdacht steht, mit seinen Gesinnungsgenossen in den nächsten Stunden eine schmutzige Bombe in New York zur Explosion zu bringen. Was würden Sie tun? Würden Sie lieber den Prinzipien der Genfer Konvention folgen, oder – unter dem Verlust ihres guten Gewissens – diesen Kerl nach allen Regeln der Kunst grillen, bis er sein Geheimnis verrät, und so das Leben von 50 000 Unschuldigen retten? Man muss zugeben: Die Antwort fällt nicht leicht, wenn man so gefragt wird. Kommen wir zum heikelsten Punkt der transatlantischen Entfremdung. Ich nenne ihn den amerikanischen Narzissmus. Wenn man die Marines in Irak bei ihren Raids beobachtet, wie sie mit dem Stiefel die Tür eines irakischen Hauses eintreten, die sich vielleicht auch mithilfe der Klinke öffnen ließe, wie sie den Familienvater zu Boden zwingen, ihm den Stiefel auf den Rücken oder auf den Kopf setzen und sich offenbar nicht vorstellen können, dass sie in den Herzen der Kinder und Frauen des Gedemütigten Hassbilder erzeugen, die ein Leben lang vorhalten, ist man verblüfft. Wie ist dieser katastrophale Mangel an Einfühlungsvermögen und an kultureller Kompetenz zu erklären? Liegt es an fehlender Vorbereitung, an einem Mangel an ortskundigen Übersetzern, an der strikten Ausrichtung der kämpfenden Truppe auf rein militärische Aufgaben? Ähnliche Fragen stellen sich, wenn amerikanische Truppen irrtümlich einen arabischen Journalisten erschießen oder in der Hast des Reagierens ein halbes Dorf in Schutt und Asche legen, weil eine Bombe am Wegrand explodiert ist. Umso wichtiger für den Erfolg einer Besatzungspolitik ist es, die Bevölkerung durch symbolische und materielle Gesten davon zu überzeugen, dass die Besatzer sich nicht für unfehlbar halten und Irrtümer eingestehen. Genau den gegenteiligen Eindruck hat die Bush-Regierung durch ihre Machtsprache nicht nur im Irak erzeugt: Die Supermacht USA kann sich nicht irren und muss sich bei niemandem entschuldigen. Man frage einen Nicht-Amerikaner, was er von dem Urversprechen der amerikanischen Revolution von der Gleichheit aller Menschen hält. Im Zweifelsfall wird er lachen und mit Orwell antworten: Einige sind gleicher. In weiten Teilen der nichtamerikanischen Welt hat sich die Meinung durchgesetzt, dass Amerikanern das Leben eines Amerikaners unendlich viel mehr wert sei als das Leben jedes anderen Erdenbürgers. Ich bin mir sicher, dass die Angehörigen der US-Army, die ich 1945 als Kind in Bayern mit ihren Jeeps einfahren sah, zu einem anderen Typ von Soldaten gehörten als die Berufssoldaten in ihren Marsuniformen, die in Bagdad einrückten. Ich will mir über diesen Unterschied kein Urteil anmaßen, ich weiß nur, dass wir Kinder zu den Besatzern, die uns mit Suppen, Schokolade und mit Chewing Gums verwöhnten, Vertrauen fassten. Im Europa jener Jahre riss sich jeder deutsche oder italienische Soldat darum, in amerikanische Gefangenschaft zu geraten – es ist, soweit ich weiß, kein einziger Fall von Folter bekannt geworden. Ich bezweifle, ob die Soldaten der irakischen Armee jemals – schon vor den Folterbildern – ähnliche Gefühle gegenüber ihren Besatzern hegten. Ich fürchte, die mangelnde kulturelle Vorbereitung der amerikanischen Berufsarmee auf den Nachkrieg hat weit mehr Opfer und mehr Sympathien bei den „Befreiten“ gekostet als der Krieg. Vielleicht ist es an dieser Stelle nötig, eine Errungenschaft der amerikanischen Kultur, um die Europa sie zu Recht beneidet, genauer anzusehen: die „multikulturelle Gesellschaft“. Zweifellos haben die USA die vielfältigste und integrationsfreudigste Kultur der Welt hervorgebracht, und es ist kein Zufall, dass diese Kultur die einzige ist, die universelle Anziehungskraft besitzt. Aber das amerikanische Modell der multikulturellen Gesellschaft erzeugt auch eine Illusion. Da tatsächlich Menschen aus aller Welt in den USA leben, verführt diese Erfahrung zu dem Glauben, man kenne und begreife die Welt, auch wenn man sich nie aus den USA herausbewegt hat. Wer in den USA lebt und aufgewachsen ist, vergisst leicht, dass die „Menschen aus aller Welt“ zunächst einmal Amerikaner werden mussten – eine Bedingung, die die Neu-Amerikaner in aller Regel mit Begeisterung akzeptieren – bevor sie ihre kulturelle Andersartigkeit feiern durften. So kommt es, dass man in den USA eigentlich immer nur auf eine amerikanische Version der Andersartigkeit trifft. Man erfährt nicht notwendigerweise etwas über die Kultur und Geschichte Vietnams, wenn man mit einem vietnamesischen Arzt in der Universitätsklinik von Stanford zusammenarbeitet. Man kann fünf Jahren neben einem Inder in der gleichen Dotcom-Firma in Los Angeles sitzen, ohne irgendetwas von den Sitten und Gebräuchen in dessen Heimatstadt zu begreifen. Und es ist keineswegs gesagt, dass man französisch speist, wenn man in ein französisches Restaurant in Atlanta geht. Mit anderen Worten erzeugt die imponierende Integrationskraft der amerikanischen Gesellschaft auch eine Art Weltvergessenheit, einen multikulturellen Unilateralismus. Das Ergebnis ist ein Paradox: eine fantastisch flexible Gesellschaft, die die ganze Welt in sich aufgenommen hat und sich umso schwerer damit tut, sich in die Welt jenseits ihrer Grenzen einzufühlen. Von allen Filmen, die in den USA gezeigt werden, liegt der Anteil von ausländischen Filmen unter einem Prozent. Im Rest der Welt beträgt der amerikanische Anteil 70 bis 80 Prozent. In der Buchbranche ist es nicht viel anders. All diese Gegensätze und Irritationen addieren sich zu einem handfesten Streit über den gemeinsamen Ausgangspunkt der amerikanischen und der europäischen Zivilisation. In den Augen der Europäer sind die Amerikaner auf dem Wege, einige der elementaren Grundsätze der Aufklärung zu verraten und ihr bisheriges Selbstverständnis, Erster unter Gleichen zu sein, durch das Prinzip „Erster unter Ungleichen“ zu ersetzen. Die USA ihrerseits klagen die Europäer an, dass sie sich ihrer internationalen Verantwortung nicht stellen. Zwar beschwören die Europäer gern die UN als einzigen Hort internationaler Legitimität, aber geben hinter vorgehaltener Hand zu, dass die UN in den meisten Fällen, in denen bedrängte Völker internationale Hilfe erwarten durften – Ruanda, Srebrenica, Liberia, Sudan – kläglich versagt haben. Was bedeutet das internationale Recht, wenn es verhindert, in ein brutales Folterregime einzugreifen und dem Tyrannen das Handwerk zu legen? Wer ist der wahre Anwalt der Menschenrechte: derjenige, der unter Berufung auf das internationale Recht einem Völkermord zusieht, oder derjenige, der ihm – notfalls unter Verletzung des Völkerrechts – ein Ende setzt? Leider ist nicht zu erwarten, dass die Massenmedien in den USA und in Europa zur Differenzierung in diesem Streit beitragen werden. In zwanzig Jahren Hin- und Herpendelns zwischen den USA und Deutschland bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass Nachrichtensendungen sich keineswegs auf die Verbreitung von Nachrichten beschränken. Nachrichtensendungen dienen immer auch und vor allem der Identitätsbildung ihrer Zuschauer. Sie folgen einer Dramaturgie, die darauf zielt, die bereits vorhandenen und mehrheitsfähigen Meinungen über die jeweils anderen – Beispiel: „Cowboy-Nation USA“ beziehungsweise „Die europäische Achse der Feiglinge“ – zu bestätigen. Der Dissens zwischen den USA und Europa wird durch die nächsten Wahlen in den USA zweifellos beeinflusst, aber nicht entschieden werden. In einigen der hier genannten Streitpunkte kann Eu­ropa sich nicht auf die USA zubewegen, ohne seine Lesart vom Erbe der Aufklärung aufzugeben. Das Gleiche gilt – in anderen Streitpunkten – für die USA. Die wichtigste Frage bleibt, welche Tendenz die transatlantischen Störungen haben, ob sie in Zukunft eher zu- oder abnehmen werden. Es wäre ein allzu billiger Identitätsbeweis, wollten sich entweder die Europäer oder die Amerikaner als die „wahren“ Hüter der Aufklärung aufspielen. Bisher jedenfalls waren es meist die Amerikaner, die die Europäer an diese gemeinsame, von den Europäern zu oft verratene Herkunft erinnern mussten. Es ist nichts weiter als fair, wenn es diesmal die Europäer sind, die ihre Verwandten jenseits des Ozeans an das gemeinsame Versprechen gegenüber der Menschheit gemahnen. Peter Schneider ist Schriftsteller und lebt in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm die Erzählungen „Das Fest der Missverständnisse“ (Rowohlt) Foto: Picture Alliance

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